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Magazin für Theologie und Ästhetik


Finale Gespräche

Ein Film über Schein und Sein

Andreas Mertin

Interview, Spielfilm, 89 Min., Niederlande 2003, Originalfassung mit Untertiteln.

Regie: Theo van Gogh; Buch: Theodor Holman, Hans Teeuwen; Kamera: Thomas Kist; Produzent: Theo van Gogh, Marianne Plukker, Gijs van de Westelaken; Produktion: Column Productions, Shooting Star Filmcompany BV

Mit: Pierre Bokma (Pierre Peters), Katja Schuurman (Katja Schuurman), Michiel De Jong (Soapie), Tinoes Fenanlamrer (Polizist), Theo van Gogh, Theo Maassen (Theo), Monique Meijer (Polizistin), Ellen Ten Damme (Ellen)

Interview

... ist Theo van Goghs[1] vorletzter Spielfilm, seine deutsche Erstausstrahlung auf arte eine gute Möglichkeit, jenseits der Aufgeregtheiten der aktuellen, durch die Medien und den Konflikt von Religion und Kultur bestimmten Diskussionen, sich mit dem Filmemacher van Gogh, aber auch mit dem Thema seines Spielfilms auseinander zu setzen. Und es geht in diesem Film um nicht wenig, nämlich um die Allianz und den Widerstreit von Schein und Sein, von Show und Wahrheit, von Wirklichkeit und Fiktion. Gelesen werden kann, ja muss dieser Film als Metapher. Denn es geht eben auch um die Inversion, wenn Wahrheit Lüge wird, wenn Schein Wahrheit provoziert und damit Wahrheit produziert.

Die Story

Das Arte-Programminfo fasst die Story des Film so zusammen: "Pierre Peters, ein Zeitungsjournalist für Politik, soll sich für ein Interview mit der schönen und erfolgreichen Fernsehschauspielerin Katja Schuurman treffen. Er ist nicht besonders erfreut über diesen Auftrag, denn die Niederlande erleben gerade eine heftige Regierungskrise, und Pierre könnte sich etwas Besseres vorstellen, als irgendeinen "Teeniestar" zu interviewen. Doch die Begegnung mit Katja in ihrer privaten Wohnung verläuft anders als gedacht. Völlig unvorbereitet geht Pierre Peters in das Zweiergespräch und stellt bald fest, dass hinter der glitzernden Fassade der jungen Schauspielerin viel mehr steckt, als er jemals geahnt hätte. Auch er wird von Katja gnadenlos auf den Prüfstand gestellt und es dauert nicht lange, bis sie sich gegenseitig ihre tiefsten Geheimnisse preisgeben. Aus dem Interview wird ein Machtkampf mit unvorhersehbaren Wendungen."

Die Zusatzinfos, die ja inzwischen nahezu ebenso unentbehrlich zur Rezeption eines Films hinzugehören wie der Film selbst, informieren den Betrachter, dass die Hauptdarstellerin Katja Schuurman als Katja Schuurman sich selbst spielt, dass die Aufnahmen in ihrer eigenen Wohnung gedreht wurden, dass sie in den Niederlanden ein populärer Fernsehstar in einer Daily-Soup (GZSZ) war und "Katja Schuurman (* 19. Februar 1975 in Bunnik) ist eine niederländische Schauspielerin. Schuurman machte ihre ersten Schritte als Schauspielerin noch während ihrer Schulzeit. 1992 wirkte sie in der Serie Uit de school geklapt des niederländischen Fernsehsenders NRCV mit. Nach ihrem Schulabschluss spielte sie mehrere kleine Rollen in Fernsehserien. Ihren Durchbruch schaffte Schuurman in der Rolle der Jessica Harmsen (1995-1999) in der niederländischen Version der Seifenoper Gute Zeiten, schlechte Zeiten. Auf dem Höhepunkt der Popularität der Sendung nahm sie zusammen mit ihren Serienkolleginnen Guusje Nederhorst und Babette van Veen unter dem Bandnamen Linda, Roos & Jessica die Single Ademnood auf, die Ende 1995 für sieben Wochen Platz 1 der niederländischen Charts belegte. Als Schuurman im Frühjahr 1999 zusammen mit ihrem engen Freund Cas Jansen aus der Serie ausstieg, sanken die Einschaltquoten um mehr als 20 Prozent. Im Dezember 1999 geriet Schuurman in die Schlagzeilen, als sie im alkoholisierten Zustand einen Verkehrsunfall verursachte."[2] Das ist das Material, aus dem van Gogh den Film konstruiert bzw. den Erwartungshorizont des Betrachters formt. Der niederländische Betrachter wird vermutlich wesentlich häufiger als der deutsche darüber grübeln, was an diesem Film Realität und was nur gespielte Realität und was reine Fiktion ist. Das ist zugleich das inhaltliche Thema des Films, denn dieselben Fragen stellt sich der deutsche Zuschauer auf der Handlungsebene auch. Was von den theatralischen Inszenierungen, die sich da vor seinen Augen abspielen, ist nur Bluff, um den Gesprächspartner aus der Reserve zu locken, was ist Konfession bzw. Bekenntnis und was ist Theaterwirklichkeit im Rahmen einer Gesellschaft, die von jedem verlangt, Rollen zu spielen - um den Preis einer nicht mehr zu vergegenwärtigenden Patchworkidentität.

Die naheliegende Antwort - Alles ist Schein - verkneift sich der Film, das wäre zwar medienkompatibel, aber eines Theo van Gogh nicht würdig. Die alternative Antwort - in allem steckt ein Stückchen Wahrheit - wäre aber ebenso banal. Und so muss der Film Wahrheit und Schein auf mehreren Ebenen so miteinander vermengen, dass eine saubere Trennung, wie es sich der Zuschauer erhofft ("Alle Gefühle hoffen auf einen guten Ausgang" [Alexander Kluge]), nicht mehr möglich ist.

Die Rahmung oder: Wenn Bilder reden könnten

Wenn der Betrachter die Bilder lesen könnte, die den Film eröffnen, wenn Bilder also reden könnten, dann wüsste man die ganze Zeit, worauf der Film hinaus läuft (was aber nicht notwendig seine Wahrheit ist, denn auch die Einganssequenz zeigt nichts als Bildern von Fernseh-Bildern). So aber hat die Eröffnungssequenz als Rahmung die Bedeutung des Distelfinken auf mittelalterlichen Bildern der Kindheit Jesu. Sie verweisen voraus, deuten kommendes Geschehen an, sie lassen damit aber auch erkennen, dass das einleitende Monitorbild bereits in Kenntnis der Folgegeschichte erstellt wurde. Für den Unwissenden sind sie aber nur Bilder und erst im Nachhinein erhalten sie ihren Sinn.

"Ich Tarzan, Du Jane"

Größenverhältnisse spielen in "Interview" mehrfach eine wichtige Rolle - real und im übertragenen Sinne. Wer ist größer (=wichtiger =bedeutender): der politische Enthüllungsjournalist oder die weibliche Kultfigur einer Soap-Opera? Was ist höher zu veranschlagen: Die Wahrheit oder die glaubhafte Darstellung scheinbarer Wahrheit? Und wer holt wen womit auf seine Ebene (herab / herauf)? Und wie zeigt oder beweist man das? Wenn beide flach liegen, befinden Sie sich dann auf der selben Ebene? Welchen (Realitäts-)Wert haben Emotionen, Bekenntnisse, Geständnisse in einer mediatisierten Gesellschaft?

Vertrauen

Können intime und entlarvende Konfessionen Vertrauen schaffen? Kann das Gleichgewicht des Schreckens auch auf existentieller und emotionaler Ebene funktionieren? Der Widerspruch zwischen dem, was gesagt wird, und dem, was man sieht, ist in van Goghs "Interview" mehr als einmal absolut frappant. In einer schauspielerischen und inszenatorischen Meisterleistung werden Widersprüche auf den Punkt gebracht. Wenn der Glaube an performative Sprechakte je einen Sinn gemacht hat, dann wird er durch diesen Film gründlich desillusioniert. Sprache und Körpersprache konvergieren und divergieren in permanentem Wechsel.

Ich vertraue Dir - sagt Katja kurz vor dem Showdown in einer Situation, in der Vertrauen nur noch die Gewissheit über die Scheinhaftigkeit des Gegenübers bedeuten kann. Das Vertrauen in die Authentizität des Journalisten bedeutet, auf seinen Verrat zu setzen. Das Vertrauen, um das es im Filmgespräch final geht, ist in unserer Gesellschaft längst zu einer kapitalisierbaren Münze geworden.[3] Vertrauen "schenkt" man, "gewinnt es zurück" und heute eben nicht mehr bei Gott oder dem Partner sondfern beim Verbraucher (Zuschauer), Investoren oder Anleger. Die ursprünglich religiöse Konnotation, die mit dem Wort Vertrauen einmal verbunden war, ist nahezu restlos geschwunden. Wahr ist am Ende - in guter Tradition der Kritischen Theorie - doch nur der Schein, der die Wahrheit ans Licht bringt.

Mediengesellschaft

Natürlich ist "Interview" auch ein Film über die Abgründe der Mediengesellschaft, die alles tut, nur um eine Sensation, eine Nachricht, eine Schlagzeile zu bekommen und in der der Opfer nur allzu oft gleichzeitig mediale Handlanger sind. Aber um das zu realisieren, brauchen wir weder van Goghs "Interview" noch Heinrich Bölls "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" noch den Internet-Blog zur Bildzeitung[4] - das intuitive Wissen um die Verlogenheit und Falschheit der Mediengesellschaft ist uns als Nachgeborenen der Goebbelsschen wie realsozialistischen Pseudorhetorik quasi angeboren. Vielleicht ist diese Sequenz des scheinbaren medialen Vertrauensbruchs auch der schwächste Teil des Films, schafft er doch unversehens wieder eine Ordnung der Guten und Bösen, die real in diesem Metier gar nicht existiert. Hier läuft der Idealist Theo van Gogh in seine eigene Falle.

Am Ende ...

... scheinen die Ebenen daher nur seltsam vertauscht. Wer sich am Anfang des Films (moralisch und gesellschaftlich) ganz oben fühlte, ist nun ganz unten, und der Schein (die Kunst der Schauspielerei) triumphiert angesichts eines journalistischen Schiffbruchs mit Zuschauer. Aber das ist - um mit Jules Winnfield aus Pulp fiction zu sprechen - nicht die Wahrheit. Nichts ist am Ende "restituiert", nichts "geheilt", nichts "wahr", nichts "aufgeklärt". Die Tristesse ist mindestens ebenso groß wie am Anfang, nur die Protagonisten haben ihre Stellung gewechselt. Vom Balkon ihrer Wohnung blickt die Schauspielerin Katja Schuurman triumphierend auf den gescheiterten Journalisten Pierre Peters herab, den sie nicht nur hinters Licht geführt, sondern dessen Handlungen sie auch ans Licht gebracht hat. Befriedigend ist diese Lösung des Ganzen nicht.

Die Enden der Geschichte

Vielleicht hätte es daher - wie beim Videoclip zu "My favorite game" der Gruppe "The Cardigans" - vier finale Versionen der Geschichte geben müssen, die der Ambivalenz von Schein und Sein, von Show und Wahrheit, von Wirklichkeit und Fiktion weiter und offener gerecht werden. Vielleicht hätte der Film "Das Interview" aber auch mit der zuschlagenden Tür nach dem Abschluss des Interviews enden können. An diesem Punkt hatte der der Zuschauer alle Fakten im Kopf und hätte die Geschichte selbst zu Ende denken und bebildern können. So wäre ein Stück seiner Fantasie gerettet worden. Das nicht getan zu haben, könnte man van Gogh vorwerfen, aber im Rahmen der Gesamtinszenierung ist das eine lässliche Sünde.

Zwar gibt es hier keine "Lernprozesse mit tödlichem Ausgang", aber doch finale Gespräche zwischen Schein und Sein, ein Interview als Metapher der verschiedenen Wege der Wahrheitssuche.

Anmerkungen
  1. Vgl. http://www.prisma-online.de/ga-bonn/person.html?pid=theo_van_gogh
  2. http://katja_schuurman.exsudo.de/
  3. Sie dazu den Grafen aus dem Wortschatz-Lexikon der Universität Leipzig: http://wortschatz.uni-leipzig.de/ zum Stichwort "Vertrauen".
  4. www.bildblog.de

© Mertin 2005
Magazin für Theologie und Ästhetik 34/2005
https://www.theomag.de/34/am148.htm