Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Magazin für Theologie und Ästhetik


Die schönsten Kurzfilme der Welt

Filmische Momente bei den 50. Kurzfilmtagen von Oberhausen

Michael Girke

Menschen, die in fremden Ländern Glück suchen und Glück aufs Spiel setzen; die mit Schlauheit und Leidenschaft das launenhafte Leben meistern; Menschen, die so handgreiflich nah erscheinen in ihren Lastern und Tugenden und stets umgeben sind von ungreifbar Fremdem. Früher hätten solche Sätze Hollywoods künstlichstes Genre beschrieben, den Abenteuerfilm; heute handeln sie von Realität, wie man sie nur in Kurzfilmen aus Oberhausen zu sehen bekommt.

Immer wieder zeigt Marjoleine Boonstras "Britanya" Lastwagen am nächtlichen Grenzübergang. In ihnen verbergen sich vielleicht illegale Flüchtlinge aus islamischen Ländern. In Nachrichten- und Magazinsendungen markieren solche Bilder den Einbruch des Fremden, die ökonomische Bedrohung. Sie sind Zeichen der Zeit. Boonstra dokumentiert nicht nüchtern, ihr Film ist ein Protest gegen Sachlichkeit, die Menschen herabwürdigt, sie zu Gegenständen und statistischen Zahlen macht.

Wie Realität sich eindrückt ins Bild und als Film zum Ausdruck wird; Boonstras Mittel spotten in ihrer Einfachheit jeder hochtrabenden Filmtheorie. Schlafende Körper, dazu orientalische Gesänge, glaubensgetränkt; das genügt, um verständlich zu machen, aus welchem jahrhundertealtem Empfinden, Lieben und Leiden die Flüchtlinge einen Schritt ins Neue versuchen.

Mittels eines völlig unzeitgemäßen Mittels überführt Boonstra die aus TV-Dokumentationen gewohnten Bilder sprechender Köpfe der Brutalität: Mit Geduld. Sie schneidet nicht, wenn erwünschte Schlagwörter geliefert sind, sie hört sehr lange zu. Aufmerksame Filmbilder lassen Augen und Ohren so aufgehen, dass Zuschauen zur Tätigkeit des Übersetzens wird. Kurdisch und Arabisch sind nicht nur fremd. Klang, stimmliche Modulation, der Ausdruck der Körper machen spürbar, diese Menschen verlangen nicht nur ein besseres Leben, durch Auswanderung geht Realität, die Halt war, in die Brüche. Und: Die islamische Sehnsucht nach dem Westen ist von einer Tiefe und Hoffnung, die dem hiesigen Selbstverständnis vollständig abhanden gekommen ist.

Das wurde deutlich in der Gesamtschau des Festivals. Sehnsuchtsbilder waren auch das heimliche Thema des deutschen Wettbewerbs. Bei Karin Siegrist/Tina Hennefarth ("Picture Paradise 1-15"), bei Caspar Stracke ("3,48 E/min"), bei Jan Verbeek ("Wednesday Night in Tokyo"), bei der Wettbewerbssiegerin Corinna Schnitt ("Living a Beautifil Life") ging es ums Imaginäre, um Vorstellungen, von denen Menschen bewegt werden, die sie verwirklichen wollen, oder, von denen sie sich gefangen nehmen lassen. Von "Britanya" aus gesehen, wurde das Dilemma deutscher Bilder sichtbar: Professionell, technisch virtuos, theoretisch auf der Höhe haben sie die Welt aus den Augen verloren. Ganze Länder und Kontinente werden von nicht vorhandener Neugier verdunkelt. Es sind Filme wie "Britanya", die Oberhausens Brisanz ausmachen: Dieses Filmfestival ist Kritik von essentiellen Teilen der Realität gegen das Übersehenwerden.

Geschichtsunterricht

In "Die Innere Sicherheit", Christian Petzolds Film zum RAF-Gespenst, geht die junge Tochter der flüchtigen Terroristen einmal aus Neugier in eine Schulstunde. Dort läuft ein Dokumentarfilm über den Holocaust, "Nacht und Nebel" von Alain Resnais. Mit diesen Bildern legt Petzold eine Spur zu 1968, liefert ein Motiv für den Aufstand dieser Generation gegen ihre in die Nazi-Zeit verstrickten und dazu schweigenden Eltern. Zugleich hängt greifbar im Kino die Frage der Tochter, die Frage aller Nachgeborenen: Was geht mich das an, was habe ich, bitteschön, mit all diesen Ereignissen vor meiner Geburt zu tun?

"Nacht und Nebel" lief auch dieses Jahr in Oberhausen. Im Rahmen der von Angela Haardt zusammengestellten Reihe zur Festivalgeschichte. Das Programm zum Thema Erinnerungsbilder, der dazu von Christina von Braun gehaltene Vortrag hatten nur wenige Besucher. Das ist ein Symptom. Es ist eine Folge davon, dass Kino in Deutschland heruntergekommen ist zu einem Kampfbegriff gegen das Lernen.

Wer wollte bestreiten, dass der Fall der Mauer im Jahre 1989 Folgen hat, die bis heute jeden deutschen Tag prägen? Luthers Aufstand gegen die zu seiner Zeit offizielle Version christlicher Religion; die Entdeckung Amerikas - 500 Jahre alte Ereignisse, die Teil der Gegenwart sind, in sie hineinwirken. Kein Medium kann wie das Kino, mit seinen bewegten Bildern und Montagen, sichtbar machen, wie Zeit sich zusammensetzt, wie viel Altes im angeblich Neuen steckt. Aber lernen muss man wollen. Ohne einen in der Filmkultur verankerten positiven Lernbegriff, muss Geschichte im Kino kitschiges Spektakel bleiben.

"Weil die Filmkultur am Gymnasium ganz lautlos diejenigen, die 'Nacht und Nebel' nicht mehr vergaßen, von den anderen sonderte. Ich gehörte nicht zu den anderen". Das sind Sätze des französischen Filmkritikers Serge Daney darüber, wie für ihn Cinephilie entstand: In der Absetzung vom bewusstlosen Filmvergnügen. Cinephilie ist jene französische Kinoliebe, die ganz selbstverständlich das Lernen und die Reflexion nicht ausschließt. Oberhausen ist die Festivalgewordene deutsche Verbindung zu dieser Art Kinoliebe. Ob das weiterhin so ist oder nicht, allein daran sollte man das Festival messen. Dass der Kanzler und andere Stars herrschender Ereignissucht vorbeischauten, das Festival als Bühne nutzten und ihm so Überleben sicherten, davon musste der Cinephile keinerlei Aufhebens machen. Ihm bot Oberhausen Sensationen anderer Art. Zum Beispiel Amar Kanwars "To Remember". Stumme Bilder, die zeigen, was die Ermordung Mahatma Ghandis im Jahre 1948 heute nach sich zieht: Heere von Trauernden der 4. Generation. Sichtbar wurde ein nicht bewältigtes kollektives Trauma Indiens, welches das Selbstwertgefühl des Landes bis heute zerreißt.

Man kann "To Remember" einen Kurzfilm nennen. Aus cinephiler Perspektive ist es eine von einem Künstler gemachte individuelle Wahrnehmung der Welt, die dem Betrachter zuwächst, Ausland in ihn einlässt, ihn sensibilisiert. Was nie möglich wäre in Deutschland, gäbe es Oberhausen nicht. Wer eine solche Schule des Sehens verwechselt mit Pauken und Pädagogik, der ist für die Kinoliebe verloren.

Was bringt es, einen alten Film wie Alain Resnais "Nacht und Nebel" auszugraben? In den 50ern griff dieser Film offizielle Tabus an, brach das auferlegte Schweigen zum Holocaust, klagte das Recht der Toten ein nicht verstummen zu müssen, zu zeugen von der ihnen zugefügten Gewalt. Resnais nähert sich Vergangenheit an mit Mitteln der Poesie, zugleich ist er sich den Grenzen des Dokumentarischen äußerst bewusst. Sein Film ist schamvoll. Er maßt sich nicht an, das unfassbare Leid der ermordeten Juden schauspielerisch nachstellen zu können. Und so besteht dieser 50jährige zerkratzte Film aus 40 immer aktuellen Einwänden pro Sekunde gegen Geschichtsfiktionen der Marken Steven Spielberg oder Heinrich Breloer. Diesen alten Film in Oberhausen zu sehen, das war eine Wiederkehr des vom heutigen Filmbetrieb Verdrängten. "Nacht und Nebel" handelt vom Mut des Kinos in die Wirklichkeit einzugreifen und sie gegen alle Widerstände zu verändern.


© Michael Girke
Magazin für Theologie und Ästhetik 30/2004
https://www.theomag.de/30/mg3.htm