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Magazin für Theologie und Ästhetik


Lektüren XIX

Aus der Bücherwelt

Andreas Mertin

Reisen ins Reich

Als Ende der 50er Jahre Geborener war für mich die Frage danach, wie Nationalsozialismus möglich wurde und das Unsägliche des "Tausendjährigen Reichs" geschehen konnte, von frühester Jugend an ebenso bedrängend wie nahezu nicht zu beantworten. Wie konnte man Eltern oder Großeltern in ihren Erzählungen glauben, da sie doch Teilnehmer des Geschehens waren? Wie setzen sich die Berichte der Verwandten und älteren Nachbarn zu den Lektüren etwa des Eichmann-Prozesses in Beziehung? Inwieweit war die Banalität des Bösen auch in nächster Nachbarschaft Realität? Im neuesten Band der (noch) von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Anderen Bibliothek geht es um die Eindrücke, die Menschen vom "Dritten Reich" hatten, die als Ausländer einreisten. Zwar gab es sch häufiger Berichte in der Anderen Bibliothek über das Geschehen vor, während und den Zerfall des Reiches (Vgl. etwa Lektüren V, Lektüren IX), aber in der Regel waren dies Binnenperspektiven.

Diesmal geht es aber um den "fremden Blick": "Wie nahm die Außenwelt dieses entfesselte, der Katastrophe entgegentaumelnde Deutschland wahr? Was fiel Schriftstellern, Journalisten und anderen Augenzeugen auf? Es ist ein höchst widersprüchliches Bild, das diese bisher kaum genutzten Quellen zeichnen. Nicht die politische Analyse steht dabei im Vordergrund, sondern die unmittelbare Alltagserfahrung. Manche Besucher waren anfangs von der Dynamik des 'Dritten Reiches' fasziniert. Einige blieben bis zum Ende Sympathisanten des Regimes; andere schildern den Prozess ihrer allmählichen Desillusionierung. Dagegen legten die kühleren Köpfe von Anfang an eine Hellsicht an den Tag, die beeindruckend ist. (So sah der schwedische Dichter Gunnar Ekelöf schon kurz nach der Machtergreifung den Zivilisationsbruch voraus, und die Amerikanerin Martha Dodd kam bereits 1938 zu dem Schluss, dass die Verfolgung der Juden in einer planmäßigen Vernichtungspolitik gipfeln würde.) Die Liste der Zeugen ist eindrucksvoll: Samuel Beckett, Thomas Wolfe, Jean Genet, Max Frisch, Jean-Paul Sartre, Karen Blixen, Georges Simenon, Virginia Woolf und Albert Camus waren in Deutschland; aber nicht weniger aufschlussreich sind die Beobachtungen von Vergessenen, von Unbekannten und von Exoten wie Shi Min oder Jozsef Nyirö, die hier — meist zum ersten Mal - in deutscher Sprache erscheinen." (Klappentext)

Tatsächlich ist die Lektüre des Buches überaus spannend und lehrreich – nicht nur was den sich ankündigenden Schrecken betrifft, sondern auch, was den wahrgenommenen Alltag angeht. Maria Leitners "Besuch bei Heinrich Heine" etwa ist höchst aufschlussreich, was die Veränderung der Normalität angeht. Geradezu unglaublich fand ich einen – allerdings auch durch andere Texte gedeckten - Bericht des amerikanischen Korrespondenten William Shirer von 27.September 1938:

"In Erwartung einer mächtigen Demonstration ging ich zur Ecke Unter den Linden, wo die Kolonne in die Wilhelmstraße einbog. Ich rief mir die Szenen von 1914 in Erinnerung, über die ich gelesen hatte: eine jubelnde Menge auf ebendiesen Straßen, die den vorbeimarschierenden Soldaten Blumen zuwarf; und Mädchen, die spontan auf sie zuliefen und sie küßten. Die heutige Nachmittagsstunde hat man zweifellos gewählt, um jene Hunderttausende von Berlinern zu erreichen, die nach Feierabend aus ihren Büros strömen. Doch sie eilten schnurstracks zur U-Bahn und weigerten sich, dem Spektakel zuzuschauen. Und jene Handvoll, die am Straßenrand stand, verharrte in völligem Schweigen, unfähig zu einer Freudenreaktion angesichts der Blüte der Jugend, die da in den ruhmreichen Krieg zog. Es war die bewegendste Demonstration gegen den Krieg, die ich jemals gesehen habe. Hitler äußerst aufgebracht deswegen, wie es heißt. Ich stand noch nicht lange an der Kreuzung, als ein Polizist aus Richtung Reichskanzlei die Wilhelmstraße hochkam und der kleinen Gruppe am Straßenrand zurief, der Führer begrüße die vorbeifahrende Truppe vom Balkon herab. Nur wenige setzten sich daraufhin in Bewegung. Ich ging hin, um die Szene zu beobachten. Da oben stand Hitler, und an der Straße sowie auf dem großen Areal des Wilhelmsplatzes hatten sich nicht einmal zweihundert Menschen versammelt. Hitler blickte erst grimmig, dann immer zorniger in die Runde und verließ bald darauf seinen Balkon, auf die Inspektion der Truppen verzichtend. Was ich da am heutigen Abend gesehen habe, läßt beinahe wieder ein wenig Vertrauen in das deutshe Volk aufkommen. Sie sind mit tödlichem Ernst gegen diesen Krieg."

Thomas Wolfes eigenständige Novelle "Nun will ich Ihnen was sagen", die in diesem von Oliver Lubrich editierten Buch enthalten ist, ist von geradezu beklemmender Brisanz, was das Schicksal der jüdischen Bevölkerung betrifft.

Es ist jedoch eines, als amerikanischer Korrespondent den Vor-Kriegs-Alltag in Berlin zu erleben und sich davon erzählen zu lassen. Etwas anderes ist es, dem nur schwer in Sprache fassbaren Massenmord nachzugehen, der sich mit Namen wie Auschwitz verbindet.

Der Auschwitz-Prozess

In der Digitalen-Bibliothek ist im Januar 2005 eine DVD-Dokumentation des Fritz-Bauer-Instituts und dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau zum 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess erschienen: "Der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965) ist eines der bedeutendsten Beispiele für den justiziellen Umgang mit NS-Gewaltverbrechen in der Bundesrepublik Deutschland. Der 430-stündige Tonbandmitschnitt der Hauptverhandlung – ursprünglich angefertigt als Gedächtnisstütze für das Gericht und heute ein einzigartiges historisches Dokument – bildet das Kernstück der Dokumentation. Diese mündlichen Zeugnisse wurden verschriftet, inhaltlich detailliert erschlossen und mit einem Anmerkungsapparat versehen. Neben den Aussagen von über 300 Zeugen, in 11 unterschiedlichen Sprachen, enthalten die Tonbandaufzeichnungen die Schlussworte der Angeklagten, Plädoyers von Staatsanwaltschaft, Verteidigern und Nebenklagevertretung sowie die mündliche Urteilsbegründung. Ausgewähltes Quellenmaterial aus den Hauptakten sowie die Prozess-Mitschrift des protokollführenden Richters ergänzen die Dokumentation der 183 Verhandlungstage. Eine Fülle von Begleitmaterialien erzählt die Vor- und Nachgeschichte des Prozesses und macht einen Teil der schriftlichen Beweisstücke zugänglich. Die DVD enthält ferner eine große Anzahl von Fotos, Hörbeispiele aus dem Tonbandmitschnitt, einen Filmausschnitt, Lagerpläne und Karten. Einführende Texte sowohl zum Prozessverlauf als auch zur Geschichte des Lagers Auschwitz ermöglichen einen intensiven Einstieg in die Materie. Die umfassende Darstellung des Auschwitz-Prozesses bietet sich sowohl zu einer Auseinandersetzung mit dem Geschehen in Auschwitz als auch mit dem justiziellen Umgang mit NS-Verbrechen an."

Wenn es eine Aufgabe der Bildung ist, dass Auschwitz sich nicht wiederhole, dann ist diese DVD für pädagogisch Bearbeitungen (aber nicht nur für diese) eine äußerst empfehlenswerte Quelle. Aber auch für jene Generationen, die verstehen wollen, was eigentlich geschehen ist, was die Banalität die Bösen ausmacht, wie die Beteiligten sich zu ihren eigenen Untaten verhalten ist die DVD unentbehrlich. Dass das Fritz-Bauer-Institut und das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau diese Dokumentation in dieser vorbildlichen Form zugänglich gemacht hat, ist wirklich lobenswert.


© Mertin 2005
Magazin für Theologie und Ästhetik 33/2005
https://www.theomag.de/33/am144.htm

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