Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Magazin für Theologie und Ästhetik


Videoclips XX

Van Gogh oder: Für und wider die Ketzer

Andreas Mertin

Submission - Part I

Nur die Wenigsten, die sich über Theo van Gogh, seine Ermordung und seine Provokationen geäußert haben, dürften tatsächlich Submission, den inkriminierten Kurzfilm über das Leid geschlagener und unterdrückter islamischer Frauen, gesehen haben. Dabei ist dieser Film im Internet frei zugänglich und jeder kann sich - wenn er denn nur will - ein eigenes Urteil bilden.

  • Nachtrag: Auf Wunsch der Produktionsgesellschaft wurde der bisher frei zugängliche Film ab dem 3. Dezember 2004 aus dem Internet genommen. Das ist einerseits zwar legitim, andererseits aber auch bedauerlich, da so das Anliegen des Films gerade nicht mehr öffentlich nachvollzogen werden kann.
  • Nachtrag zum Nachtrag: Inzwischen ist der Film über Google-Video wieder erreichbar.

Submission ist ein formal höchst interessanter und eigenständiger Film. Auffällig ist allerdings, dass Theo van Gogh - ganz in der Tradition der bildkritischen Religionen - der Macht der Bilder nicht wirklich traut. Das Wort entscheidet - nicht das Bild. Der gesamte Kurzfilm ist von Musik und Sprache geradezu überlagert. Sie sind durchaus kongenial zum visuellen Inhalt - die Frage aber bleibt, ob der Regisseur Theo van Gogh nicht eben nur optische Illustrationen zum erzählten Text liefert. Das wäre seinem Ahn Vincent van Gogh sicher nicht passiert. Die Macht des Bildes - wiewohl sie bei dem konkreten Werk van Goghs den Stein des Anstoßes bildete - spielt in Submission nur eine sekundäre Rolle. Die Stimme - die Sprache - das erzählte Leid - die Untertitel - all dies überlagert das Bild. Es ist nur eine visuelle Zuspitzung, es bringt den narrativen Text auf den Punkt - mehr nicht - nicht weniger.

Und doch hat dieser Kurzfilm eine suggestive Macht, eine Intensität, eine Rätselhaftigkeit, die ihn vor anderen Werken auszeichnet. Das ist sicher nicht nur der Authentizität des Dargestellten geschuldet. Niemand wird bestreiten können, dass sich der Film auf reale Vorkommnisse bezieht und diese metaphorisch zuspitzt. Die Faszination entsteht allerdings auch aus einer Mischung der Stilarten, um nicht zu sagen Kulturen, die sich ganz unterschiedlicher Genre und Motive bedient. Die suggestiv eingesetzten akustischen Peitschenhiebe haben viel von der routinierten Maschinerie Hollywoods, die direkte Erzählform manches vom Autorenkino, der Symbolismus viele Gemeinsamkeiten mit asiatischem Kino. Als Gestaltungsform ist dieser Kurzfilm multikulturell.

Als Videoclip - nehmen wir Theo van Goghs Kurzfilm einmal als solchen - erzählt Submission nichts anderes als etwa der Clip von Babyface zu "How come, how long" über das Schicksal geschlagener Frauen in amerikanischen Städten, über die Ignoranz der Umwelt, das Schweigen der Nachbarn, das Desaster einer Kultur, einer sich christlich nennenden Nation, die derartiges zulässt. Nur dass van Goghs Arbeit im Unterschied zum gerade erwähnten Clip einen klaren Adressaten hat: den Islam, oder sagen wir präziser: jenen Teil des Islam, der Praktiken wie die in Submission gezeigten nicht nur toleriert, sondern gut heißt.

Free speech

Freie Rede, noch dazu als Grenzen auslotende künstlerische Rede, ist anscheinend nicht nur für Islamisten schwer auszuhalten. Offenkundig war Theo van Gogh ein sprachlicher Grenzgänger, der sich all zu oft nicht nur auf, sondern jenseits der Grenze zum guten Geschmack und zum begründeten Urteil aufhielt. Seine pauschalen antiislamischen, antichristlichen, antijüdischen Äußerungen mussten Widerspruch hervorrufen. Sie zielten auf Auseinandersetzung, waren provokativ gemeint und nahmen die bewusste Grenzverletzung und die Verletzung von Gefühlen in Kauf. Derartige Provokationen sind im Rahmen einer weniger toleranten, als vielmehr repressiv gleichgültigen Kultur unter Umständen durchaus angebracht.

Meinungsfreiheit ist das Recht jedes Menschen, seine eigene Meinung ohne Angst vor Repressalien äußern zu dürfen. Es ist ein wichtiges Menschenrecht. In der Regel finden diese Rechte ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre. In Deutschland ist das Recht eingeschränkt bei persönlichen Beleidigungen, bei Volksverhetzung, bei Religionsbeleidigungen und einigem mehr. Was dabei gesagt werden darf und was nicht, steht nicht ein für alle mal fest, sondern ist höchst variabel. Daher bedarf es gesellschaftlicher Auseinandersetzungen darüber, was z.B. religiöse Gefühle in einem justitiablen Sinne verletzt und was das so genannte religiöse Gefühl hinnehmen muss, weil es durch die Meinungsfreiheit gedeckt ist. Grenzgänger wie Theo van Gogh erlauben es, ein deutliches Gefühl für das Sagbare und das Unzumutbare zu entwickeln. Sie überschreiten Grenzen nicht zuletzt, um Grenzen bewusst zu machen.

Im vorliegenden Fall des Films Submission waren die Grenzen allerdings nicht überschritten, der Film ist keinesfalls grenzwertig, es sei denn, man ist bereit, die Grenzziehungen so früh anzusetzen, dass ein kontroverser Dialog über religiöse Kultur gar nicht mehr möglich ist. Vergleicht man Submission etwa mit Lars van Triers pamphletartiger Auseinandersetzung mit dem Calvinismus in "Breaking the waves" oder Madonnas Auseinandersetzung mit Religion in "Like a prayer", so bleibt Theo van Gogh durchaus im Rahmen der kritischen Auseinandersetzung mit den Folgen von Religion(en) auf die Lebenswelt.

In seinem höchst lesenswerten Artikel "Vor den Trümmern des großen Traums" fasst Leon de Winter in der ZEIT zusammen: "Für traditionelle Muslime war das ein schockierender Film. Für das nichtmuslimische niederländische Publikum, das provokanteres Material gewöhnt war, war der Schock erträglich. Nach van Goghs Maßstäben war es ein moderater Film". Aber, darauf weist Leon de Winter hin, vielleicht war van Gogh auch gar nicht das Ziel seines Mörders, sondern "nur" das Mittel: "Auf dem Schreiben, das der Mörder auf van Goghs Leiche zurückließ, wird dieser gar nicht erwähnt. Offenbar wurde er nicht als extremer Repräsentant einer - in den Augen eines fanatischen Muslimen - libertären, hedonistischen, gottlosen, profanen Gesellschaft umgebracht (in der die Muslime 'gedemütigt' werden), sondern als symbolischer Vertreter von Ayaan Hirsi Ali."

Ayaan Hirsi Ali wurde in Somalia geboren. Im Kindesalter brach ihr ein Koranlehrer den Schädel, als er sie züchtigte. Sie erhielt eine orthodoxe islamistische Erziehung und wurde ohne die geringste Betäubung beschnitten. In Kenia besuchte Hirsi Ali die Schule. Im Alter von 23 Jahren sollte sie an einen Neffen aus Kanada verheiratet werden, den sie noch nie gesehen hatte. Auf ihrer Reise via Deutschland nach Kanada flüchtete sie in die Niederlande, wo sie Asyl beantragte und erhielt. Nach kritischen Äußerungen zum Islam wurde sie mit dem Tode bedroht und lebt seitdem an einem unbekannten Ort. Hirsi Ali schrieb das Script zu Submission und sprach die Stimme aus dem Off.

"Indem du deine Religion aufgegeben hast, hast du dich nicht nur von der Wahrheit abgewandt, du hast dich auch in die Armee des Feindes eingereiht", schreibt der Mörder Theo van Goghs in seinem Brief an Ayaan Hirsi Ali, den er dem Ermordeten buchstäblich an den Leib heftete. Dualistische Welten zeichnen aber nicht nur muslimische Fundamentalisten aus, sie sind ein Charakteristikum von Fundamentalismus schlechthin. Man kann leicht an den Aufgeregtheiten der bundesrepublikanischen Gesellschaft in den letzten 50 Jahren die religiöse Intoleranz ablesen, die von Christen gegenüber dissidenten oder als dissident wahrgenommenen kulturellen Produktionen geäußert wurden: Man denke nur an Hildegard Knef in "Die Sünderin" (1950), Ingmar Bergmanns Film "Das Schweigen" (1963), Monty Pythons "Das Leben des Brian" (1979), Herbert Achternbuschs "Das Gespenst" (1982) oder Martin Scorseses "Die letzte Versuchung Christi" (1988). Sie alle wurden von Christen weniger diskutiert als inkriminiert und mit Zensur bedroht. "Fundamentalismus, der als eine grundsätzliche Gegenbewegung gegen die Moderne gesehen werden kann, sieht die grundlegenden Prinzipien einer Religion durch Relativismus, sexuelle Freizügigkeit, Pluralismus, Historismus, Toleranz und das Fehlen von Autorität gefährdet. Er propagiert die Rückkehr zu traditionellen Werten, striktes Festhalten an religiösen Dogmen." [Wikipedia Art. Fundamentalismus]

"Toleranz ist ein Selbstzweck. Dass die Gewalt beseitigt und die Unterdrückung so weit verringert wird, als erforderlich ist, um Mensch und Tier vor Grausamkeit und Aggression zu schützen, sind die Vorbedingungen einer humanen Gesellschaft. Eine solche Gesellschaft existiert noch nicht - Der Toleranz bedarf es zunächst und vor allem um der Ketzer willen - der geschichtliche Weg zur humanitas erscheint als Ketzerei: Ziel der Verfolgung durch die bestehenden Mächte." Herbert Marcuses Sätze aus seinem Aufsatz zur repressiven Toleranz sind von unverminderter Aktualität.

Ketzerei

Marcuse fügt hinzu: "Indessen ist Ketzerei als solche noch kein Zeichen für Wahrheit." Das ist in einem viel ursprünglicherem Sinne wahr, als es zunächst erscheint. Denn vielleicht ist "Ketzerei" das eigentliche Problem, um das es in den aktuellen Diskursen geht. Allemal heißt die Frage: Wie viel Ketzerei können wir uns in einer pluralistischen Gesellschaft leisten? Übersetzt man "Ketzer" (griech. katharós: rein) als "Reiner", dann wird das Problem schlagartig deutlich: Wie viele auf ihre Reinheit Bedachte kann sich eine pluralistische Gesellschaft leisten? Und wann und wodurch wird die Reinheit des Einzelnen wie der Gesellschaft gefährdet? Und was kann und was darf er bzw. sie dagegen tun? Die politische Reaktion in Deutschland wollte gerade im Gegenzug zu den Ereignissen in den Niederlanden die Reinheit der christlich-abendländischen Werte durch Ausgrenzung oder Integration retten. Das ist weniger eine politische, als vielmehr eine religiöse Reaktion und zeigt die bisher nicht vollzogene Trennung von Kirche und Staat.

In vielen Religionen ist die kultische Reinheit die Voraussetzung für die Kontaktaufnahme mit dem Göttlichen, für das Betreten heiliger Stätten und für die Teilnahme an kultischen (gottesdienstlichen) Handlungen. Bereits in der frühen Religionsgeschichte galt asketisches Leben als rein; kultisch unrein machte der Kontakt mit Schmutz, Blut, Toten, bestimmten Tieren, nicht zur eigenen Kultgemeinschaft gehörenden Menschen. Im Gegenzug gibt es eine Tendenz zur Ausgrenzung und zur Vernichtung des Unreinen, Schmutzigen und Fremden. Unschwer ist diese Beschreibung auch auf die Religion des Nationalen zu übertragen. In einer modernen Gesellschaft ist Reinheit vermutlich nur um den Preis der radikalen Selbstgettoisierung oder der totalitären Durchsetzung zu haben - und selbst dann ist sie immer wieder höchst gefährdet.

In einem elementaren Sinne sind daher nicht Theo van Gogh oder Ayaan Hirsi Ali die Ketzer, sondern ihre fundamentalistischen Gegner, die sich von der pluriformen Kultur, den offenen Diskussionen und freien Meinungsäußerungen in ihrer Reinheit bedroht sehen.


© Andreas Mertin 2004
Magazin für Theologie und Ästhetik 32/2004
https://www.theomag.de/32/am131.htm