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Magazin für Theologie und Ästhetik


Nicht gedacht

Episoden

Andreas Mertin

Geistige Elite

Im Mai 2005 fliege ich nach einen Kurzurlaub von Budapest nach Dortmund. Am Flughafen macht mich mein Reisebegleiter auf eine Gruppe junger Männer aufmerksam, die auf den Eincheckschalter zusteuern: anders als die Mehrzahl der hier Wartenden sind sie in dunkle Anzüge gekleidet, tragen weiße, gestärkte Hemden und sind relativ kurz geschoren. "Eine Sekte" meint mein Begleiter. Beim Einchecken drehe ich mich zur Seite und lese in Grün eingestickt auf dem gestärkten weißen Hemdkragen folgende Buchstaben: Geistige Elite.

Was man sonst bei Auftritten von Sportlern in entsprechenden Fernsehsendungen beobachten kann, dass sie nämlich Werbezüge für leistungssteigernde Mittel oder auch für Versicherungen auf den Hemdkragen tragen, das ist hier - so ist mein spontaner Eindruck - ironisch persifliert auf eine kulturelle Selbstbezeichnung angewendet worden. Ich drehe mich ein bisschen weiter um und entdecke auch beim nächsten dieser Truppe den gleichen Schriftzug im frisch gestärkten Hemd: Geistige Elite. Tatsächlich zieren diese Schriftzüge alle Hemdkragen der jungen Anzugträger. Für eine ironische Persiflierung ist das etwas zu systematisch, so dass unweigerlich der Verdacht entsteht, die jungen Herren könnten das, was sie an Stelle des Logos von Taxofit oder vergleichbarer Vitaminpräparate auf dem Hemdkragen tragen, tatsächlich als Selbstbezeichnung ernst meinen.

Hier waren also jene jungen Männer, die - anders als bei den Generationen vor ihnen - nicht erst darauf warten wollten, bis man sie anerkennend als "Geistige Elite" bezeichnete, sondern dieses Etikett Geistige Elite selbstbewusst zur Außenwerbung verwendeten. Schaut her, hier sind wir, die Geistige Elite.

Dass es sich wirklich um Deutschlands Geistige Elite handelte, wurde im Folgenden mehr als deutlich. Da ihnen die Warteschlange vor dem Eincheckschalter zu lang erschien und Deutschlands Geistiger Elite das Warten in der Masse nicht zuzumuten war, erkundigten sie sich, ob nicht demnächst noch ein weiterer Schalter geöffnet würde, um dann triumphierend an der Masse vorbeizuziehen. Demokratie war noch niemals die Tugend der Geistigen Elite in Deutschland und ostentative Differenzierung eine ihrer hervorstechenden Charaktereigenschaften. Dass der Schalter für Geistige Eliten dann verspätet öffnete und die Masse vor der Geistigen Elite das Flugzeug betrat, gehört zu den ironischen Kehrungen dieser Geschichte. Angesichts dieses Umstands rief der Anführer dieses Rudels der Geistigen Elite seine (so wörtlich) "Mädels" dazu auf, sich doch zu beeilen, da sonst alle Fensterplätze im Flugzeug belegt seien. Und tatsächlich mussten alle Angehörigen der Geistigen Elite mit Ausnahme des Rudelführers auf die Plätze am Mittelgang und kamen nicht in den Genuss der aus ihrer Perspektive scheinbar privilegierten Plätze am Fenster. Es war schon immer auch ein tragischer Zug der deutschen Geistigen Eliten regelmäßig zu spät zu kommen und keinen Durchblick zu haben.

Im Gegenzug entfaltete Deutschlands Geistige Elite nun das ostentative Ritual ihrer intellektuellen Überlegenheit. Aus dem Handgepäck wurde eines der führenden Boulevardblätter Deutschlands hervorgeholt und nach Sparten verteilt: Wo ist der Sportteil? Wo ist der Unterhaltungsteil? Fachkundig wurde von einigen die Vorzüge des Partyluders Paris Hilton erörtert, während sich ein anderer relativ erfolglos am Kreuzworträtsel des Boulevardblattes versuchte. Deutschlands Geistige Elite at its best. Der beiläufigen Bemerkung Sehen wir uns heute Abend im Teutonia? konnte dann endlich auch die geistige Provenienz der scheinbaren Sektenmitglieder entnommen werden: Burschenschaftler auf einem Kurztrip nach Budapest, sozusagen ein repräsentativer deutscher Kulturexport.

Der Brockhaus vermeldet zum Stichwort: Elite [französisch, zu lateinisch eligere »auslesen«] die, Politik: politisch oder sozial führende Minderheit. Die Maßstäbe, nach denen sich die Zugehörigkeit zur Elite bestimmt, sind in den Gesellschaftsordnungen verschieden: Auf politische, ökonomische und militärische Vorherrschaft gründet sich die Machtelite. Neben die traditionelle, durch Standeszugehörigkeit, Geburt (Geburtselite), Vermögen, Bildung oder andere allgemein anerkannte Qualitäten (Wertelite) gekennzeichnete Eliten sind Führungsgruppen getreten, die sich aufgrund ihrer beruflich-fachlichen Fähigkeiten und ihrer Leistung qualifizieren (Funktionseliten). Letztere werden von neueren Elitetheorien als gesellschaftliche Notwendigkeit angesehen.

Was aber sind geistige Eliten? Nehmen wir ein historisches Beispiel einer Schulstätte geistiger Eliten, den legendären (und bis heute noch bestehenden) Tübinger Stift: "Tübinger Stift, 1536 von Herzog Ulrich nach Durchführung der Reformation gegründete Einrichtung zur Heranbildung des Theologennachwuchses. Die Stipendiaten erhielten an der Universität Tübingen eine solide Ausbildung in Theologie und Philosophie. Sie stellten ab Ende des 16. Jahrhunderts die geistige Elite des Herzogtums Württemberg. Die Absolventen hatten einen starken Einfluss auf das Luthertum. Ab dem 17. Jahrhundert gingen die einflussreichen Persönlichkeiten des schwäbischen Pietismus aus dem Stift hervor. Ende des 18. Jahrhunderts studierten hier Hegel, Hölderlin und Schelling. Doch wandten sich immer mehr fähige Köpfe von der Kirche ab. Schüler wie Schwab, Mörike und Waiblinger wurden als Literaten und Dichter bekannt" [so die Enzyklopädie MS Encarta mit ihrer einzigen Erwähnung einer "Geistigen Elite"].

Wer sich selbst offenkundig ganz unironisch als Geistige Elite etikettiert, stellt sich also in dieser Tradition der reflektierenden Geistesgrößen von Hegel über Hölderlin bis Schelling. Und tatsächlich ist dem historischen Corps Teutonia diese Selbstetikettierung nicht fremd: "Wie jede Generation vor ihnen hatten auch die Studenten im ausgehenden 18. Jahrhundert Ziele und Ideale, die über die jeweils herrschenden Verhältnisse hinausgingen. Sie fühlten sich als geistige Elite ihres Volkes, dazu berufen, Neues durchzusetzen."

Freilich ist der Anspruch an die Vorbilder zwischenzeitlich gesunken, so dass eher Namen wie Edzard Schmidt-Jorzig, Henning Schulte-Noelle, Hans-Dieter Harig oder die in Hessens Schwarze-Kassen-Affäre verwickelten Manfred Kanther und Horst Weyrauch aufgeführt werden, die weniger den geistigen, als vielmehr den so genannten Funktions- und politischen Eliten zugerechnet werden können.

Der Corps, darauf verweist Roland Girtler, "besitzt einen Schatz von Mythen und Riten, mit denen er seine Vornehmheit deklariert und seine Distanz gegenüber dem 'gewöhnlichen Volk' herausstreicht beziehungsweise rechtfertigt. Zum 'gewöhnlichen Volk' gehört in diesem Sinne vor allem die Frau, der es traditionell nicht gestattet ist, die 'Geheimnisse' des Männerbundes zu ergründen - Noblesse erscheint als wesentliches Prinzip corpsstudentischen Benehmens. Hierzu gehören neben diversen Gruß-, Kleidungs-, und anderen Sitten Großzügigkeit, 'Ritterlichkeit' - was immer das heißen mag - und eine vornehme Distanz zu nicht gleichartigen und damit 'weniger würdigen' Personen."

Am Flughafen in Dortmund dann die finale Überraschung: die Vertreter der kommenden Geistigen Elite Deutschlands werden nach ihrem Ausflug in fremde Welten und ferne Länder und Sitten alle standesgemäß von ihren Eltern abgeholt und wohlbehütet nach Hause begleitet. Na denn gute Nacht.

Nicht-Denker

Einem Geschenk verdanke ich die Lektüre des Buches "Endlich Nichtdenker! Handbuch für den überforderten Intellektuellen", das ich kurz nach der gerade geschilderten Episode gelesen habe. Es ist geradezu ein Entschlüsselungstext für das gerade Beschriebene.

Hannes Stein, der dieses Handbuch verfasst hat, arbeitete zunächst für die FAZ, dann für den Spiegel und die Berliner Zeitung und ist seit 2001 Redakteur für die Literarische Welt in Berlin.

Unter dem Brechtschen Motto Scharfes Denken ist schmerzhaft. Der vernünftige Mensch vermeidet es, wo er kann entfaltet Stein eine praktische Anleitung für das Nicht-Denken in acht Schritten. Warum ist diese Anleitung aber so notwendig? Darauf antwortet Stein:

1. Durch Denken verbaut man sich Karrierechancen. 2. Denken macht einsam. 3. Denken führt zur Langeweile.

Da es aber nun für den Denkgewohnten bzw. zum Denken Verführten gar nicht einfach ist, sich das Denken abzugewöhnen, lehrt Stein einen achtfachen Pfad zur Tugend des Nichtdenkens:

1. Es lebe die Harmonie! 2. Die Kirche im Dorf lassen! 3. Es darf gelacht werden! 4. Ich bin der Größte! 5. Reden ist Gold! 6. Allah ist groß! 7. Bücher sind Mist! 8. Oans, zwoa, gsuffa!

So wird der Denker Schritt in homöopathischen Dosierungen für Schritt ans Nicht-Denken herangeführt, bis er schließlich die Früchte seiner Bemühungen ernten kann.

De facto ist Steins Buch natürlich ein ebenso amüsantes, satirisches, geistreiches wie belesenes Plädoyer für die intellektuelle Reflexion, ein schlagender Beweis dafür, wie lustvoll und treffend das Denken sein könnte, wenn es denn mehr Denker in Deutschland gebe und nicht die Mehrzahl der Geistigen Elite Deutschlands auch ganz ohne Steins Anleitung das Denken bereits aufgegeben hätte.

Fans im Zug

Wie wenig die Geistige Elite Deutschlands trotz aller ostentativ hervorgehobenen Differenz von einem Fußball-Fan-Rudel unterscheidet wird einem schlagartig deutlich, wenn man am letzten Spieltag der Fußballbundesliga am späten Abend in einem IC sitzt, in dem, sich schwer angetrunkene Fans des HSV und des VFL Bochum tummeln.

Natürlich haben diese Menschen ganz intuitiv die Anleitung von Hannes Stein lebensweltlich befolgt und sind auf dem achtfachen Pfad der Tugend des Nicht-Denkens auf dem Höhepunkt der achten Stufe gelandet: Oans, zwoa, gsuffa! Wer das Endergebnis der ratgebenden Tätigkeit von Stein einmal authentisch erleben will, dem sei eine derartige Zugfahrt dringend ans Herz gelegt. Jede der Tugenden des Nichtdenkens wird hier eifrigst befolgt, beginnend mit der Harmonie des Fußballfans mit seinesgleichen, der absoluten Identifikation mit dem Fußballklub dem man anhängt und der Feindbildung gegenüber allen Abweichlern ("Gehen Sie eine Woche lang in der Tracht Ihrer Landsmannschaft spazieren" – diese Übungsanleitung fällt jedem Fan leicht). Das Grölen mit der Meute gehört zum Pflichtprogramm des Fans, die Selbstdarstellung ebenso. Geradezu exemplarisch ist der Fan beim folgenden Übungspunkt: Reden Sie über alles mit! Seine Religion freilich ist weder der Dalai Lama (den kennt er nicht, hier hat Stein einfach zu hoch gegriffen) noch der Islam, der Fan bleibt beim Fußball und seinen Göttern. Warum den Horizont erweitern, wenn es auch anders geht? Ohne Lektüre geht es für den Fan freilich nicht, auch das Nicht-Denken bedarf der literarischen Verstärkung. Und hier erweist sich die Gemeinsamkeit der Geistigen Elite Deutschlands mit den Fans im Zug, denn beide bevorzugen bekannte Boulevardblätter als Lektüre.

Ob man also zusammen mit der jungen Geistigen Elite Deutschlands im Flugzeug fliegt oder mit jugendlichen deutschen Fußballfans im Zug fährt, ist a la long keine großen Differenz. Allein schon die gestärkten weißen Hemden der Geistigen Elite Deutschlands mit ihren eingestickten Buchstaben machen auf die Verwandtschaft mit den Logo-analogen Sportvertretern in deutschen Fernsehsendungen aufmerksam. Fußballfans im Zug bevorzugen statt der gestärkten Hemden aus pragmatischen Gründen Schals und T-Shirts, aber das macht dann für den Mitreisenden auch keinen großen Unterschied mehr.

Religiöse Emanzipation

Bevor meine Episodenschilderung einen allzu kulturpessimistischen Touch bekommt, möchte ich sie mit einer gegenteiligen Erfahrung abschließen. Nach der gerade beschriebenen Zugfahrt stieg ich um in die S-Bahn, die ihrerseits reichlich mit angetrunkenen Dortmunder Fans gefüllt war. Dazwischen aber auch eine Gruppe von fünf türkischen Mädchen, die gerade von einem unterhaltsamen Bummel in Dortmund in ihre Heimatstadt Hagen zurückkehrten. Ich wurde auf sie aufmerksam als sie begannen, über ihre religiösen Hintergründe, ihre Einstellung zur Religion, über Liberalität und Frauenemanzipation zu diskutieren. Sie waren anscheinend alle Alevitinnen.

Die Aleviten sind Muslime, die aber mit den für andere Muslime religiös verbindlichen Vorschriften liberal umgehen. Sie halten sich nicht an alle Fünf Säulen des Islams (aus Sicht der Sunniten), kennen keine Pflichtgebete und brauchen zum Beten keinen besonderen Raum und keine spezielle Zeit. Jede Alevitin und jeder Alevit betet dann und dort, wo er oder sie will auf eine Art, wie es ihm oder ihr entspricht. Der Koran ist für Aleviten kein Gesetzbuch, sondern die Niederschrift von Offenbarungen, die kritisch gelesen werden dürfen (siehe dazu: Buyruk). Sie sehen in ihm kein verbalinspiriertes Buch, sondern interpretieren ihn mystisch. Sie lehnen auch die Schari'a, das islamische Gesetz, ab. Im Zent-rum ihres Glaubens steht der Mensch: nicht als der sich unterwerfende Sklave Gottes, sondern als eigenverantwortliches Wesen. Wichtig ist ihnen das Verhältnis zum Mitmenschen. Die Frage nach dem Tod und den Jenseitsvorstellungen ist demgegenüber für sie nebensächlich. In der Alevitischen Lehre ist die Seele eines jeden Menschen unsterblich, sie strebt durch die Erleuchtung die Vollkommenheit mit Gott an, sie durchwandert auf ihrem Weg zur Erleuchtung viele (tausend) Menschenleben.

Das Spannende ihrer Diskussion war nun, dass sie alle keine wirklich aktiven/militanten Vertreterinnen ihrer Religion waren, ihre Kenntnisse waren eher normal bis begrenzt. Aber im Gespräch legten sie beredt Zeugnis davon ab, warum ihnen etwa die Emanzipation der Frau im Rahmen der alevitischen Religion wichtig war, welche verbleibenden Regeln ihnen nicht einsichtig erschienen und warum sie es etwa bedauerten, dass ihre Eltern nicht häufiger mit ihnen über Religion sprachen. So ergab sich eine über mehr als 20 Minuten erstreckende lebhafte Diskussion über die lebensweltliche Relevanz einer Religion im Alltag von Jugendlichen. Diese Alevitinnen haben jedenfalls nach-gedacht.


© Mertin 2005
Magazin für Theologie und Ästhetik 35/2005
https://www.theomag.de/35/am154.htm

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