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Magazin für Theologie und Ästhetik


Raum der Vor-, Post-, Hyper-, Vulgärmoderne: Die Küche

Michael Girke

Die Konstellation: Von der Filmkritikerin Frieda Grafe wurde jüngst ein Buch wiederveröffentlicht über die Schriftstellerin Gertrude Stein. Deren Schreiben wiederum war stark geprägt von ihrer Freundin Alice B. Toklas, einer formidablen Köchin. Frieda Grafe lesend kann man lernen, was Küche, Kino und Leben miteinander verbindet.

"Frankreich ist ein friedfertiges Land,
das jeden ausrotten würde, der käme,
um seine Schneider, seine Philosophen
und seine Köche zu stören."
Jean Giraudoux

Willkommen in der Vulgärmoderne. Vulgärmoderne, aus diesem Begriff - er ist übernommen aus der US-amerikanischen Kunstdiskussion - entwickelt Frieda Grafe in der Einleitung zu ihrem Buch "Filmfarben" ein Kriterium zum Verständnis des Kinos und einer vom Kino dominierten populären Kultur. Vulgär ist Kino, weil es eine Mischform ist; zusammengesetzt aus allen Formen zwischen Shakespeare und Music-Hall, Avantgarde und Massenkunst beseitigt Kino die bis dahin gültigen Hierarchien zwischen high and low art, E und U. Und so entsprechen seine Eigenschaften partout nicht den Definitionen der Theoretiker der Moderne, mit denen diese dem Kino vorschreiben, wie es sein müsste, um als versierte moderne Kunst zu gelten.

Wann genau die Vulgärmoderne in Deutschland begann, ist nicht zu ermitteln. Ernsthafte Arbeit zu ihrem Verständnis begann nicht in Feuilletons, Unis oder Theatern, sondern um 1960 bei einigen Autoren der kleinen Zeitschrift "Filmkritik". Nicht bei denen, die beurteilten, welchen Rang man den Filmen der französischen Nouvelle Vague zubilligen sollte, sondern bei denen, die versuchten, das Neue an ihnen zu beschreiben. Plötzlich entwickelte sich eine neue, von amerikanischen, englischen, französischen, italienischen Starnamen, Satzbrocken, Zitaten, Theorievokabeln durchsetzte Sprache. Und so dokumentieren die Filmkritiken Frieda Grafes den Weg Nachkriegsdeutschlands, die Verliebtheit eines Teiles seiner Bewohner in Entertainment, Film, Pop und neue Theorien - und dass diese Verliebtheit eine ernst zunehmende Sache ist.

Bei dem Versuch, mir im öffentlichen Klima der 50er-Jahre-Adenauerwelt Orte vorzustellen, welche die Entstehung dieses neuen Deutsch begünstigt hätten (das in den Ohren derer, die Deutschsein als Auszeichnung empfanden, kein "richtiges" Deutsch war), komme ich nicht auf Zeitungsredaktionen oder Universitäten, auch auf Kneipen nicht. Mir fallen Kinos ein und Küchen. Letzteres will ich kurz erläutern.

Ich möchte Frieda Grafes Arbeit nicht auf biographische Aspekte reduzieren, kann es auch gar nicht, weil ich nichts über ihr Privatleben weiß. Auf Küche komme ich, weil Frieda Grafe in einem Text über den Schriftsteller und Regisseur Herbert Achternbusch, dessen herablassenden Äußerungen zu Hausfrauen widersprechend, sich als Hausfrau bezeichnet, die mit Achternbusch-Filmen und Texten etwas anzufangen weiß. Zudem gehen ihre Schriften mehrfach durch die Küche. Zeichnet man die Entwicklung ihres Schreibens nach, geht es von der Godard-Begeisterung und der schreibenden Mitarbeit an der Veränderung von deutschem Kino und Publikum in den 60ern zu einem Buch über Gertrude Stein, deren Schreiben, durch den gemeinsamen Haushalt, den sie mit der leidenschaftlich kochenden Alice B. Toklas einrichtet, sich verändert. Schließlich kommt es in den 90ern zu einem Buch über "Der Geist und Mrs. Muir", einen Film von 1946, in dem eine Frau und Mutter in der reglementierten bürgerlich-viktorianischen Welt des 19ten Jahrhunderts versucht mittels Schreiben gegen diese Beschränkungen anzuarbeiten, ohne Hoffnung diese zu überwinden.

"Der Geist und Mrs. Muir" ist ein Konfektionsprodukt aus Hollywoods Studios. Eine Romanverfilmung, die sich der Arbeit und dem Einfluss vieler verdankt: Der Autorin des dem Film zugrunde liegenden Romans, dem Drehbuchautor, dem Regisseur, dem Produzenten, den Studioregeln. Ein Film jedoch, der von weiblichem Schreiben handelt und dadurch auch seine Entstehungsbedingungen in Hollywood reflektiert. So ist "Der Geist & Mrs. Muir" ein glücklicher Moment der Kinogeschichte. Das hat wesentlich mit dem Titel gebenden Gespenst zu tun - über das Frieda Grafe schreibt: "Captain Gregg ist kein üblicher Poltergeist, das sieht man, wenn er das erste Mal nicht in Mrs. Muirs Träumen, sondern in ihrer Küche in Erscheinung tritt, beschworen von ihren ärgerlichen Beschimpfungen: ein feiger Geist - wer hat denn so was schon gehört."

Küche tut dem Geist gut. Er ist nicht zum fürchten, nicht erhaben oder heilig, nicht beeindruckend; er wird, wie alles in der Küche, benutzt, um damit zu arbeiten. Er ist, das macht der Film deutlich, eine raffinierte Erfindung der Frau. Die schreibt im Namen Captain Greggs ein Buch über Seefahrt, weil in einer Männerwelt Schreiben, das ernst genommen werden will, anders nicht zu haben ist.

So revolutioniert Mrs. Muir nicht die Welt - wer hätte das je schreibend getan. Aber ihr Schreiben unter falschem Namen ist ein persönlicher Befreiungsakt. Eine Möglichkeit, sich nicht ökonomisch lähmen und zum Schweigen bringen zu lassen. Mrs. Muir sorgt dafür, dass es bessere Bücher gibt. Und wer weiß, welche Wirkungen Schriften erzielen, was Leser mit ihnen alles anzufangen wissen?

Schreiben, Kunst gar, als Hausfrauenarbeit? Hausfrau, Küche, das sind Worte, die Wertigkeiten programmieren. Von Hitchcock ist die Bemerkung überliefert, Kinozuschauer ertrügen auf der Leinwand nicht Hausfrauen bei ihren alltäglichen Tätigkeiten. "Völker, die den Geist in dem hausfraulichen Sinne eines durch zentrale Belieferung stillbaren Wohn-, Siedlungs-, und Heimbetriebs lehren, sind degeneriert", heißt es bei Gottfried Benn.

Vom Zuhause ist in Filmen wichtig: das Wohnzimmer (Raum für Kultur, ernste Worte und Feiern), das Schlafzimmer (Raum für Lust, öfter noch für frustrierende Ehepflicht), Dachboden und Keller (Räume für Erinnerungen und Verdrängtes), Treppen (Raum für Begegnungen, Zufälle, Fluchten). Küchen werden in Filmen allenfalls hastig durchquert. Kein Ort für Helden, große Geister und Ideen.

So ist die Küche im Film beinahe unsichtbar. Ein fremder Ort. Das hat zu tun mit der herrschenden Auffassung von Arbeit. Küche ist ein Raum für bloßen, lästigen Lebenserhalt. Unkreative, unproduktive Arbeit für Bedienstete oder unbezahlte Frauen. Verachtet gegenüber dem, was diese Arbeit vergessen, verdrängen, überwinden hilft: Wissenschaft, Kunst, Krieg, Seefahrt.

Sind die herrschenden funktionalen Auffassungen von Küche nicht töricht, ein Weitermachen altvorderer Vorstellungen in neuem Design? Ist Küche nicht schon immer die denkbar schönste Kombination aus verschiedenen Traditionen, Erfahrungen, Kulturen, Zeiten? Rezepte werden nicht auswendig gelernt, sondern ausprobiert. Stets wird beim Kochen zugleich etwas übernommen, etwas verworfen, etwas Eigenes hinzugefügt. Etwas übernehmen heißt etwas Vorhandenes anreichern durch Gebrauch und eigene Erfahrung. Eigenes kann überhaupt nur in Verquickung mit Anderem entstehen.

Fallen in Küchen nicht Sinnlichkeit und Denken zusammen? "Ich kann, wenn mich die Lust auf Safranreis ankommt, schwer unterscheiden, ob ich mir die Farben oder den Geschmack ausmale." Weil Frieda Grafe solche Küchenbeobachtungen ernst nimmt (und damit Farben als künstlerisches Ausdrucksmittel des Kinos), kommt ihr Buch "Filmfarben", das bislang einzige deutsche Buch zu diesem Thema, eher aus der Küche, als aus den Räumen, in denen man sich Filmbücher sonst ausdenkt.

Gehört zur Küche nicht schon immer ein Gutteil heimische Fadheit und nationale Emphasen relativierendes Ausland? Wie traurig die hiesige Küche ohne Gewürze, Gerüche, Gerichte, Geschmäcker, Flüssigkeiten, Räusche aus der Fremde. In Klaus Theweleits Buch "Orpheus und Eurydike" ist das in den 40ern und 50ern permanent in Mutters Küche laufende Radio ein sanfter, berieselnder Gegenpol zum Brüllen klassischer deutscher Väter, zu Gesetzen des Deutschseins. Offenheit, Liebe zu Pop, Jazz, Rebellion, eigene Anfänge begannen für Theweleit in der Küche. "Möglicherweise ist auch Mrs. Muirs Geist eine vom Radio inspirierte drahtlose Erfindung, die Stimme aus einer anderen Welt"(Frieda Grafe).

Küche = schöpferischer Raum für viele Töne, Geschmäcker, Farben, Rezepte. Schon immer Raum der Vulgärmoderne.

Klaus Theweleit: "Wo Männer in Jahrhunderten gedrillt wurden, den öffentlichen Raum, den Raum des Handelns, der Gesetze und der Sinnverkündung mit ihren Reden und Schriften zu füllen, waren Frauen auf Beobachtungs-, Zuhör-, und Wahrnehmungstätigkeit verlegt. In ihrer ungleich besser entwickelten Fähigkeit des Zuhörens und Anteil nehmenden Erinnerns liegt einer der Gründe für ihre Überlegenheit als Analytikerinnen." (Orpheus & Eurydike).

Gemeint sind Psychoanalytikerinnen, diejenigen also, die im ersten für Frauen zugelassenen intellektuellen Beruf arbeiteten. Man kann genau so gut Autorinnen, Künstlerinnen, Filmkritikerinnen sagen.

"Die immer neue frische Bereitschaft zum Reagieren. Die Situation vorm Essen, so stellte sie sich vor, dass Künstler sich verhalten müssten vorm Neuen. Uninhibited response, feel readily.
Die Gleichheit aller Gegenstände vorm Künstler.
Die Alltäglichkeit.
Das Leben und das Schreiben total vermischt.
Die Einfachheit verbunden mit komplizierter Professionalität."

Frieda Grafe über Gertrude Stein. Wie ästhetische Empfindungen, neue Sensibilität, neues Schreiben und neue Kunst aus einem alten und zugleich ständig sich verändernden Raum kommen, der Küche.

Dass sie genau diese Situation vorm Essen sind; dass in ihnen Bereitschaft für Neues und komplizierte Professionalität sich immer wieder in die Quere kommen und gegenseitig durchdringen; dass in ihnen alle Arten von Sprachen, Diskursen, Perspektiven, Zeiten vermischt sind und erkennbar mitschreiben an mit Frieda Grafe gezeichneten Texten; dass sie keine Geschichte mit wenigen Helden und vielen Nebenfiguren, mit Anfang und Ende erzählen, sondern ein Geflecht von Beziehungen, Spuren und Wissen entwerfen; darin liegen die Gründe für das wunderliche Nichtaltern der Texte Frieda Grafes.

Kitchen Stories: Welches Geschick notwendig ist und wieviel Professionalität, was es kostet, die Mitglieder einer (Film-)Familie mit all ihren Eigenheiten und Macken an einen Tisch zu bekommen, das beschreibt die Kritikerin Verena Mund in ihrer Erinnerung an den bekanntesten aller Weihnachtsfilme, Frank Capras "Ist das Leben nicht schön" - genauer gesagt, anhand von Mary Bailey, "the woman behind" der Hauptfigur George Bailey: "Marys Leistungen erscheinen denn auch eher unauffällig und reichlich kurz auf der Bildfläche (wie das so ist mit Mütterarbeit). Was das jedoch für eine Arbeit gewesen sein muss, all die Leute zusammenzutrommeln, wie viel Logistik, Anstrengung und Einfallsreichtum notwendig waren, bei den Wetterverhältnissen und der Kürze der Zeit - das könnte glatt den Stoff für einen Actionfilm hergeben."

Kann man sich ein endloses, keinesfalls zielloses, Tischgespräch vorstellen, eines, in dem keine Stimme der anderen den Raum zur Entfaltung nimmt? In dem sie alle in ihrer zweifelhaften Widersprüchlichkeit unverzichtbar und vernehmbar sind, die Stimmen der Erfolgreichen, der Randständigen und der Verlierer, der erinnerten und vergessenen Stars, Spinner, Regisseure, Filmfans, Möchtegerns, Produzenten, Wahnsinnigen, Wissenschaftler und Kaputtgegangenen. Kann man sich ein Gespräch vorstellen, in dem Thea von Harbou, John Ford, Sigmund Freud, Reklamowitz Klimbinski, Quentin Tarrantino, Danièle Huillet, Walter Benjamin, Ida Lupino, Groucho und Karl Marx und und und, die zahlreichen Berührungspunkte ihrer Arbeiten diskutieren, und in dem sie, Störgeräusche und Disharmonien inklusive, selbst die Zusammenhänge herstellen?

Ein Gespräch, das nie stattfand, denn die Genannten haben ja nicht zur gleichen Zeit gelebt? Eins, dass es nie geben wird, weil so etwas in unserer profilneurotischen Wirklichkeit einfach nie stattzufinden pflegt? Das aber doch laufend stattfindet. Im Kino. Und das aufgeschrieben vorliegt, weil die Filmkritikerin Frieda Grafe die Fähigkeit hatte, ihren offenen Augen und Ohren das Denken und Schreiben zu überlassen. Fürs Kino, für Filmkritik und Filmwissenschaft steht entscheidendes noch aus: Von Hausfrauen und Müttern lernen.

"Zwei Jahre aus meinem Leben mit Gertrude Stein" von Frieda Grafe ist erschienen beim Verlag Brinkmann & Bose, Berlin


© Michael Girke 2005
Magazin für Theologie und Ästhetik 33/2005
https://www.theomag.de/33/mg5.htm

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