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Magazin für Theologie und Ästhetik


Medien - Bildung - Religion

Rezensionen

Jörg Herrmann

Roland J. Campiche unter Mitarbeit von Raphaël Broquet, Alfred Dubach und Jörg Stolz: Die zwei Gesichter der Religion. Faszination und Entzauberung, Zürich 2004.

Die 1993 auf Deutsch unter dem Titel "Jede® ein Sonderfall?" erschienene religionssoziologische Untersuchung konnte zeigen, dass das von der älteren Religionssoziologie unter dem Stichwort Säkularisierung tendenziell schon totgesagte Phänomen Religion auch in der Schweiz eine vielfältige und sehr individuelle Renaissance erlebt. Nun hat der an der damaligen Untersuchung schon federführend beteiligte und inzwischen emeritierte Religionssoziologe Roland J. Campiche unter Mitarbeit von Raphaël Broquet, Alfred Dubach und Jörg Stolz einen Band vorgelegt, der unter dem Titel "Die zwei Gesichter der Religion. Faszination und Entzauberung" (Zürich 2004) an die damalige Untersuchung anknüpft und die Entwicklung der religiösen Lage in der Schweiz seit dem Erscheinen der genannten Untersuchung weiter auf der Basis empirischer Forschungen analysiert und interpretiert. Im Mittelpunkt steht dabei die These einer "Dualisierung der Religion", die den Befund der religiösen Individualisierung aufnimmt und in bestimmter Weise akzentuiert und umformt. Unter "Dualisierung der Religion" wird das Nebeneinander zweier Typen von Religiosität verstanden: "auf der einen Seite eine institutionelle Religion, Erbin der christlichen Tradition in der Schweiz repräsentiert durch die Römisch-katholische und die evangelische Kirche; auf der anderen Seite eine universale Religion, welche den kulturellen und religiösen Standards der Spätmoderne entspricht" (38f.). Der als "universal" bezeichnete Pol der religiösen Dualisierung bleibt dabei jedoch recht blass und abstrakt. Das Anliegen von Campische ist gleichwohl grundsätzlich und geht über die Betrachtung von Schweizer Besonderheiten weit hinaus: Campiche will mit seiner auf empirischen Untersuchungen aufbauenden These die Einseitigkeiten der Beschreibungen des religionskulturellen Wandels im Horizont der Begriffe Säkularisierung und Individualisierung korrigieren: Religion gehe weder generell zurück wie das Säkularisierungstheorem suggeriere noch verliere die außerkirchliche Religiosität jeglichen sozialen Bezug wie es der Begriff der Individualisierung nahe lege. Dieser Argumentation lässt sich folgen, weniger nachvollziehbar sind allerdings die Ableitungen dieser Deutungen aus der Empirie. Insgesamt bietet der Band jeodoch interessante Einblicke in die religionskulturellen Entwicklungen der Schweiz, bestätigt schon bekannte Ergebnisse der empirischen Religionsforschung aus anderen europäischen Kontexten und zeigt zugleich, dass die religiösen Phänomene außerhalb der institutionell vermittelten Religion noch längst nicht erschöpfend erforscht und beschrieben sind.

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Manfred. L. Pirner, Religiöse Mediensozialisation? Empirische Studien zu Zusammenhängen zwischen Mediennutzung und Religiosität bei SchülerInnen und deren Wahrnehmung durch LehrerInnen, München 2004.

Ausgangspunkt der Studie ist die rege und nicht auf die Theologie oder Religionspädagogik beschränkte Diskussion der letzten Jahre über die religiösen Dimensionen der modernen Medienkultur. Pirner hält als Ergebnis drei Einsichten fest: Die Medien haben in den westlichen Gesellschaften vielfach Funktionen der traditionellen Religion übernommen, sie zeigen vielfältige strukturelle Parallelen mit religiösen Phänomenen und sie verarbeiten Versatzstücke der religiösen Traditionen. Vor diesem Hintergrund ergibt sich die Fragestellung der Studie, nämlich die Frage danach, inwieweit die Mediensozialisation heute zugleich religiöse Sozialisation ist. Diese Frage lässt sich nur empirisch beantworten. Die bisher vorliegenden und für das Thema relevanten Untersuchungen geben Anlass, von einer religiösen Valenz heutiger Mediensozialisation auszugehen, lassen jedoch vieles offen. Pirners eigener Beitrag zur weiteren Aufklärung dieser Zusammenhänge besteht in einer quantitativ orientierten schriftlichen Befragung von 302 Konfirmandinnen und Konfirmanden aus unterschiedlichen Milieus zwischen Dezember 1999 und Januar 2000. Pirner spricht auch von einer "Klumpenstichprobe". Die Auswertung bestätigt in Pirners Augen die Hypothese eines Zusammenhangs zwischen Mediennutzung (näherhin Fernsehnutzung) und den religiösen Einstellungen der Befragten. Die beobachteten Zusammenhänge lesen sich im Blick auf die befragten Mädchen unter anderem wie folgt: "Deutlich sichtbar ist, dass sich (...) unter denen, die ‚sehr gerne’ Mysteryfilme sehen, wesentlich mehr 'Gläubige’ befinden als unter denen, die nur mittelmäßig oder überhaupt nicht an Mysteryfilmen interessiert sind" (60). Nach allem, was wir aus der Medienrezeptionsforschung wissen, wäre es allerdings problematisch, diese Beobachtung als Anzeichen für eine religiöse Wirkung von Mysteryfilmen zu interpretieren - Pirner weist selbst auf dieses Problem hin. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass Medienrezipienten Medienangebote aufgrund ihrer soziokulturellen Positionalität, zu der religiöse Überzeugungen ebenso gehören wie aktuelle Lebensfragen, auswählen. Dass also religiös Interessierte Fernsehangebote mit religiösen Themen stärker wahrnehmen als nicht religiös Interessierte, liegt auf der Hand. Pirners Untersuchung geht über die Bestätigung solcher Trivialitäten insgesamt zu wenig hinaus. Aufschlussreicher wären in der Tat auch von Pirner geforderte qualitative Untersuchungen, die am Einzelfall und typologisch zeigen könnten, wie Medienerfahrungen und Religiosität ineinander spielen. Etwas aussagekräftiger scheint mir eine im selben Zeitraum von Pirner durchgeführte ergänzende Befragung von knapp dreihundert ReligionslehrerInnen aus unterschiedlichen Regionen und Schulen, die deren Bereitschaft eruieren sollte, auf Medienerfahrungen und Medienthemen im Unterricht einzugehen. Dabei zeigte sich, dass die Unterrichtenden die wichtige Rolle von insbesondere Fernseherfahrungen als Sozialisationsfaktor für die Schülerinnen und Schüler deutlich wahrnehmen, dass jedoch im Blick auf die Arbeit mit Fernsehmitschnitten und Medien generell sowohl durch die unklare Rechtslage als auch aufgrund mangelnder Kompetenz Vorbehalte, Skrupel und Hilflosigkeit vorherrschen. Pirners Fazit: "Diese Ergebnisse machen unmissverständlich deutlich, dass medienpädagogische Aspekte stärker in die Ausbildung, aber auch in Fortbildungsveranstaltungen für Religionslehrkräfte integriert werden müssen" (89). Dieser Schlussfolgerung kann man nur zustimmen.

Die wesentlichen Ergebnisse des schmalen Bändchens hatte Pirner übrigens schon ein Jahr zuvor in einem Artikel der Ludwigsburger Beiträge zur Medienpädagogik veröffentlicht (vgl. ders., Religiöse Mediensozialisation? Ein empirisches Forschungsprojekt, in: Ludwigsburger Beiträge zur Medienpädagogik, Ausgabe 4/2003, 1-5). Neu gegenüber dieser Publikation sind vor allem eine Skizze der gegenwärtigen Diskussionslage zum Verhältnis von Medienpädagogik und Religionspädagogik und eine knappe Zusammenfassung der bisherigen empirischen Untersuchungen, die den Zusammenhang von Mediengebrauch und Religiosität berühren.

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Alois M. Haas, Mystik im Kontext, München 2004.

Das Interesse an der Mystik ist ungebrochen und spiegelt sich in aktuellen Publikationen im gesamten Spektrum der Genres von den Erbauungsbüchern des Willigis Jäger bis hin zur philosophischen Abhandlung eines Ernst Tugendhat wieder. Im vergangenen Jahr ist ein weiteres gewichtiges Werk dazugekommen. Unter dem Titel "Mystik im Kontext" hat der Schweizer Literaturwissenschaftler und Mystikforscher Alois Maria Haas darin eine Reihe von eigenen Texten aus den letzten Jahren versammelt. Der Titel ist Programm: Haas weiß sich den kontextualistischen Mystikforschungen verpflichtet, die die soziokulturelle und lebensweltliche Einbettung der mystischen Erfahrungen betonen und darum auch Wert auf die Analyse der jeweiligen Deutungshorizonte legen. Das Spektrum der in dem fast 600-seitigen Band zusammengefassten sehr kenntnisreichen und lesenswerten Aufsätze ist breit und reicht von grundsätzlichen begriffsgeschichtlichen Arbeiten (unio mystica) über Analysen mittelalterlicher Mystik (Eckhart, Nikolaus von Kues, Teresa von Avila u. a.) bis hin zu Auseinandersetzungen mit der 'a-theistischen’ Mystik eines Paul Valéry und der Zen-Tradition. In einem kurzen Schlusskapitel erörtert Haas die Frage nach der aktuellen Bedeutung mystischer Erfahrungen und verortet das erneute Mystikinteresse im Kontext einer Renaissance des Religiösen in der Postmoderne. Anders als Peter Sloterdijk, der mystische Texte nur noch wie alte Musik konsumieren möchte, hält Haas die Mystik für zukunftsfähig. Sie könne zum Beispiel, so Haas unter Bezugnahme auf Karl Rahner, eine wichtige Rolle bei einer Neufassung des christlichen Glaubens spielen, einer Neufassung, "die sicherlich weniger satzorientiert ist als vielmehr eine Erfahrung intendiert, die dem Geheimnis Gottes gerechter wird. Stichwort für diese Haltung ist 'Gelassenheit’. Sie ist die Voraussetzung eines authentischen Selbstvollzugs im Sinne christlicher Mystik" (498). Diese Einschätzung scheint mir jedenfalls im Blick auf Europa plausibel. Die Zukunft des Christentums ist in unseren fundamentalismuskritischen Kontexten wohl kaum als Renaissance der Dogmatik denkbar, sondern nur als Erneuerung der religiösen Erfahrung und damit auch der Mystik, die in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle spielt und das Wissen um die Unsagbarkeit Gottes und die Vorläufigkeit aller Symbolisierungen und Dogmatiken präsent hält.


© Jörg Herrmann 2005
Magazin für Theologie und Ästhetik 34/2005
https://www.theomag.de/34/jh9.htm

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