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Magazin für Theologie und Ästhetik


Videoclips XXIII

Zur Kritik der jugendlichen Melancholie

Andreas Mertin

Gleich sechs MTV-Awards erhielt dieser Tage die amerikanische Rock- und Punk-Pop-Band "Green Day" für ihr Video "Boulevard of Broken Dreams":

  1. Video of the Year
  2. Best Group Video
  3. Best Rock Video
  4. Best Direction In A Video
  5. Best Editing In A Video
  6. Best Cinematography In A Video

Das muss noch nicht viel heißen, allzu viele Gruppen mit unterschiedlichen Qualitäten haben diese Auszeichnbung schon bekommen. Aber dennoch sind die Erwartungen natürlich hoch, wenn ein Videoclip sowohl für Schnitt, Regie sowie Film ausgezeichnet und als bester Clip des Jahres bezeichnet wird.

Nahezu niemand wird dem Ohrwurm "Boulevard of Broken Dreams" in den letzten Monaten entgangen sein, fast gnadenlos belagerte er den Hörsinn. Die Konsumenten waren begeistert und kommentierten enthusiastisch (nachzulesen bei den Nutzerrezensionen bei amazon): "Berührende Punk-Rock Hymne" - "Abrocken zum Nachdenken" - "Perfekt!!" Oder etwas ausführlicher: Der Himmel über der Wüste ist düster, die Gedanken bedrückend, der Tag war Scheiße und die Leute mies drauf. Einmal "Boulevard of broken dreams" gehört und man fühlt sich nicht mehr so alleine mit diesem Gefühl. Großartige Frustrations-Hymne mit einem stimmungsvollen, bedrohlich guten Video. Ein Gesamtkunstwerk und Evergreen der Rock-Punk-Balladen-Geschichte...in einer Reihe mit "Under the bridge" von den Chilis und "Bittersweet symphony" von The Verve! Die Hinweise auf die Clips von den Red Hot Chili Peppers und The Verve sind nicht einmal falsch, beide sind von demselben melancholischen Grundton getragen, beide waren aber sicher auch nie verdächtig, Videos des Jahres zu werden.

Der Liedtext kann nur als bescheiden bezeichnet werden, dieses pseudo-depressive Gestammel ist wirklich etwas für Leute, die Depression für einen Partyhabitus und damit für ein Kommunikationsgeschehen und nicht für eine Krankheit halten. I walk a lonely road / The only one that I have ever known / Don't know where it goes / But it's home to me and I walk alone / I walk this empty street / On the Boulevard of Broken Dreams / Where the city sleeps / and I'm the only one and I walk alone .... I'm walking down the line / That divides me somewhere in my mind / On the border line / Of the edge and where I walk alone usw. usf. Von allen Bedeutungen, die Borderline verkörpern kann, scheint mir - zumindest was die bei mir ausgelösten Reize betrifft - 'Bluthochdruck' die zutreffendste zu sein (von der Veränderung der Magenschleimhaut einmal abgesehen). Jede Zeile des Liedtextes setzt sich aus vielfach belegten Klischees zusammen, da ist aber auch kein Deut einer sprachlichen Neuschöpfung. Und da wir uns nicht mehr in Zeiten der ersten Postmoderne befinden, kann auch diese Zitaten- und Klischeemontage nicht mehr als originell oder "cynical/sarcastic" bzw. "Ironic" bezeichnet werden. Es ist nur noch peinlich - außer vielleicht für schlichte Gemüter. Und selbst wenn man im Rahmen einer universalisierten Retro-Kultur von ästhetischer oder romantischer Melancholie sprechen wollte, so ist "Boulevard of Broken Dreams" doch nur ein äußerst müder und allenfalls bemühter Abklatsch dessen, was Melancholie einmal im 16. oder 19. Jahrhundert bedeutete.

Was "Boulevard of Broken Dreams" videoclipästhetisch zum Video des Jahres 2005 macht, muss ebenfalls unerfindlich bleiben. Vielleicht gab es dieses Mal - nicht ganz unerwartet - so viele wirklich schlechte und keine guten Clips, dass Green Day als Einäugiger unter den Blinden zum König wurde. Die Gestaltung des Clips und die Umsetzung der Thematik rechtfertigt die Auszeichnung in keinem Fall. Einen Film künstlich mit Fehlfarben und Filmkratzern zu versehen, ist keine besonders intelligente Inszenierung (manche Videoprogramme machen das heutzutage auf Wunsch schon vollautomatisch) und ist zudem bereits vielfach in Videoclips umgesetzt worden (vgl. etwa Die Toten Hosen mit "Wünsch Dir was"). Die Szenerie des Roadmovies ist ein Gassenhauer der Videoclip- und davor natürlich der Filmkultur; und das Thema Roadmovie nicht in der Natur, sondern absichtlich erkennbar im Studio nachzustellen, ist ebenfalls nichts Neues und wesentlich kunstvoller von Madonna (in "Don't tell me") inszeniert worden. Bessere und beeindruckendere Visualisierungen der grundsätzlichen Thematik des Roadmovies findet man etwa bei U.N.K.L.E. in "Rabbit in your Headlights". Unübertroffen sicherlich der Videoclip zu "My favorite game" der Gruppe "The Cardigans", der zudem noch durch seine vier Schlussvarianten eine bissige Form der Ironie angesichts der ausgelutschten Thematik aufweisen kann.

Dass Green Day im Clip dann auch noch als Gruppe durch die Wüsten- und Dorflandschaft stelzen (I walk alone / I walk this empty street / On the Boulevard of Broken Dreams) kann man dann nur noch als schlechten Regieeinfall bezeichnen. Beim Clip zu "Bitter sweet harmony" von "The Verve" war wenigstens die inhaltliche Umsetzung des Themas konsequent, insoweit ein Einzelner durch eine Stadtgesellschaft eckte. Natürlich könnte man einwenden, dass alles sei beabsichtigt, eine Form der "Arte Povera" der Videoclipästhetik. Allein mir fehlt der Glaube. Auch Ironisierungen und bewusste Reduktionen bedürfen der Stimmigkeit. Mir scheint es eher so zu sein, dass der Videoclip-Branche ein Teil ihrer Kreativität flöten gegangen ist, dass sie zurückkehrt zum Videoclip als simplen und ausdruckslosen Stimmungs-Commercial zum Verkauf der CD.

Grundsätzlich kann es aber auch sein, dass das Klischee des jugendlichen Melancholikers nach tausend Durchgängen in der Geschichte und diversen Medialisierungen im 20. Jahrhundert absolut überstrapaziert ist. War schon James Dean retrospektiv nur schwer zu ertragen, galt dies für Winonie Ryder, seine Schwester im simpler werdenden Geiste, noch mehr. Nun aber ist jugendliche Melancholie endgültig zur regressiven Geste geworden. Da kann man nur sagen: Werdet erwachsen!


© Andreas Mertin 2005
Magazin für Theologie und Ästhetik 37/2005
https://www.theomag.de/37/am164.htm