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Magazin für Theologie und Ästhetik


Rahmungen

Die Ikonas von Sarkis

Andreas Mertin

"Denn nicht die Kirche macht heutzutage das Bild,
sondern das Bild macht die Kirche"
Eberhard Roters
Rahmungen

Wann immer man einem Werk der Bildenden Kunst begegnet, findet diese Begegnung in einem bestimmten, weitgehend definierbaren und rekonstruierbaren Rahmen statt. Wer etwa die aktuelle Ausstellung von SARKIS - DIE 148 IKONAS im Museum Kunst Palast in Düsseldorf aufsucht, weiß durch die Rahmung eines Kunstmuseums von vorneherein, dass er keinen Ikonen im klassischen religiösen Sinne begegnen kann, denn ein Kunstmuseum als Rahmung soll ja gerade die religiöse Rezeption von künstlerischen Werken verhindern und deren ästhetische Erschließung forcieren - auch wenn das manchem Besucher historisch wie aktuell nur mühsam beizubringen ist.

Schon klassisch ist Goethes Beschreibung seines Besuchs der Dresdner Schlossgalerie: "Ich trat in dieses Heiligtum und meine Verwunderung überstieg jeden Begriff, den ich mir gemacht hatte. Dieser in sich selbst wiederkehrende Saal, in welchem Pracht und Reinlichkeit bei der größten Stille herrschten, die blendenden Rahmen, alle der Zeit noch näher, in der sie vergoldet wurden, der gebohnerte Fußboden, die mehr von Schauenden betretenen als von Arbeitenden benutzten Räume gaben mir ein Gefühl der Feierlichkeit, einzig in seiner Art, das umso mehr der Empfindung ähnelte, womit man ein Gotteshaus betritt, als der Schmuck so manchen Tempels, der Gegenstand so mancher Anbetung hier abermals, nur zu heiligen Kunstzwecken aufgestellt schien."[1]

Wer also die Ausstellung von SARKIS im Ehrenhof der Kunst in Düsseldorf aufsucht, muss sich fragen, ob er hier zu heiligen Kunstzwecken zusammengekommen ist oder dazu, Ikonen des 20. und 21. Jahrhunderts anzubeten oder zu verehren. Vieles hängt davon ab, wie man die Rahmung "Kunstmuseum" und die Rahmung der Werke im Kunstpalast wahrnimmt. Kann es überhaupt eine religiöse Rahmung der zeitgenössischen Kunst nach dem Durchgang durch die Avantgarden des 20. Jahrhunderts, kann es überhaupt noch Kunst-Ikonen (jenseits feuilletonistischer Zuschreibungen) geben? Sind wir nicht von diesen Traditionen unendlich weit entfernt?

Wie Erich Franz 1992 mit der Ausstellung "Das offene Bild" in Münster gezeigt hat, vollzieht sich der Bruch mit der kunsthistorischen Tradition in zwei Schritten, zwei revolutionären Brüchen. In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts wendet sich die künstlerische Avantgarde gegen den Gedanken der Repräsentation, der Beziehung der Kunst auf außerästhetische Gegenstände: "Man sah also im Bild nicht mehr Menschen, Landschaften, Dinge, gebildet mit Farben, Flächen und Linien, sondern man sah: Farben, Flächen und Linien, anhand von Menschen, Landschaften und Dingen in der Fläche organisiert." Den zweiten revolutionären Umbruch stellt die Zerstörung der Werkkategorie, die Öffnung des Rahmens dar. Das Kunstwerk wird zum offenen Bild: "Wie zuvor die bildnerischen Mittel gegenüber dem Gegenstand selbständig wurden, zeigen sich nun die künstlerischen Prozesse unabhängig gegenüber dem Werk."[2] Kunst des späten 20. Jahrhunderts ist in einem mehrfachen Sinne rahmenlos, sie ist den Rahmen los.

Aber auch wenn Bilder in der künstlerischen Moderne zunehmend ohne Rahmen auftraten, so waren sie doch durch die gesamte Geschichte hindurch nicht ohne Rahmung. Das wurde schon früh deutlich: die Libri Carolini, verfasst von den Hoftheologen Karls des Großen als westliche Stellungnahme zum byzantinischen Bilderstreit oder sagen wir präziser Ikonenstreit, stellten schon damals die zentrale Frage: Kann die Wahrheit der Malerei bzw. der Kunst von ihrer Rahmung abhängen? Ihr visuell-argumentatives Beispiel war ein Bild mit einer Frau und einem Kind. Provozierend fragten die Libri Carolini: Kann die Wahrheit der Kunstwerke davon abhängen, in welchem Rahmen sie gelesen werden? Ist der Kniefall vor einem Werk vielleicht davon abhängig, wen das Bild darstellt: Venus mit Cupido oder Maria mit Jesus? Die Schlussfolgerung der Libri Carolini vor 1200 Jahren: Der einzig zulässige Rahmen der Beurteilung der Kunst ist der Rahmen der Kunst selbst. Das ist eine bemerkenswerte Einsicht, die Umberto Eco und auch Bazon Brock dazu verleitet hat, in dieser Bestimmung die Geburt der Idee der modernen autonomen Ästhetik zu sehen.

Man kann diese Beschreibung aber auch so lesen, dass es zu jedem Kunstwerk verschiedene Rahmungen gibt, politische, religiöse, kunsthistorische, ästhetische und natürlich noch viele andere. Und vermutlich hat jede dieser Rahmungen ihre eigene Plausibilität und Logik, wenn auch nicht jeweils denselben Anspruch auf historische Wahrheit. Aber man wird nicht umhin kommen, jeweils über den Rahmen, in dem einen ein Kunstwerk begegnet, nachzudenken.

Der Reformator Zwingli in Zürich legte im 16. Jahrhundert nach seinem Selbstverständnis als Welt- und Kulturbürger auf die Rahmung der Bilder außerordentlichen Wert. Als es darum ging, was mit den Altar- und Kultbildern geschehen sollte, die man im Rahmen des reformierten Bildersturms aus den Kirchen entfernt hatte, empfahl er die Einrichtung eines Museums: Was im Kontext einer Kirche religiös gefährlich und verboten war, konnte im Museum doch dem ästhetischen Genuss der Bürger und der kulturellen Bildung dienen. Und so wurde gut 166 Jahre vor der Öffnung des Louvre in Zürich ein erstes frei zugängliches Museum in einer stillgelegten Kirche eingerichtet. Offensichtlich liegt es nicht am Bild selbst, sondern an seiner Rahmung, ob es ein zu bekämpfendes Kultbild oder ein zu genießendes Kunstwerk ist.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, ein Zeitgenosse Goethes, war nicht gewillt, der Kunst einen religiösen Deutungsrahmen zuzubilligen. Ganz objektiver Weltgeist, dekretierter er: "Die Kunst in ihren Anfängen lässt noch Mysteriöses, ein geheimnisvolles Ahnen und eine Sehnsucht übrig; weil ihre Gebilde noch ihren vollen Gehalt nicht vollendet für die bildliche Anschauung herausgestellt haben. Ist aber der vollkommene Inhalt vollkommen in Kunstgestalten hervorgetreten, so wendet sich der weiterblickende Geist von dieser Objektivität in sein Inneres zurück und stößt sie von sich fort. Solch eine Zeit ist die unsrige - Mögen wir die griechischen Götterbilder noch so vortrefflich finden und Gottvater, Christus, Maria noch so würdig und vollendet dargestellt sehen: es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr."[3] Tatsächlich würden wir jeden, der angesichts der im Düsseldorfer Museum gezeigten Madonnenstatuen auf die Knie gefallen wäre oder der sich vor den Ikonen von SARKIS bekreuzigt hätte oder gar Farbe von den Zeichnungen von Joseph Beuys gekratzt hätte, um sie ins Essen zu mischen, auf dass er unverwundbar würde - wir würden jeden, der das täte, als ver-rückt ansehen.

So muss es jedenfalls der Kölner Museumsleitung gegangen sein, die vor längerer Zeit beobachten musste, wie eine alte Frau, die zeitlebens vor einem Altarbild einer Kölner Kirche gebetet und ihre Sorgen vorgetragen hatte, nun - da ihr Altarbild als schützenswertes Kulturgut in ein Kölner Museum überstellt wurde - unverdrossen ins Museum ging, um dort ihre Gebete abzuhalten und ihre Sorgen im Zwiegespräch mit dem Altarbild an neuem Standort und im veränderten Kontext vorzutragen. Nach kurzer Beratung beschloss die Museumsleitung, der alten Frau dieses Verhalten zu untersagen, denn religiöse Anbetung ist - anders als ästhetische Anbetung bzw. Verehrung - in einem Kunstmuseum nicht angebracht, man kann auch sagen: es ist die falsche Rahmung.

Das hat aber nicht verhindert, dass die Künstler des 20. Jahrhunderts sich selbst auch als Gottsucherbande geriert haben, wie Bazon Brock süffisant feststellte, dass auch für sie der Satz galt: "Unsere Wünsche wollen Kathedralen bauen" - was man in diesem Kontext übersetzen kann mit: "Unser Begehren will Ikonostasen bauen". Und gerade die bedeutenden Künstler des 20. Jahrhunderts wie Malewitsch mit seinem Schwarzen Quadrat oder Marcel Duchamp mit seinen Readymades haben das getan: sich am Phänomen der Ikone und der Ikonostase abgearbeitet.

Gegenüber den Ikonen der Vergangenheit, wie wir sie seit dem 4. Jahrhundert bezeugt finden, sind die Ikonen und Ikonostasen der Kunst der Moderne aber vor allem eines: subjektiv, idiosynkratisch, privat oder wie in unserem Falle des Künstlers SARKIS geradezu intim. Das entspricht nicht nur der Kunstentwicklung, sondern natürlich auch der Entwicklung der Religion in der Neuzeit. Auch sie entwickelte vom Objektiven (von der Theologie von oben) zum Subjektiven (zur Theologie von unten).

Dass Ikonen wie in diesem Fall von Künstlern gemacht und nicht von Kirchen in Auftrag gegeben werden, hat ebenfalls seine Logik, die wir bei vielen anderen Künstlern auch nachvollziehen können. "Denn nicht die Kirche macht heutzutage das Bild, sondern das Bild macht die Kirche" - wie der Kunsthistoriker Eberhard Roters einmal höchst zutreffend schrieb. Das heutige Bild, so meinte er, "spricht nicht die Menge einer Gemeinde an, sondern den einzelnen, denjenigen, der mit sich und dem Bild allein sein will. Auch dieser Zug zur Individualisierung ist ein Charakteristikum der spezifischen Religiosität in der Kunst unserer Zeit."

Alles, was ich bisher angeführt habe, führt uns direkt zur Kunst des armenisch-türkischen Künstlers SARKIS. Wer die Düsseldorfer Ausstellung betritt, stößt zunächst nicht auf Arbeiten von SARKIS, sondern auf eine von SARKIS hergestellte Konstellation. Er hat im Kontrast zu seiner eigenen Arbeit aus dem Depot des Museums 24 Madonnen- und Heiligenstatuen aus der Kunstgeschichte ausgewählt und im Ausstellungsraum platziert. Darüber hinaus hat er 24 Zeichnungen seines Freundes Joseph Beuys an die Wände rund im seine Arbeit gehängt. Und mitten drin stößt der Besucher dann auf eine lange Holzkiste, eine Art hölzernen Container mit rundherum 24 Fenstern, durch die er ins Innere der Konstruktion blicken kann. Dort sieht er dann die 148 IKONAS, Rahmen, die SARKIS auf Flohmärkten oder bei anderen Gelegenheiten gefunden hat und die ihn dann zu künstlerischen Bearbeitungen inspiriert haben. Die IKONAS sind eine Art höchst intimes künstlerisches Tagebuch, sie verzeichnen den Tod von guten Freunden und die Erinnerung an sie, sie verknüpfen Werke der Kunstgeschichte wie Edvard Munchs Schrei mit höchst privaten Erinnerungen des Künstlers. Zugleich sind die Kunstwerke wie ein komplexes Zeichensystem miteinander vernetzt, verbunden durch mit Aquarellfarben hergestellte Fingerabdrücke (quasi in der Art von Berührungsreliquien geheiligt). Jede der IKONAS bekommt durch den Künstler SARKIS und nur durch ihn eine Bedeutung. Es ist kein bloßes Notationssystem wie bei On Kawara oder bei Hanne Darboven, sondern eine höchst subjektive Auswahl an bedeutungstragenden Rahmen.

"Sarkis' IKONAS sind keine Kultbilder im traditionellen Sinne", so heißt es in der Ankündigung dieser Ausstellung, "sondern zarte Aquarelle, Zeichnungen und Collagen, die oftmals mit anderen Materialien wie Wachs, Fotografien oder Stoff kombiniert sind. Die seit 1985 entstandenen Arbeiten ähneln Tagebuchnotizen: Sie spiegeln persönliche Erlebnisse und Gedanken wider. Ein besonderer Reiz der IKONAS besteht im Zusammenspiel der fein ausgeführten Aquarelle mit ihren sorgfältig ausgewählten Rahmungen, die im spannungsvollen Bezug zueinander stehen. Die formal sehr unterschiedlichen Rahmen, die Sarkis vorwiegend in seiner Geburtsstadt Istanbul und im Elsass erwirbt, dienen als Inspirationsquelle für seine Bilder. Jeder Rahmen bestimmt die Größe und Gestaltung des Bildes, das in seinem Inneren entsteht - Im Gegensatz zu den handwerklich aufwändig gearbeiteten Rahmen, die aus verschiedenen Epochen und Kulturen stammen, ist das Bild selbst sehr reduziert. In seiner Zurückgenommenheit gewinnt es an spiritueller Kraft. Bei der Herstellung der IKONAS ist es Sarkis wichtig, dass diese ihren überaus fragilen Charakter bewahren. Dementsprechend präsentiert er sie im dunklen Ausstellungsraum in einer raumgroßen, von innen erleuchteten Holzarchitektur, die nur von außen durch kleine Fenster einzusehen ist. So kann man die Bilder lediglich aus einer gewissen Distanz betrachten, die keinen direkten Kontakt zulässt. Insofern ist die Inszenierung von Sarkis' IKONAS mit den großen Bilderwänden orthodoxer Sakralräume, den sogenannten Ikonostasen, vergleichbar."[4]

Wer sich in der Ausstellung bewegt, sieht die ehemals religiösen Heiligenstatuen, die nun im neuen Rahmen ästhetisch erfahren werden, sieht die Zeichnungen des Kunst-Schamanen und von einigen wie ein Heiliger verehrten Joseph Beuys, der nun ins Pantheon der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts eingezogen ist und er sieht die religiös durchaus aufgeladene Konstruktion von SARKIS, die den Betrachter zugleich - einer Ikonastase ähnlich - dennoch auf Distanz hält. Ein wenig trägt SARKIS aber auch etwas von jenen Ecken katholischer Kirchen in diese heiligen Hallen der Kunst, in denen Gläubige aus Dankbarkeit für erfahrene Hilfe, aus Erinnerung an höchst Privates, in der Bitte um Zuwendung Dinge zusammentragen und hinterlassen, um im höchst privaten Gespräch mit dem Heiligen zu bleiben.

So gesehen bietet SARKIS ein theoästhetisch gesehen höchst spannendes Crossover von Kunst und Religion, von religiöser und ästhetischer Erfahrung an.

Die Ausstellung SARKIS - Die 148 IKONAS läuft vom 20.11.2004 bis zum 09.01.2005, Di-So 11-18.00h, Mo geschlossen.

Anmerkungen
  1. JWv Goethe, zit. nach Walter Grasskamp, Museumsgründer und Museumsstürmer. Zur Sozialgeschichte des Kunstmuseums. München 1981, S. 39.
  2. Erich Franz: Die zweite Revolution der Moderne in: ders. (Hg.), Das offene Bild (Ausstellungskatalog), Stuttgart 1992, S. 12f.
  3. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. 2 Bände. Berlin 4/1985. Band 1, S. 110
  4. Ausstellungstext

© Andreas Mertin 2004
Magazin für Theologie und Ästhetik 32/2004
https://www.theomag.de/32/am133.htm