Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Magazin für Theologie und Ästhetik


Lektüren XXIII

Aus der Bücherwelt

Andreas Mertin

Der Begriff der Deutschen Literatur ist so umfassend, dass auf absehbare Zeit keine Datenquelle ihren Inhalt auch nur annähernd dokumentieren kann: "Unter deutscher Literatur versteht man alle literarischen Werke, die in deutscher Sprache verfasst wurden. Es sind also auch die österreichische Literatur, die Literatur der deutschsprachigen Schweiz und die Literaturen der deutschen Sprachinseln einbezogen. Zur Literatur werden auch nicht-dichterische Werke mit besonderem schriftstellerischem Anspruch gezählt, also Werke der Geschichtsschreibung, der Literaturgeschichte, der Sozialwissenschaften, der Philosophie usw. wie auch Tagebücher oder Briefwechsel." [ wikipedia] Alles, was möglich ist, ist ein dokumentarischer Auszug aus dem, was in und mit der deutschen Sprache geschaffen wurde.


Das Projekt Gutenberg

... etwa stellt seit über zehn Jahren kostenlos für jeden Literatur ins Internet. 1994 als Freizeitprojekt begonnen, hat es sich zur größten Online-Literatursammlung deutscher Sprache entwickelt. Dabei umfasst es nicht nur die so genannte deutsche Literatur, sondern auch Übersetzungen der Weltliteratur. Die Online-Version umfasst derzeit 90.000 Dateien, das sind ca. 450.000 Textseiten, 14.000 Gedichte, 1.600 Märchen, 1.200 Fabeln, 3.500 Sagen und 1.800 vollständige Romane, Erzählungen, Novellen. Den Stand von Oktober 2004 kann man auf einer DVD auch käuflich erwerben, die über den Onlinebestand hinaus noch zweisprachige Ausgaben, alte Originalausgaben als elektronische Faksimile und einiges mehr enthält. Das Projekt Gutenberg - von dem es analoge Projekte in der ganzen Welt gibt - basiert auf der Mitarbeit zahlreicher Menschen, die Texte erfassen und korrigieren. Es wird laufend erweitert. Wie bei fast allen ähnlichen Projekten ist seine Grenze die des (deutschen) Urheberrechts, publiziert werden daher nur Texte und Übersetzungen, deren Autoren mindestens 70 Jahre tot sind. Wer beim Projekt Gutenberg etwa nach Thomas Mann fragt, erhält die Auskunft, dass zahlreiche seiner Werke schon erfasst sind, aber die Veröffentlichung einer Sperrfrist bis 01.01.2026 unterliegt. Ähnliches gilt auch für die Rechte an Übersetzungen. So wird für die Platon-Übersetzung noch auf Schleiermacher zurückgegriffen. Sollte es also danach textkritische Erkenntnisse gegeben haben, dann sind sie in einer derartigen Sammlung nicht berücksichtigt. Dennoch hat man hier einen nahezu unerschöpflichen Fundus an Textmaterial, in dem man auch Querlektüren und Wortrecherchen vornehmen kann.


Die Digitale Bibliothek

... hat nach der Bibliothek der Weltliteratur auf CD-ROM und der Vorgängerversion "Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka" nun auf einer DVD eine "Großbibliothek" vorgelegt, die "Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky" enthält. Der Verlag schreibt dazu:

"... mit der Anthologie »Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky« [erscheint] die mit weitem Abstand umfangreichste digitale Sammlung deutschsprachiger Literatur überhaupt. Sie präsentiert auf mehr als 600.000 Seiten das literarische Schaffen von über 500 Autoren und damit über 2.900 teils mehrbändige Werke. Das sind umgerechnet etwa 70 Regalmeter voller Bücher – allein die Bibliographie der erfassten Werke zählt 200 Seiten. Der zeitliche Rahmen erstreckt sich von den ersten neuhochdeutschen Dichtungen bis in das erste Drittel des 20. Jahrhunderts mit Autoren wie Kurt Tucholsky und Erich Mühsam. Neben den »Klassikern« finden sich auch relativ unbekannte und in Vergessenheit geratene Autoren; und von Romanen, Gedichten und Dramen bis zu Märchen, Aphorismen und Libretti sind alle denkbaren Gattungen enthalten. Zur Auswahl dieser Texte wurden einschlägige Literaturgeschichten und -lexika herangezogen, so dass nahezu alle Werke berücksichtigt wurden, die entweder zum so genannten Kanon gehören oder in sonst einer Weise eine Rolle in der Geschichte der deutschen Literatur gespielt haben."

Das ist für Recherchen und das schnelle Nachschlagen ein geradezu unschlagbares Angebot, zumal man ja nicht nur einfach Zitate nachgehen kann, sondern auch konkreten Wortkombinationen nachspüren kann. Alte biblische bzw. altorientalische Begriffskonstellationen wie "Reichtum und Ehre" lassen sich so bis in die Literatur am Anfang des 20. Jahrhunderts verfolgen.

[Notabene: Viele der in der freien Zitatensammlung wikiquote nur als "zugeschrieben" etikettierten Zitate lassen sich anhand der DVD umstandslos lokalisieren und verifizieren bzw. korrigieren.]

Der DVD-Titel selbst ist etwas irreführend (und eher am Markt orientiert), beginnt die Literaturauswahl doch etwas früher mit Johannes Pauli und Sebastian Brant und endet mit Hans von Chlumberg und Marie Luise Weissmann. Aber das hätte natürlich nicht so schön geklungen wie "von Luther bis Tucholsky". Ansonsten ist aber nach meiner Beobachtung alles vertreten, was an historischen Autoren wichtig ist.

Mit dieser DVD hat man - vor allem wenn man sie gleich komplett auf der Festplatte installiert - ein umfassendes Angebot an Literatur zur Hand.


Ein Vergleich der beiden Angebote

... lässt einen zunächst simpel über den Preis stolpern. Auf dem Cover der DVD der Digitalen Bibliothek wird als empfohlener Verkaufspreis 90 Euro angegeben, auf der Website von directmedia wird das Produkt mit 75 Euro beworben. Im Vergleich zu den 30 Euro, die das Gutenberg-Projekt für seine DVD fordert, muss das Angebot von directmedia schon deutlich besser sein, um einen derartigen Preisunterschied zu rechtfertigen. Tatsächlich scheint mir die DVD der Digitalen Bibliothek trotz ihres besseren Textbestandes etwas zu teuer zu sein, ein Preis um 50 Euro wäre eher angemessen.

Was den Inhalt betrifft, so suche ich zunächst in beiden Quellen nach Sebastian Brants (1457-1521) "Narrenschiff", das für die Bildende Kunst ja vielfach bedeutsam geworden ist. Im Gutenberg-Projekt findet es sich nicht, Sebastian Brant ist hier überhaupt nicht vertreten. Die DVD der Digitalen Bibliothek enthält das Narrenschiff komplett sowie das Drama "Tugent Spyl". Das Narrenschiff enthält auf der DVD aber nicht nur den reinen Textkorpus, sondern auch sämtliche Illustrationen des Textes. (Insgesamt hat die DVD über 3500 derartige Abbildungen, was ihren Wert natürlich steigert.)

Meine zweite Recherche betrifft das "Angebot" zu Martin Luther, der die deutsche Sprache ja bis in die Gegenwart beeinflusst hat. Das Projekt Gutenberg verzeichnet hier die komplette Bibelübersetzung in der Fassung von 1912, spärliche 3 Fabeln, immerhin 35 Kirchenlieder, 58 Predigten durch das Jahr, selbstverständlich die 95 Thesen und schließlich noch von seinen Schriften "An den christlichen Adel deutscher Nation", die Concordien-Formel, den Kleinen Katechismus, die Auslegung des Vaterunsers, seine Verteidigungsrede auf dem Reichstag zu Worms, die Schrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen" und noch zwei Vorreden zu biblischen Texten. Das ist für eine erste Lektüre schon ziemlich viel und sicher ausreichend, um sich einen Eindruck vom Autoren zu verschaffen. Die Digitale Bibliothek kann mit ihrer DVD weitgehend mithalten. Aus der Bibel enthält sie zwar nur die alttestamentlichen Texte Genesis, Hiob und Hoheslied und die neutestamentlichen Johannesevangelium und Offenbarung des Johannes, dafür aber wiederum die Textillustrationen zu diesen Texten. Neben den Vorreden zu diversen Gesangbuchausgaben gibt es 36 Kirchenlieder, 14 Fabeln nach Äsop, der Sermon von Ablass und Gnade und die "treue Vermahnung zu allen Christen, sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung". Von den Schriften gibt es "An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung", "Von der Freiheit eines Christenmenschen", "Von den guten Werken", "Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern", den "Sendbrief vom Dolmetschen" und schließlich "Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet". Vor- und Nachteile beider Zusammenstellungen halten sich die Waage.

Meine dritte Recherche betrifft die Romantik und hier das, was von Friedrich Schlegel vorhanden ist. An dieser Stelle kann das Gutenberg-Projekt nur die "Lucinde" vorweisen, alles andere fehlt. Das ist angesichts der Bedeutung Friedrich Schlegels natürlich zu wenig. Die DVD der Digitalen Bibliothek bietet hier mehr: Neben einer Auswahl seiner Gedichte findet sich das Drama Alarkos, der schon erwähnte Roman Lucinde, die wichtigen Fragmentsammlungen sowie einige seiner wichtigen Schriften.

Der Vergleich beider Angebote fällt für die Ausgabe der Digitalen Bibliothek aus, an der eigentlich nur der hohe Preis stört. Aber angesichts des Umstands, dass die DVD ja laut Werbung 70 Meter Regal erspart, ist es vielleicht doch eine sinnvolle Investition.


© Mertin 2005
Magazin für Theologie und Ästhetik 38/2005
https://www.theomag.de/38/am167.htm

Der  Buch-per-Klick-Bestell-Service