Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Magazin für Theologie und Ästhetik


Derrida war (nicht) da. Es lebe Derrida

Erinnerungen an die Zukunft gelehrter Profession

Bernd Beuscher

"Nimm das Paradox weg von einem Denker,
und du hast einen Professor."

Friedrich Nietzsche

"Auf Leben und Tod ? Philosophische Passagen um Derrida" lautete 1998 das Thema einer Ostertagung der Ev. Akademie Tutzing unweit der Stelle am Starnberger See, wo Bayerns König Ludwig aufrechten Ganges für immer ins Wasser gegangen sein soll. Wie sich später bei Tischgesprächen herausstellte, war ich nicht der einzige, der schon im Vorfeld der Tagung leise Zweifel gehegt hatte, ob das leibhaftige Erscheinen Derridas zu diesem Thema nicht den Tod der Tagung bzw. Totschlag von Derridas Lehre bedeutet hätte. Derrida ins Zentrum rücken? Derrida auf Leben und Tod zur Rede stellen?

Wegen gerade überstandener Krankheit und unmittelbar bevorstehender Amerikafahrt hatte Derrida kurzfristig abgesagt. Das Diskurszentrum der Tagung war somit leer, und prompt setzte ein Gerangel um den imaginären Mittelpunkt ein. Der Studienleiter rückte ins Zentrum, indem er Beiträge, die ihm "zu pastoral" erschienen, missbilligte. Die Derridakenner (Französischkenntnisse obligatorisch) gerieten ? widerstrebend! ? wieder und wieder ins Zentrum bei dem Versuch, die Leere durch Lehre vor unbefugtem Zutritt zu schützen. Unsereins war mit einigen anderen bemüht, auch das eine oder andere Mal ins Schwarze zu treffen.

In den folgenden Diskussionen (ohne Derrida um Derrida) ging es hoch her auf Leben und Tod des Subjekts, mit Kierkegaards Worten um "die Krankheit zum Tode", um den Konflikt, verzweifelt ein Selbst sein zu wollen und ebenso verzweifelt sich selbst los (auch selbstlos) sein zu wollen. "Angst um sich selbst wird die Seele der Philosophie" (Nietzsche), wie es heute der Kirche ergeht.

Der Strukturalismus hatte scheinbar Entlastung geboten, bis deutlich wurde, dass er den zentralistischen Stress des Subjekts, (Nicht)Identität, (Nicht)Sozietät, (Nicht)Pietät und (Nicht)Kontinuität leisten zu müssen, auf höherer Ebene wiederholte.

"Geschlossenheit ist selber der Bruch."[1] Auf der anderen Seite gilt: "Auch das Neinsagen, die Einsicht in das Paradox des Lebens, die Beugung unter Gottes Gericht ist's nicht, auch das Warten auf Gott, auch die 'Gebrochenheit' ... ist's nicht, sofern sie Haltung, Standpunkt, Methode, System, Sache sein will, sofern der Mensch sich damit von andern Menschen abheben will."[2}

Derridas Anliegen war es, die Möglichkeit menschlichen Handelns zu denken und zu formulieren, ohne das Subjekt als Autor und Zentrum entsprechender Prozesse vorzustellen, ohne jedoch auch das Kind mit dem Bade auszuschütten.

Dekonstruktion kommt von "dezentral" und nicht von "destruktiv". "Dekonstruktion der Destruktion" (F. Kittler) gilt als Versuchsmodell, dem, was uns "von woanders" zufällt, zu entsprechen.

Wenn der polyglotte Selfmademan Prof. Morris Zapp in David Lodges Roman "Schnitzeljagd" nach überstandener Todesgefahr sagt "der Tod ist das einzige Konzept, dass sich nicht dekonstruieren läßt" und das (Über)Lebensglück aufs eigene Konto bucht, gibt er vor, noch nie etwas vom Osterevangelium gehört zu haben. Ob der Tod sich dekonstruieren lässt, ist die offene Frage des Osterdramas, in dem die Subjekte als sub-jecte persönlicher Verantwortung geführt werden.

Derrida beschrieb die Universität als den Ort, an dem nichts außer Frage steht: "Die unbedingte Universität hat ihren Ort nicht zwangsläufig, nicht ausschließlich innerhalb der Mauern dessen, was man heute Universität nennt. Sie wird nicht notwendig, nicht ausschließlich, nicht exemplarisch durch die Gestalt des Professors vertreten. Sie findet statt, sie sucht ihre Stätte, wo immer diese Unbedingtheit sich ankündigen mag."[3]

"Man muss ausdrücklich hervorheben, dass konstative Äußerungen und rein wissensvermittelnde Diskurse, in der Universität und wo immer, als solche nicht der Ordnung der profession in diesem strengen Sinne angehören ... Der Professionsdiskurs überschreitet die Ordnung des reinen techno-wissenschaftlichen Wissens im bindenden Übernehmen einer Verantwortung ... Welches Verhältnis besteht zwischen lehren, öffentlich erklären, sich bekennen zu ... und arbeiten? In der Universität? In den Humanities?"[4]

"Die dekonstruktive Aufgabe der Humanities wird sich nicht in den überlieferten Grenzen der Fachbereiche halten lassen ... Diese Humanities werden die Grenzen zwischen den Disziplinen überscheiten, ohne darum die Spezifizität jeder einzelnen Disziplin in das, was man häufig in einem eher undurchsichtigen Sinne als Interdisziplinität bezeichnet, oder auch in das aufzulösen, was von einem Begriff gebündelt wird, mit dem sich gleichfalls alles machen lässt, dem der ‚cultural studies’. Aber ich kann mir sehr gut vorstellen, dass auch Fachbereiche für Genetik, für Naturwissenschaften, für Medizin und selbst für Mathematik die Fragen ernst nehmen, die ich hier aufgeworfen habe - und dass sie es in ihrer Arbeit selbst tun. Das gilt ... neben der Medizin vor allem von den Fachbereichen für Recht und für Theologie oder Religionswissenschaften."[5]

Die fünfte seiner "sieben programmatischen Glaubensbekenntnisse" lautete: "Ein Leitfaden ... könnte heute die Frage sein, was geschieht, wenn die profession de foi, das Glaubensbekenntnis (ja der Glaubensberuf) des Professors nicht bloß die Anwendung eines Wissens ... zeitigt ... (das) die Grenzen des akademischen Bereichs oder der Humanities nicht unberührt (lässt). Wir sind fraglos Zeugen des Endes einer bestimmten Gestalt des Professors und seiner unterstellten Autorität."[6]

Jacques Derrida, der am 10. Oktober im Alter von 74 Jahren starb, war und ist Vorbote einer bestimmten neuen Gestalt gelehrter Profession.

Anmerkungen
  1. Th. W. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die philosophischen Antinomien, Frankfurt 1990, 21.
  2. K. Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung von 1922), Zürich 1989, 35.
  3. Jacques Derrida, Die unbedingte Universität, Frankfurt 2001, 77.
  4. Ebd. 33-36.
  5. Ebd. 65.
  6. Ebd.70.

© Bernd Beuscher 2004
Magazin für Theologie und Ästhetik 32/2004
https://www.theomag.de/32/bb4.htm

Der  Buch-per-Klick-Bestell-Service