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Magazin für Theologie und Ästhetik


Zwischen der Leichtigkeit des Seins und der Unaushaltbarkeit des leiblichen Todes

Ein Kapitel zur abendländischen Theorie des Körpers am Beispiel der Entwicklungsgeschichte westlicher Reinkarnationsvorstellungen*

Hans Christoph Stoodt

Die Fragestellung: Kannibalismus - aktuelle Version

Buch zur Auseinandersetzung mit der Ausstellung "Körperwelten"Wir treffen uns am heutigen Abend unter dem Eindruck der zur Zeit in Frankfurt stattfindenden Ausstellung "Körperwelten", deren Initiator "Kunst und Wissenschaft" als Begründung dafür bemüht, wie er dazu kommt, unter mehr als dubiosen Umständen in seine Verfügung gekommene Leichen und Leichenteile zur Schau zu stellen und gegen Geld sehen zu lassen. Ein wie auch immer gearteter Begriff von Kunst, der mit den Leichen menschlicher Wesen operiert, ist allerdings einfach unvorstellbar. Und für die wissenschaftliche Arbeit, soweit sie Leichenteile unabwendbar erfordert, also für die anatomische Forschung und Lehre, stehen die dementsprechenden Institutionen schon lange zur Verfügung und werden von niemandem in Frage gestellt.

Wir können deshalb einfach beiseite lassen, welche Motive den Leichenschau-Aussteller außer dem platten Geschäft möglicherweise noch umtreiben mögen. Wichtiger ist die Frage, was bis heute geschätzte 13 Millionen Menschen dazu bewegt hat, sich seine Ausstellung anzusehen und damit bei Lichte besehen an einem Akt des Kannibalismus teilzunehmen. Denn darum handelt es sich ohne Frage. Wenn Kannibalismus das konsumierende Benutzen eines fremden menschlichen Körpers ist, dann handelt der Aussteller als Kannibale in einem weiteren, abstrakten Sinne: er nutzt mithilfe der seine Schau ansehenden Menschen Leichenteile zum Zweck seines Geschäfts, seiner wirtschaftlichen Bedürfnisbefriedigung. Dass dies nicht mehr, wie in früheren Kulturen, durch direkten Verzehr, sondern hochgradig vermittelt und arbeitsteilig geschieht, ändert nichts am grundlegenden Tatbestand.

Damit entsteht die Frage nach den notwendigen Voraussetzungen in den Köpfen und Herzen der Besucherinnen und Besucher, die gegeben sein müssen, sich auf diese Weise an der Nutzung der Leichenteile ihrer ehemaligen Artgenossen beteiligen zu können. Denn es muss ja eine besondere Beziehung zum menschlichen Körper überhaupt vorhanden und tief verankert sein, um ihn dergestalt "zweckentfremden" zu können - eine Formulierung, die sofort die Frage aufwirft, ob und wie ein menschlicher Körper überhaupt zu verbrauchendes, also Konsum-Mittel zum Zweck eines anderen Menschen sein kann und darf. Kannibalismus gilt, selbst wenn er unter den besonderen Bedingungen der Überlebenden eines Flugzeugabsturzes oder eines Schiffbruches geschieht, noch immer als machtvolles kulturelles Tabu, gesichert durch die Grenze des Ekels und durch die gesellschaftliche Ächtung aller, die sie überschreiten - man denke nur an den derzeit vor Gericht stehenden "Kannibalen von Rothenburg" oder an die perverse Nutzung der Haut ermordeter KZ-Häftlinge für die Herstellung von Lampenschirmen durch die SS.

Handelt es sich dabei aber um sofort zu erkennende und öffentlich als solche wahrgenommene Grenzfälle menschlichen Verhaltens, so sind wir bei der Ausstellung "Körperwelten" in der so genannten Mitte der Gesellschaft, deren Mitglieder offenbar in beträchtlicher Zahl nichts dabei finden, eigens für sie hergerichtete und ausgestellte Leichenteile unklarer Herkunft gegen Geld anzuschauen.

Das erfordert eine Nachfrage. In den letzten Wochen ist in Frankfurt, wie übrigens überall, wo diese Ausstellung bisher gezeigt worden ist, auf den verschiedensten Ebenen über sie diskutiert worden - fast immer kontrovers. In den folgenden Überlegungen möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf einen bislang wenig beachteten Aspekt des abendländischen Nachdenkens über unseren menschlichen Leib und den praktischen Umgang mit ihm lenken - die Frage nämlich, welche Bedeutung dieser Leib und die mit ihm jederzeit gesetzte individuelle Grenze der Endlichkeit unseres Lebens für das hat, was man üblicherweise als Selbstverwirklichung bezeichnet. Dieser Frage gehe ich an der Entwicklung und dem gesellschaftlichen Funktionswandel des spezifisch westlichen Typs der so genannten Reinkarnationslehre nach, also jener Vorstellung, derzufolge der Mensch aus zwei grundsätzlich voneinander zu unterscheidenden Teilen, Leib und Seele, bestehe, deren wichtigerer Kern, die Seele, nach dem leiblichen Tod des Menschen in anderen menschlichen oder auch tierischen Hüllen bis zum Erreichen eines wie auch immer definierten Zieles immer wieder erneut lebe, also inkarniert werde, wodurch natürlich der Leib in der Tat Mittel zu einem höheren Zweck, dem der Seele nämlich, wird. Ich möchte zeigen, dass es in der Geschichte des Westens historisch gesehen zwei grundsätzlich unterschiedliche, ja gegensätzliche Formen dieser Lehre gibt, deren zweite, die bürgerliche, so sehe ich das, bis heute an der Macht zu sein scheint.

Eine Leib und Seele nicht dualistisch auseinander reißende, sondern beide aufeinander beziehende Vorstellung im Rahmen einer Gesellschaft, die eine solche Vorstellung nicht nur als Forderung oder Sehnsucht, sondern als reale Lebensmöglichkeit für alle Mitglieder der Gattung gleichermaßen beinhalten könnte, steht offenbar allen genau dies fordernden Erscheinungen im Pantheon der Ideen und Religionen zum Trotz immer noch aus.

Erster Teil: Die vorbürgerliche Phase

Die religiöse Lage in Europa und in der Bundesrepublik Deutschland wird unübersichtlicher: es ist einerseits eine gängige Vorstellung, dass die religiösen Überzeugungen der Menschen dieses Landes ständig schrumpfen, andererseits blühen seit Jahren im christlichen Bereich, im Bereich traditioneller nichtchristlicher Religionen und vor allem im Spektrum alternativer religiöser Bewegungen immer neue Gruppen und Gemeinden auf. Gerade letztere greifen oft Elemente des Hinduismus und Buddhismus auf, unter anderem besonders die Lehren von Karma und Reinkarnation.

Aber nicht nur in der so genannten esoterischen Ecke wird der leibliche Tod als Grenze des individuellen Lebens in Frage gestellt. Eine Umfrage des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL vom 15. Juni 1992, mit der die damaligen religiösen Überzeugungen der deutschen Bevölkerung erhoben werden sollte, erbrachte unter anderem das Ergebnis, dass damals mehr Deutsche als in einer Vergleichsumfrage aus dem Jahr 1967 zumindest daran glauben, dass es ein Leben nach dem Tode gibt: damals waren es 40%, 1992 50%. Dieser Befund erhält zusätzliche Bedeutung durch die Beobachtung, dass diese Fragestellung eine von nur zweien unter insgesamt 14 zur grundlegenden religiösen Einstellung von 1000 Befragten war, in der die Zustimmung zu den abgefragten religiösen Positionen seit 1967 nicht ab-, sondern zugenommen hatte. Auch wenn man sich kritisch mit Methodologie und Fragestellung der Untersuchung des SPIEGEL auseinandersetzt, belegt dieses Ergebnis eine häufig anzutreffende Einstellung zur Frage des Todes in Verbindung mit Überlegungen zu Reinkarnation der Seele nach dem Tod des Körpers, und zwar zunehmend auch unter Christen. Statistisches Material aus der Mitte der achtziger Jahre belegt, dass zum damaligen Zeitpunkt 21 % aller Europäer unterschiedlicher Religion und Weltanschauung an die Reinkarnation der Seele nach dem Tod des Körpers glauben - heute dürften es eher mehr sein.

Dieser Befund ist auf den ersten Blick umso erstaunlicher, als im offenkundigen Unterschied zu diesem Trend in der Religiosität der Bevölkerung auf der theologischen Ebene die Reinkarnationslehre für das Christentum von ihren Wortführern meist scharf abgelehnt wird. So betont zum Beispiel der lutherische Theologe PAUL ALTHAUS in einem Lexikonartikel zum Thema, weder die Theorie des Karma noch die der Reinkarnation vertrage sich mit christlichem Denken, das gerade die einmalige Einheit des individuellen leib-seelischen Daseins der Menschen lehre, während die Lehre von der Seelenwanderung "den von Gottes Heiligkeit gesetzten Ernst der Geschichte, nämlich ihre Einmaligkeit" einebne. Einmalige Individualität im Rahmen des historistischen Verständnis einer unwiederholbaren Geschichte wird dergestalt in den Rang einer unaufgebbaren und vorgeblich allgemein geteilten dogmatischen Grundentscheidung des Christentums erhoben.[1]

Allerdings war diese scheinbare Selbstverständlichkeit in der Religionsgeschichte des westlichen Christentums in Wahrheit nie unangefochten. Ihre Durchsetzung gegen auch im Westen weit verbreitete Vorstellungen von der Wiederverkörperung der Seelen nach ihrem Tod bedurfte langer Kämpfe und hat nie ganz aufgehört. Diese Vorstellungen sind sowohl in der Religionsgeschichte der zur Zeit der Antike in Westeuropa lebenden Völker, zum Beispiel der Kelten[2], bei Vertretern der klassischen antiken Religion und Philosophie - die bekanntesten Beispiele sind PYTHAGORAS, EMPEDOKLES UND PLAT0[3] - als auch bei den von der Inquisition bekämpften Volksreligionen der westeuropäischen Feudalgesellschaft nachweisbar. Die christliche Theologie in den Vertretern ihres orthodoxen main-streams hat die Reinkarnationslehre sowohl volksreligiöser als auch philosophischer Herkunft seit der Antike in der Tat bekämpft, wobei Dauer und Schärfe dieser Auseinandersetzung allein schon belegen, wie verbreitet die Reinkarnationslehre in vielerlei Gestalt gewesen sein muss. Da die Kirchen- und Religionsgeschichtsschreibung häufig genug Geschichte aus der Sicht der ehemaligen Sieger schreibt, mag es heute so aussehen, als hätten in Antike und Mittelalter nur Minderheiten und Sonderlinge im Westen die Reinkarnationslehre vertreten. L.SCHEFFCZYK zum Beispiel nutzt die von ihm in seinem oben zitierten Aufsatz ausführlich dargestellte Auseinandersetzung der Kirchenväter mit Reinkarnationslehren in der altchristlichen Zeit nicht zu der weiterführenden Fragestellung, woher denn die später zu Häretikern erklärten christlichen Gegner der altkirchlichen Theologen kamen, und wieso sie sich solange behaupten konnten. Schließlich handelte es sich bei ihnen in der ganz überwiegenden Mehrzahl um Christen, deren Theologie erst im Verlauf des Konflikts als unchristlich ausgegrenzt wurde, spätestens seit dem Beginn des vierten Jahrhunderts auch mithilfe staatlicher Machtmittel. SCHEFFCZYK vollzieht diesen Prozess unkritisch ein weiteres Mal nach, wenn er als sein Ergebnis einfach die "wesentliche Verschiedenheit der Denkgestalten und ... weitgehende lnkompatibilität" von Christentum und Reinkarnationslehre konstatiert.[4]

Das blutigste Kapitel in der Geschichte des Konflikts zwischen Kirche / Theologie und den Vertretern der Reinkarnationslehre des Westens war die Auseinandersetzung mit der katharischen Bewegung. Über etwa 200 Jahre lang (ca. 1150 - 1350) brauchte die feudale Kirche, um unter Mobilisierung aller ihrer Mittel: der Inquisition (die zu diesem Zweck überhaupt erst voll ausgebildet wurde) und militärischer Macht, die vor allem in Südfrankreich und Norditalien, also gerade den Zentren des wirtschaftlichen Fortschritts der Zeit mächtig gewordene Bewegung der Katharer zu besiegen und ihre eigene wirtschaftliche und politische Macht, ihre Sicht der Welt und der Lebensformen der Menschen alleinverbindlich zu machen.

Die Katharer als Anhänger einer entschieden dualistischen Weltsicht waren davon überzeugt, dass die gesamte natürliche und soziale materielle Welt eine Schöpfung des Teufels sei, während nur die Seelen der Menschen von Gott geschaffen seien. Alle von den Menschen normalerweise angestrebten Güter: materieller Wohlstand und Besitz, Sexualität, Familie, ja sogar das meiste Essen (nämlich alle Fleisch- und Milchprodukte sowie Eier) werden seither vom Teufel nur benutzt, um die im Lauf einer uranfänglich geschehenen Katastrophe aus ihrer eigentlichem Heimat, dem Himmel, auf die Erde herabgefallenen Seelen über das System der materiellen körperlichen Bedürfnisse an den Körper zu fesseln. Seither kreisten die Seelen im Zyklus von Tod und Wiedergeburt, bis sie irgendwann einmal Befreiung aus der materiellen Welt und dem Gefängnis des menschlichen Körpers fänden. Die Voraussetzung dieser Befreiung sei die Mitgliedschaft in ihrer, der wahren christlichen Kirche, die durch ein besonderes Ritual erworben und durch die spezifische Lebensweise der "Guten Menschen", wie die Katharer sich selber nannten, dauerhaft erhalten werden müsse. Deren Kern bestehe im asketischen Verzicht auf Eigentum, Sesshaftigkeit, Sexualität und die meisten Speisen, also im Kampf gegen die Anhaftung an die materiellen Güter der Welt, in deren Besitz sich der Hauptgegner der Katharer, die feudale Kirche, im reichlichen Maße gesetzt hatte. Der Aufenthalt auf der Erde war nach katharischer Lehre also keine positive Möglichkeit, sich den Himmel zu verdienen, sondern im Gegenteil Strafe für eine von den Seelen im Himmel durch die Verführungskunst des Teufels angezettelte Revolte gegen Gott. Bestand ihr Dasein vor dieser Revolte in einem Zustand unbewegter Harmonie ("pausa", "requies)", so führte ihr neugieriges, vom Teufel veranlasstes Bedürfnis nach Bewegung zur Entfernung aus dem Himmel und zum Sturz auf die Erde, wo sie seither dem Teufel untertan sind. In genau dem Maße, in dem sich die Seelen seinerseits an diesem Aufstand beteiligt hätten, müssten sie nun durch eine kleinere oder größere Zahl von Wiedergeburten auf der Erde büßen, die dadurch zum Strafort der Seelen wird.

Die religionsgeschichtliche Bewertung dieser Bewegung hat bisher überwiegend zu dem Ergebnis geführt, dass der katharische Dualismus und insbesondere seine Reinkarnationslehre kein genuines Produkt des Westens gewesen sein könne. Vor allem seit ARNO BORSTS Untersuchung "Die Katharer" (1953) herrschte die These vor, diese dualistische Ideologie sei zutiefst unabendländisch und müsse demzufolge aus dem Osten stammen. Als Bindeglied dorthin nimmt man im Gefolge BORSTS die auf dem Balkan verbreitete häretische Bewegung der Bogomilen an, durch deren Vermittlung der Katharismus und insbesondere seine Reinkarnationslehre als geschlossenes Lehrsystem überhaupt erst entstanden sei.[5] Dabei übersah aber BORST ebenso wie seine Nachfolger, dass es bisher keinen einzigen zweifelsfreien Quellenbeleg für die Existenz der Reinkarnationslehre, also einem angeblich besonders "unwestlichen" Theorem der Katharer, bei den Bogomilen gibt. BORST und zum Beispiel M.D.LAMBERT rekonstruieren ihre Hypothese eines Imports der dualistischen Bewegung aus dem Osten nach eigenem Bekunden lediglich aus dogmatischen Ähnlichkeiten vorkatharischer Bewegungen des Westens mit den byzantinischen Paulikianern und Bogomilen, nicht aber aus zweifelsfrei belegter östlicher Herkunft des Katharismus als einer dem Westen ursprünglich vermeintlich fremden Bewegung.[6]

In der Bewertung des Katharismus und seiner Reinkarnationslehre als unabendländischem Import aus dem Osten übergehen die Vertreter dieser Hypothese nicht nur den allgemein bekannten religionsgeschichtlichen Tatbestand der oben nur aufgezählten westlichen Beispiele dieser Lehre. Sie folgen mit dieser Hypothese auch der Logik der weiteren Entwicklung dieser Lehre und rechtfertigen sie ein weiteres Mal, lassen gleichsam die Orthodoxie nochmals über die von der mittelalterlichen Kirche ebenfalls als fremde und östliche, nämlich neumanichäische Ketzerei etikettierte katharische Bewegung siegen.

Zweiter Teil: die bürgerliche Phase

Dieser Sieg der Kirche hatte für die weitere Geschichte der Reinkarnationslehre im Westen tief greifende Folgen. Denn obwohl auch nach dieser Zäsur bedeutende westliche Vertreter der Reinkarnationslehre nachzuweisen sind (s.u.), hatte die Kirche doch zunächst den Erfolg, dass es seither hier keine religiöse Massenbewegung mehr gab, die nach dem Vorbild der Katharer das Leben auf der Erde nicht als von Gott gegebene und vom einzelnen Individuum zu verantwortende und gestaltende positive Möglichkeit, sondern als Bußort der dort im Kreislauf der Wiedergeburt gefangenen Seelen thematisierte. Noch schwerer als dieser Tatbestand aber wiegt, dass selbst die späteren westlichen Vertreter der Lehre von einer Wiedergeburt der Seelen in einem entscheidenden Punkt mit der Lehre der römischen Kirche übereinstimmten: in ihrer grundlegend positiven Sicht der Welt als Ort der Bewährung und aneignenden Gestaltung mit dem Ziel individuell selbst zu verantwortender Vervollkommnung des Individuums und der Gattung. Diese Sicht unterschied sie fundamental von der mit Feuer und Schwert ausgerotteten katharischen Theorie, deren Konsequenz ja gerade im Verzicht auf die Anhaftung an die materiellen Güter der Welt als Voraussetzung der Befreiung bestand.

Die Reinkarnationslehre, wie sie in der deutschen Klassik und Romantik, auf die hier als Beispiel hingewiesen werden soll[7], vertreten wurde, entwickelte sich im krassen Gegensatz zur asketischen, auf den Rückzug aus der Welt bedachten Lehre der Katharer im Gegenteil zur Ideologie des sich als räumlich und zeitlich grenzenlos setzenden bürgerlichen Individuums. Schon bei GOTTHOLD EPHRAIM LESSING (1729 - 1781) findet sich dieser Umschlag der westlichen Reinkarnationslehre in eine von ihrer mittelalterlichen Vorgängerin völlig verschiedene, ja gegensätzliche Bedeutung. In seiner geschichtstheologischen Schrift "Erziehung des Menschengeschlechts" folgert Lessing aus seiner Theorie stetiger Aufwärtsentwicklung der Menschheit als Gattung: da es unsittlich sei anzunehmen, nur die Menschen der höchstentwickelten Epoche würden in dieser zukünftigen Zeit in deren vollen Genuss gelangen, nur sie also im vollen Sinne Menschen sein, lege sich der Gedanke nahe: "Aber warum könnte jeder einzelne Mensch auch nicht mehr als einmal auf der Welt vorhanden sein?"[8] Dieser Gedanke sei umso wahrscheinlicher, als sich die ganze Geschichte der menschlichen Gattungsentwicklung in jedem einzelnen Individuum wiederholen müsse, wozu ein einziges Leben aber nicht ausreiche. Darum gelte für jeden einzelnen Menschen: "Warum sollte ich nicht so oft wiederkommen, als ich neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin? ... Was habe ich denn zu versäumen? Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?"[9] Hier bekommt also die Reinkarnationslehre den neuen Sinn, theoretisches Bindeglied zwischen Individuum und Gattung zu sein, die physischen und zeitlichen Grenzen, die den einzelnen Menschen von der Gesamtheit der menschlichen Gattung trennen, zu sprengen. Es ist nach dieser Theorie die Bestimmung jeder einzelnen Seele, an der höchstmöglichen Form menschlichen Lebens teil zu nehmen, wobei das qualitative Niveau dieser höchsten und letzten Form nicht nur in der denkbar höchsten moralischen Entwicklung, sondern auch weiterentwickelter, verfeinerter sinnlicher Genüsse liegt. Moral und Sinnlichkeit schließen sich also nach der LESSINGSCHEN Reinkarnationslehre auf der Ebene höchster menschlicher Selbstverwirklichung nicht aus. Das Dasein als Mensch ist für LESSING nicht, wie bei den Katharern, Fluch und Strafe, sondern höchstes Glück, und mit Hilfe der Reinkarnationshypothese sei es denkbar, dass jedes Individuum an der ganzen Fülle der Möglichkeiten teilhaben könne, auf die es als Teil der Gattung Anspruch habe.[10]

In ähnlicher Weise hat IMMANUEL KANT (1724 - 1804) die Reinkarnationslehre thematisiert. Die Lehre von Karma und Wiedergeburt, wie sie sich in Hinduismus und Buddhismus finden, waren ihm, wenn auch unvollkommen, bekannt, er trug sie in seinen Vorlesungen über Physische Geographie vor.[11] Aber auch bei ihm findet sich die schon bei LESSING spezifische, die gegenwärtigen raum-zeitlichen und individuellen Beschränkungen des Menschen sprengende Variante der Reinkarnationslehre: "Sollte die unsterbliche Seele wohl in der ganzen Unendlichkeit der künftigen Dauer, die das Grab selber nicht unterbricht, sondern nur verändert, an diesen Punkt des Weltraums, an unsere Erde, jederzeit geheftet sein? Sollte sie niemals von den übrigen Wundern der Schöpfung einer näheren Anschauung teilhaftig werden? Wer weiß, ist es ihr nicht zugedacht, daß sie dereinst jene entfernten Kugeln des Weltgebäudes und die Trefflichkeit ihrer Anstalten, die schon von weitem ihre Neugierde so reizen, von nahem soll kennenlernen?"[12], wobei auch für Kant die Idee der Reinkarnation mit dem Gedanken einer Aufwärtsentwicklung der Gattung zusammenhing. Er hielt es für denkbar, dass die sich auf von der Sonne entfernteren Planeten inkarnierende Seele dort notwendig auch einen feineren materiellen Körper und wahrnehmungsfähigeren Sinnesapparat haben werde. Und er ging noch weiter. Die sich auf diesen Planeten, also unter günstigeren äußeren Bedingungen inkarnierenden Seelen seien ja vielleicht dort, anders als auf der Erde, nicht mehr der Macht der Sünde unterworfen: "Wer weiß, sind also die Bewohner jener entfernten Weltkörper nicht zu erhaben und zu weise, um sich bis zu der Torheit, die in der Sünde steckt, herabzulassen, diejenigen aber, die in den unteren Planeten wohnen, zu fest an die Materie geheftet und mit gar zu geringen Fähigkeiten des Geistes versehen, um die Verantwortung ihrer Handlungen vor dem Richterstuhle der Gerechtigkeit tragen zu dürfen?"[13] Eine Inkarnation unter günstigeren Umständen führt also nach KANT erst in die notwendigen Bedingung voller Mündigkeit für die eigenen Taten, eine Bedingung, die individuelle Selbstverantwortung überhaupt erst ermöglicht, und die aufgrund der allgemeinen, von ihm zumindest für denkbar gehaltenen Fähigkeit zur Reinkarnation, jedem offen stehe.

Diese von der geschichtsoptimistischen Überzeugung unendlicher Entwicklungsmöglichkeiten der Gattung, und, aufgrund der Reinkarnationslehre, auch des Individuums, getragenen Gedanken, wurden in der deutschen Klassik von ihren namhaftesten Vertretern geteilt, wobei die Erfahrung der Liebesbeziehung und der Kult des Genies auslösende und die Reinkarnationshypothese bestätigende Wirkung hatten: JOHANN WOLFGANG VON GOETHE (1749 - 1832) konnte sich seine Liebe zu FRAU VON STEIN nicht anders erklären, als dass diese in einer früheren Existenz seine Frau oder Schwester gewesen sein müsse[14], und nach dem Tod seines Freundes CHRISTOPH MARTIN WIELAND im Jahre 1813 fand er Trost in dem Gedanken, ihn dereinst in einer anderen Existenz wiederzusehen. GOETHE sah allerdings, anders als LESSING und KANT, die Fähigkeit zu Wiedergeburt, ja zur Unsterblichkeit nicht als allgemeine menschliche Möglichkeit an, sondern verstand sie als Auszeichnung des Genies, das sich gerade hierin von dem übrigen "niedrigen Weltgesindel" unterscheide[15]. In dieser Entwicklung zeigt sich eine aristokratische Überzeugung der eigenen Überlegenheit, die mit einer gewissen Folgerichtigkeit aus dem Kult des alle Grenzen sprengenden, keine Grenzen akzeptierenden Genies hervorgeht, der höchsten Vorstellung des bürgerlichen Individuums von sich selbst, eine Vorstellung, die mit der Idee einer möglichen sündlosen Existenz der Seele auf den höheren Planeten bei KANT bereits beginnt. Die Erfahrung des Scheiterns, der Krankheit und des Todes, kann unter dieser Perspektive lediglich als defizitärer Status eines Menschen verstanden werden. Das gleiche gilt sinngemäß für die abwertende Einschätzung anderer, fremder, vermeintlich niedrigerer Kulturen, wie sie im 19. und 20. Jahrhundert im Westen weit verbreitet waren und sind. Das an die Reinkarnation seiner Seele, also seines individuellen Wesenskerns glaubende Individuum ist gerade das in Raum und Zeit entgrenzte, sich die Welt, sein Leben, seine Entwicklung eigenverantwortlich unterwerfende, und zwar im Interesse schrankenlosen Wissens, Genusses, höchster Chancen und Verfügungsmöglichkeiten: "Wenn ich dereinst ... sie vollendet habe, so viele Wanderungen; wenn ich mein Ich gerettet habe aus so vielen Gestalten und Verhältnissen, mit ihren Freuden und Leiden vertraut, gereinigt in beiden, welche Erinnerungen, welche Genüsse, welcher Gewinn!" heißt es in einer Predigt PETER HEBELS über die Reinkarnationslehre, die der GOETHE-Schwager JOHANN GEORG SCHLOSSER 1783 veröffentlichte.[16] Die aus der jeweiligen Sicht dunklen, brüchigen und schwachen Seiten des menschlichen Lebens habe in dieser Sicht nur unterlegene, abzustreifende Bedeutung, stellen eine allenfalls zu bekämpfende Wirklichkeit ohne eigenen Wert dar. Theologisch gesprochen: die Allgemeinheit der Erfahrung, gerade in der entschiedensten Bemühung um Selbstvervollkommnung immer wieder zu auch scheitern, sich selbst zu verfehlen, hat in dieser Lehre keinen Platz - nach ihr ist es, im Widerspruch zu grundlegenden theologischen Aussagen des abendländischen Christentums folglich möglich, zu leben und zu handeln, ohne der Sünde unterworfen zu sein. Dass dabei, wiederum aus der je eigenen Sicht, weniger entwickelte Individuen oder gar ganze Kulturen nur die dunkle Folie sind, vor der sich die eigenen Persönlichkeit positiv abhebt, ist konsequent.

Bemerkenswert ist nun, wie selbst die Bestreiter der Reinkarnationslehre in der Zeit GOETHES in diesem entscheidenden Punkt, der aufklärerischen Idee des für die Gestaltung und Vervollkommnung seines Lebens selbst und ausschließlich verantwortlichen Individuums, der zentralen Bedeutung des als Bewährungsaufgabe verstandenen je eigenen Selbst, mit ihren Gegnern übereinstimmten. Der wichtigste Repräsentant einer Ablehnung der Reinkarnationslehre war für eine gewisse Zeit JOHANN GOTTFRIED HERDER (1744 - 1803). In einer literarischen Polemik mit SCHLOSSER und als Pfarrer der in Weimar so intensiv über die Seelenwanderung spekulierenden Dichter grenzte er sich als Theologe von der Reinkarnationslehre ab, aber so, dass er im Grunde nicht die spezifische Aneignung dieser Lehre durch ihre damaligen Vertreter angriff, sondern deren vermeintliches religionsgeschichtliches Vorbild, die hinduistisch-buddhistische Seelenwanderungslehre. Die Inder, so heißt es in seiner gegen SCHLOSSER gerichteten Schrift "Palingenesie"[17] lebten unter klimatisch so günstigen und zugleich, dank der nicht in Frage gestellten Herrschaft der Brahmanen, sozial so stagnativen Bedingungen, dass ihnen ein Leben in ruhiger Passivität möglich sei. Die Reinkarnationslehre sei das "Opium", dass sie gegen diesen Zustand gleichgültig mache. Ein solches Leben aber sei in Europa unmöglich. Gehe es in der indischen Religion um die "Koncentration aufs innerste Gemüth als den leidenschaftslosen Mittelpunkt des Daseyns", so lebe man in Europa "mitten im Kampf physischer und moralischer Weltblähungen", in dem man mit der indischen Reinkarnationslehre gar nichts anfangen könne: "Aber was soll dies Opium uns? Hinweg mit der Seelenwanderung als einer Büßungshypothese!"[18]

Es ist faszinierend zu sehen, wie HERDER als expliziter Verteidiger des Individuums und der abendländisch-aktivistischen Lebensweise in einer Auseinandersetzung zum Schlag gegen die indische (und von ihm zwar nicht genannte, sachlich aber hier einzuordnende katharische) Reinkarnationslehre ausholt, in der seine Gegner die angegriffene Lehre im Sinne der auch von ihm vertretenen Ziele thematisiert hatten: der so weit wie möglich über alle Grenzen vorzutreibenden Entwicklung des bürgerlichen Individuums, der womöglich genialen Persönlichkeit. Die diesem Ziel LESSINGS, KANTS, GOETHES, SCHILLERS und SCHLOSSERS gegenüber einzige Besonderheit HERDERS besteht in seiner Überzeugung, dass höchste Selbstverwirklichung des Individuums in lediglich einem einzigen Leben zu erreichen sei, also in seiner Lehre von der einmaligen und unwiederholbaren Chance dieses Lebens, einer Lehre, die die gleichen Ziele letztlich nur mit dem Resultat umso größeren Drucks im Individuum stellte: "in diesem Leben ist dem Menschen Palingenesie, Metempsychose unentbehrlich, oder sie ist überhaupt misslich."[19] Der Unterschied der Positionen war also lediglich graduell, nicht prinzipiell, er konvergierte im entscheidenden Punkt des sich herausbildenden bürgerlichen Sozialisationsideals, und so ging HERDER denn später auch auf den Standpunkt seiner Gegner in dieser Frage über.

Hält man von diesem Punkt kurz Rückschau, so zeigt sich: auch in der Religionsgeschichte des Westens hat es über Jahrhunderte hinweg eine Vielzahl genuiner, nicht etwa aus dem Osten importierter Reinkarnationslehren gegeben. Sie lehrten in ihrer ursprünglichen und mittelalterlichen Form die Notwendigkeit der Lösung des Menschen aus der Anhaftung an die Welt, die prekäre, ja teuflische Rolle der materiellen Bedürfnisse, sie propagierte daher die Einschränkung des persönlichen Konsums und den Verzicht auf Fortpflanzung. Als aber im Zug der mittelalterlichen sozialgeschichtlichen Entwicklung die Entscheidung für den spezifisch westlich-kapitalistischen Entwicklungsweg fiel, konnten Vorstellungen dieser Art nicht gebraucht werden. Sie wurden darum im ideologischen und militärischen Kampf vor allem der feudalen Kirche beseitigt. Die Thematisierung der Lehre von der Seelenwanderung im 18. und 19. Jahrhundert geschah unter völlig neuem Vorzeichen. Sie hat mit der alteuropäischen Reinkarnationslehre nichts zu tun, sondern lehrte deren genaues Gegenteil: die individuelle und der Gattung insgesamt gestellte Aufgabe höchster sinnlich-geistiger Selbstvervollkommnung, für deren Erreichen die endlichen Grenzen der gebrechlichen und stets gefährdeten menschlichen leiblich-seelisch-geistigen Existenz nur hinderlich sein konnten, die darum mithilfe der Reinkarnationslehre bürgerlichen Typs ideologisch bis ins räumlich und zeitlich Unendliche erweitert wurden. Die mittelalterlichen Bekämpfer der Katharer: Inquisition und Kreuzzugsheere, der französische König und der Papst, traten auf der Ebene ihrer historischen Entwicklung folglich für notwendige Voraussetzungen desjenigen Typs der Gesellschaft und das ihm zugehörige Menschenbild ein, das die aufgeklärten Vertreter der Reinkarnationslehre auf höhere Stufe im 18. und 19. Jahrhundert verfochten. Aus der unkritischen, apologetischen Haltung dieser Gesellschaft gegenüber erklärt sich das religionsgeschichtlich haltlose Bemühen der bisherigen Reinkarnations- und besonders Katharerforschung, diese Erscheinung, ganz im Sinne der von HERDER begründeten Tradition, aus der Geschichte des christlichen Abendlandes hinweg zu erklären und auf eine Art geistige Infektion aus dem Osten zurückzuführen, ein Gedanke, der implizit von der kulturellen Überlegenheit des Westens und der Leistungskraft der dort ihrer Selbstvervollkommnung entgegenstrebenden Individuen ausgeht.

Dritter Teil: zwei Ausgänge

Die Folgen der in mehreren Schüben im Westen getroffenen Entscheidung für das innerweltlich-expansive, von der unüberbietbar hohen Bedeutung des individuellen Selbst ausgehenden Selbstverwirklichungsmodell betrafen allerdings nicht nur die Gesellschaften des Abendlands. Ihre damaligen und künftigen globalen Konsequenzen finden sich, kaum fünfzig Jahre nach der Reinkarnationsdebatte der Deutschen Klassik, bei KARL MARX (1818 - 1883) und FRIEDRICH ENGELS (1820 - 1895) beschrieben, besonders einprägsam im ersten Kapitel des "Manifest der Kommunistischen Partei" (1847/48). Auf knappem Raum wird in diesem Text die historische Rolle des westlichen Bürgertums für die Entwicklung der menschlichen Gattung und zugleich der reale Grund seines Anspruchs auf Grenzenlosigkeit dargestellt. Die Borgeoisie spiele eine "höchst revolutionäre Rolle", die aufgrund der allgemein werdenden kapitalistischen Konkurrenz, zu einer ständig beschleunigten technischen, dann aber auch gesellschaftlichen Umwälzung der menschlichen Beziehungen wie auch der Beziehung der menschlichen Gattung zur Natur führe. Dies geschehe im fundamentalen Gegensatz zu den vorkapitalistischen Gesellschaften, für die "unveränderte Produktionsweise ... die erste Existenzbedingung" gewesen sei. Führe dieser Prozess in Europa selbst zu einer "ununterbrochenen Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände", zu "ewiger Unsicherheit und Bewegung", so seien die Folgen für die außereuropäischen Gesellschaften noch dramatischer: "Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. ... Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, selbst die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt... Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehn wollen, sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d. h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eignen Bilde."

Diese eindrucksvolle Schilderung der derzeit so genannten Globalisierung, nämlich der kolonialistischen Unterwerfung der Welt durch die westliche Bourgeoisie, hatte, wie heute jeder sehen kann, natürlich nicht nur eine materielle Seite, sondern auch kulturelle Folgen. MARX und ENGELS wiesen bereits in ihrer Zeit darauf hin, wie im Westen selber der Sieg der bürgerlichen Klasse die Beziehungen der Menschen untereinander im Wesentlichen auf Geschäftsbeziehungen reduziere, als deren Inhalt nur noch "das nackte Interesse, ... die gefühllose bare Zahlung" übrigbleibe. Im Übrigen bedrohe der geschilderte gewaltsame Export der bürgerlichen Produktionsverhältnisse und Lebensweise in die ganze Welt nicht nur die wirtschaftlichen Grundlagen der außereuropäischen Kulturen, sondern mit ihnen auch deren geistige und religiöse Bewusstseinsformen: "Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. ... Alles Ständische und Stehende wird verdampft, alles Heilige entweiht"[20]. Allerdings bringe die Bourgeoisie mit dem Proletariat zugleich auch ihren eigenen Totengräber hervor. Dieser sei berufen, durch die proletarische Revolution zunächst die politische Macht der eigenen Klasse zu erringen, die bürgerlichen Produktionsverhältnisse umzuwälzen und dann im Interesse der gesamten Gattung den Weg zur kommunistischen Gesellschaft einzuschlagen, also in "eine freie Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist."[21] Die entscheidende Voraussetzung auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft sei es nun, die durch die bürgerlichen Produktionsverhältnisse gefesselten Produktivkräfte noch schneller zu entfalten, als das in der bürgerlichen Epoche möglich gewesen sei: "Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, d.h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats zu zentralisieren und die Masse der Produktivkräfte möglichst rasch zu vermehren."[22]

Gerade in der zuletzt genannten Perspektive wird deutlich, wie sehr MARX Und ENGELS trotz aller Unterschiede in einem entscheidenden Punkt auch in der Tradition ihrer oben angesprochenen bürgerlichen Vorgänger standen. Die "freie Entwicklung des Individuums", hier freilich als Teil einer von Klassengegensätzen befreiten Assoziation verstanden, ist ihr letztes Ziel. Auch dieses Ziel hat, wie bei LESSING Und KANT, die auf höchstmöglicher Ebene angestrebte Versöhnung von Individuum und Gattung zum Gegenstand, das bei diesen mit dem Gedanken der Reinkarnationslehre erreichbar gedacht war, also mit der religiösen Hypothese möglicher raum-zeitlicher Entgrenzung des individuellen Lebens. MARX und ENGELS, die damit in der Tradition von HERDER'S ursprünglicher Position stehen, beteiligten sich nicht an Spekulationen über das Schicksal des endlichen individuellen Lebens. Sie analysierten und organisierten den Weg realer politischer Aktion. Ihr Ziel der zu sich selbst befreiten Gattung, einer freien Assoziation gleichberechtigter Menschen, hofften sie durch die aus der wissenschaftlichen Analyse der bürgerlichen Gesellschaft abgeleitete politische Strategie und Aktion des Proletariats und der Kommunistischen Partei real und innerweltlich zu erreichen. Auf dem Weg dorthin spielte auch bei ihnen das Motiv der Entgrenzung, nämlich die technisch und gesellschaftlich konkret zu verwirklichende Entfesselung einengender Produktionsverhältnisse eine zentrale Rolle: die Produktivkräfte sollen zu voller Entfaltung entfesselt werden, um das für die gesamte Menschheit zu erkämpfende Ziel der von allen Zwängen, insbesondere dem Zwang zu entfremdeter Arbeit, ein für alle Mal zu erreichen - allerdings im geraden Gegenteil zur bürgerlichen, allein anarchisch an der Profitlogik des einzelnen Eigentümers orientierten Weise so, dass erstmals durch eine vernunftgemäße, an den Bedürfnissen der Produzierenden selbst, letztlich an den Bedürfnissen der Gattung orientierten und darum planmäßigen Art und Weise produziert werden soll. MARX und ENGELS haben damit eine Theorie künftiger Gesellschaft entwickelt, die ihre Richtigkeit im globalen Maßstab nach einem ersten Scheitern mit dem Ende der sozialistischen Gesellschaften und Staaten erst noch erweisen muss. Zugleich habe sie damit den Rahmen der bürgerlichen Thematisierung des Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bewusst verlassen, in deren Gefolge sie gleichwohl stehen, und für die die Reinkarnationslehre mitsamt ihrer Körpertheorie die oben skizzierte Funktion innehatte.

Aus dieser Perspektive auf Gründe und Folgen der bürgerlichen Machtergreifung im Weltmaßstab wird die Entwicklungsgeschichte der westlichen Reinkarnationslehre einsichtiger. Ihre ursprüngliche, in der katharischen Bewegung vielleicht ihren konsequentesten Ausdruck findende Form[23] sah die Welt nicht als der menschlichen Selbstentfaltung und -verwirklichung offenstehendes, zu bearbeitendes und rücksichtslos zu unterwerfendes Gelände, sondern als Fremde, als Strafort, in den der eigene, eben nicht aus ihr stammende, ihr radikal fremder Wesenskern nicht gehöre. Ihre Mitglieder waren darum auf Rückzug aus dieser von der Hölle im Grunde nicht zu unterscheidenden Welt, auf die Minimierung der eigenen Beteiligung am gesellschaftlichen Prozess von Produktion und Konsum bedacht. Damit stellten sie für einige Zeit eine beachtliche Opposition gegen die gesellschaftliche Durchsetzung der auf erweiterter Reproduktion basierenden bürgerlichen Warenproduktion für den Markt dar.[24] Seitdem mithilfe von kirchlichen und weltlichen Machtmitteln diese Opposition gebrochen worden war, hat die Reinkarnationslehre im Westen ihren ursprünglichen Charakter einer fundamentalen Opposition gegen den Weg expansiver, entgrenzender Weltaneignung als dem alternativlosen Weg zur zukünftigen Menschwerdung des Menschen verloren. Selbst bei ihren bürgerlichen Vertretern (wie Bestreitern) wurde sie für dieses Ziel in Dienst genommen.

Eine bemerkenswerte Alternative und Wiederaufnahme des vorbürgerlichen Verständnis der Reinkarnationslehre, nun aber mit bewusstem Aufgreifen östlicher Vorstellungen hierzu, stellte die Lehre des Kenners der hinduistischen und buddhistischen Philosophie ARTHUR SCHOPENHAUER (1788 - 1860) dar. Seine Gedanken zum Thema der Reinkarnation lesen sich wie ein grundlegendes Gegenmodell zu dem zeitgenössischen, von MARX und ENGELS auf die Spitze getriebenen, bewusst transzendierten, säkularisierten und radikal demokratisierten Weges der menschlichen Selbstvervollkommnung.

In seiner Schrift "Nachträge zur Lehre von der Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben" benannte er in knapper Klarheit die grundsätzliche Alternative zum hier dargestellten westlichen Entwicklungsweg: "Gewissermaaßen ist es a priori einzusehen, vulgo versteht es sich von selbst, das Das, was jetzt das Phänomen der Welt hervorbringt, auch fähig seyn müsse, dieses nicht zu tun, mithin in Ruhe zu verbleiben, - oder, mit anderen Worten, dass es zur gegenwärtigen Diastole auch eine Systole geben müsse. Ist nun die Erstere die Erscheinung des Wollens des Lebens; so wird die Andere die Erscheinung des Nichtwollens desselben seyn. ... Zwischen der Ethik der Griechen und der Hindu ist ein greller Gegensatz. Jene (wiewohl mit Ausnahme des Plato), hat zum Zweck, die Befähigung, ein glückliches Leben, vitam beatam, zu führen; diese hingegen die Befreiung und Erlösung vom Leben überhaupt".[25] Die Katharer hatten in der vom Teufel veranlassten Bewegung der Seelen im Himmel, im Aufgeben der unbewegten Ruhe also, deren Sündenfall gesehen, für den sie auf Erden, im Kreisen von Körper zu Körper, zu büßen hätten. MARX und ENGELS sahen unter anderem in "ewiger Unsicherheit und Bewegung" das Resultat der stürmischen Entwicklung in der bürgerlichen Produktionsweise (einer Bewegung, von der sie freilich nicht sagten, ob die befreite Menschheit im Rahmen der künftigen kommunistischen Gesellschaft sie erst recht eskalieren oder endlich beenden werden würde). SCHOPENHAUER formulierte, vom selben Gedanken ausgehend, als Ausweg umgekehrt den Gedanken einer Möglichkeit der Verneinung des Willens zum Leben, der Systole des Lebenswillens, deren praktische Verwirklichung er, durchaus gemeinsam mit der von den Katharern gepredigten Lebensweise, im westlichen und östlichen Asketentum sah: "Der innere Sinn und Geist des ächten Klosterleben, wie der Askese überhaupt, ist dieser, dass man sich eines bessern Daseyns, als unseres ist, würdig und fähig erkannt hat, und diese Überzeugung dadurch bekräftigen und erhalten will, dass man was diese Welt bietet verachtet, alle ihre Genüsse als werthlos von sich wirft und nun das Ende dieses, seines eitlen Körpers beraubten Lebens mit Ruhe und Zuversicht abwartet, um einst die Stunde des Todes, als die der Erlösung, willkommen zu heißen. Das Saniassithum hat ganz dieselbe Tendenz und Bedeutung."[26] Diese Überzeugung fand ihren Ausdruck bekanntlich in der Nähe SCHOPENHAUERS zum Buddhismus, dessen Lehre er ausdrücklich als dem recht verstandenen Christentum unmittelbar verwandt und als Bestätigung seiner eigenen philosophischen Erkenntnisse begrüßte, während er, gegen die HEGELSCHE Geschichtsphilosophie gewandt, alle Versuche, die Welt "durch Konstitutionen und Gesetzgebungen, Dampfmaschinen und Telegraphen" zu verbessern, als Gedanken "platter Gesellen und eingefleischter Philister, zudem auch eigentlich schlechter Christen", verurteilte.[27] Wie der Buddhismus, so verstand auch SCHOPENHAUER als Grundzug des menschlichen Lebens unabänderliches und unentrinnbares Leiden, das nur durch die antinomische Wendung des Willens zum Leben gegen sich selbst beendet werden könne - oder immer wieder aufs neue leben, und das heiße: leiden müsse. In diesem pessimistischen Sinne vertrat also auch Schopenhauer eine Reinkarnationslehre[28], im denkbar heftigsten Widerspruch gegen ihre Thematisierung als Vehikel des Individuums zu den höchsten Höhen der Gattungsgeschichte, wie sie die bürgerliche Philosophie und Literatur kannte[29] - allerdings auf Kosten einer wohl von Verachtung gekennzeichneten Rückwendung von der bürgerlichen Gesellschaft weg. Damit beschritt SCHOPENHAUER einen Weg, den vielleicht Einzelne in ihrer Lebensführung beschreiten können, den aber niemals die Gesellschaft oder gar die Gattung insgesamt real gehen kann.

Vierter Teil: Ausblick

Die westlichen Reinkarnationstheoretiker seither sind vor allem im Bereich alternativer religiöser Bewegungen anzutreffen. Auch wenn sie von den Religionen des Ostens inspiriert sind und etwa deren Terminologie übernehmen, bleiben sie doch im wesentlichen ganz in der westlich-bürgerlichen Tradition der Lehre von der Seelenwanderung, indem sie sie als Chance religiöser oder spiritueller Vervollkommnung oder gar als Ausblick auf wenn schon hier nicht zu erreichende, dann wenigstens künftige grenzenlose Genüsse verstehen.[30]

Daneben stehen aber bekanntlich zunehmend auch westliche Theoretikerlnnen und religiöse Praktikerlnnen, die im Kontext der klassischen hinduistischen oder buddhistischen Reinkarnationslehre oder natur- und religionswissenschaftlicher Forschung zur Frage der Reinkarnation arbeiten.[31]

Die dominierende Linie der westlichen Gesellschaftsentwicklung aber läuft in der einmal eingeschlagenen Richtung weiter. Das gesellschaftliche, naturwissenschaftlich inspirierte, vor allem mit materiell-technischen oder gar militärischen Mitteln verfolgte Ziel der expansiven Selbstverwirklichung und Selbstvervollkommnung des Individuums - gemeint ist damit in Wahrheit konkret: des Eigentümers von Produktionsmitteln - herrscht im Zeitalter von Globalisierung und "Neuer Weltordnung" kaum ernsthaft angefochten, mit weltweitem Anspruch und für die gesamte Menschheit verheerenden Folgen. Je herrlicher die grenzenlosen Perspektiven auf die Zukunft der Gattung zu sein schienen, um so fraglicher erscheint es heute, wie von einer lebenswerten Zukunft für alle Menschen, nicht nur den Nutznießern einer Art weltweiter Apartheid, überhaupt noch die Rede sein kann. Es kann kaum noch ernsthaft gefragt werden, ob auf diesem Weg das seit dem Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft des Westens angestrebte Ziel einer Selbstvervollkommnung der Gattung je erreicht werden wird, oder die derzeit weltweit herrschenden neoliberalen Strategen diese gerade zu vernichten drohen. Die Alternativlosigkeit, mit der die heute den Westen und von hier aus die Welt beherrschenden gesellschaftlichen Kräfte sich rücksichtslos "eine Welt nach ihrem eignen Bilde" einrichten, ist, wie etwa das Beispiel der forschungsstrategischen Grundfragestellung MAX WEBERS zeigt, zutiefst perspektivlos und potentiell zu allem bereit[32] - und vielleicht weniger als je sind heute politisch wirklich potente Gegenkräfte auszumachen.

Die Notwendigkeit auch interkultureller und -religiöser Forschung im Interesse des alternativen Entwurfs einer Gesellschaft, deren Menschen sich nicht bis zur Erschöpfung von selbst mitproduzierten aber zugleich götzenartig in den Zentren der Macht wie im Innersten der Menschen hockenden, entfremdeten Illusionen der eigenen phantasierten Grenzenlosigkeit antreiben lassen und dabei sich selbst, Mitmenschen, Natur und die Zukunft der Gattung bedenkenlos aufs Spiel setzen, liegt auf der Hand.

Erforderlich ist hier und heute, die ganze immer auch gegebene Brüchigkeit und Begrenztheit des Lebens ins eigene Weltbild integrieren zu lernen, neben einer illusionslosen Sicht auf die derzeitige Verfasstheit der Welt und aus ihr die Erkenntnisse zu ihrer Überwindung lernend, gerade auch aus den natürlichen, ja den geschöpflichen Grenzen menschlichen Lebens Achtsamkeit, Kraft und Orientierung zu schöpfen - für den unerbittlichen Kampf zur Überwindung der sich selbst absolut setzenden, buchstäblich über Leichen und bis zum Kannibalismus gehenden bürgerlichen Gesellschaftsordnung und ihren folgerichtig-abscheulichen Begleiterscheinungen wie der hier zur Diskussion stehenden Ausstellung. Neben den Vertreterinnen und Vertretern vorbürgerlicher Erfahrungen der Menschheit, die sich sperrig der schlichten und platten Unterwerfung unter den herrschenden neoliberal globalisierten Durchmarsch entgegenstellen, haben auch Vertreter des Christentums hierzu ihre je eigenen Beiträge dem dringend notwendigen Bündnis für das Überleben der Gattung zur Diskussion zu stellen.[33]

Anmerkungen
  • Überarbeitetes Manuskript des gleichnamigen Vortrags vom 23. Januar 2004, St. Katharinenkirche, Frankfurt am Main. Der Vortrag fand statt im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Namenlose Tote - mehr als Haut und Knochen", die sich kritisch mit der Frankfurter Ausstellung "Körperwelten" auseinandersetzte. Grundlegende Gedanken des Vortrags wurden zuerst unter dem Titel "Zu Entwicklungsgeschichte und Funktionswandel der Reinkarnationslehre im Westen", in: H.C. Stoodt / E. Weber (Hrsg.), Interreligiöse Beziehungen. Konflikte und Konvergenzen (THEION. Jahrbuch für Religionskultur / Annual for Religious Culture, Bd. II), Frankfurt 1993, S. 71 - 86 veröffentlicht, hier aber in verschiedener Hinsicht abgewandelt und verschärft. Vgl. zu einem weiteren Aspekt dieses Themas meinen Aufsatz "Katharismus und Kabbala als Beiträge des Westens zur Geschichte der Reinkarnationslehre. Kritik der Theorie ihrer Entstehung als Import aus dem Osten", in: H.C. Stoodt / E..Weber, (Hrsg.), Inter Legem et Evangelium (THEION. Jahrbuch für Religionskultur / Annual for Religious Culture, Bd. III), Frankfurt 1994, S. 87 - 109. Zu Geschichte und Ideologie des im Folgenden diskutierten Katharismus vgl. meine Monographie "Katharismus im Untergrund. Die Reorganisation durch Petrus Auterii 1300 - 1310 (Spätmittelalter und Reformation, hg. Heiko A. Oberman, Lothar Graf zu Dohna und Kaspar Elm, Neue Reihe, Bd. 5), Tübingen 1996.
  1. P. Althaus, "Seelenwanderung" in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Tübingen, 3. Auflage, Bd. 5, Sp. 1639 f. Die wesentlich differenziertere Untersuchung von R.Hummel, Reinkarnation, Weltbilder des Reinkarnationsglaubens und das Christentum, Mainz - Stuttgart 1988, unterscheidet sich in diesem Punkt nicht prinzipiell von der bei Althaus dargestellten Position.
  2. J. de Vries, Keltische Religion, Stuttgart - Berlin - Köln - Mainz 1961 (Die Religionen der Menschheit, hg. Chr. M. Schröder, Bd. 18).
  3. Vgl. E.R.Dodca, Die Griechen und das Irrationale, Darmstadt 1970
  4. L.Scheffczyk, Der Reinkarnationsgedanke in der altchristlichen Literatur, in: Bayerische Akademie der Wissenschaften, PhiI.Hist. Klasse, 1985, Heft 4, S. 3 - 39
  5. A.Borst, Die Katharer (Schriften zur MGH XII), Stuttgart 1953, S. 168 ff.
  6. So etwa M.D.Lambert, Atlas zur Kirchengeschichte, aktualisierte Neuausgabe, Freiburg 1987. In seinem Kommentar zu der Karte "Bogumilen, Paulikianer und westliche Häresien ca. 970 - 1100", ebenda, S. 41* schreibt LAMBERT, in ihr werde "die Hypothese vertreten, daß der ... Ausbruch der westlichen Häresie im 11. Jh. nicht nur von westeuropäischen Faktoren, sondern auch vom byzantinischen Dualismus abhängig war. ... Direkte Beweise für die Anwesenheit der Bogumilen in Westeuropa im 11. Jh. gibt es nicht. Die Hypothese beruht auf einem Vergleich zwischen dogmatischen Merkmalen des östlichen Dualismus und einigen westlichen häretischen Episoden." BORST geht sogar soweit, die Reinkarnationslehre der Bogomilen bei diesen hypothetisch zu unterstellen, da sie die Katharer im Westen ja nicht von sich aus gelehrt haben könnten, also genau das unbewiesen vorauszusetzen, was eigentlich zu beweisen gewesen wäre (a.a.O., S. 168, Anm. 3).
  7. Vgl. E. Benz, Die Reinkarnationslehre in Dichtung und Philosophie der deutschen Klassik und Romantik, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte IX/1 (1957), S. 150 - 175.
  8. G.E. Lessing, Erziehung des Menschengeschlechts, § § 94 und 94, hier zitiert nach E.Benz, a.a. 0., S. 154
  9. a.a.O., § § 96 - 100, hier zitiert nach E.Benz, S. 154 f
  10. G.E. Lessing, Daß mehr als fünf Sinne für den Menschen seyn können, in: Sämtliche Schriften Eilfter Band, Berlin 1839, S. 458 (hier zitiert nach E. Benz, a.a.O., S. 154, Anm. 7).
  11. Immanuel Kant, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755), in: Vorkritische Schriften bis 1768, Bd. I, hg. W. Weischedel, Frankfurt 1978.
  12. a.a.O., S. 395
  13. a.a.O., S. 394
  14. Die berühmteste Formulierung der Goethe'schen Lehre von der Reinkarnationslehre findet sich in dem Frau von Stein gewidmeten "Gesang der Geister über den Wasser": "Des Menschen Seele l Gleicht dem Wasser: l Vom Himmel kommt es l Zum Himmel steigt es l Und wieder nieder l zur Erde muss es l Ewig wechselnd..." In einem Gedicht an Frau von Stein vom Juli 1776 heißt es: "Sag, was will das Schicksal uns bereiten? l Sag, wie band es uns so rein genau? / Ach, Du warst in abgelebten Zeiten l Meine Schwester oder meine Frau ..." (Zitiert nach E. Benz, a.a.O., S. 159). Ein Gedicht ähnlichen Inhalts stammt von Friedrich Schiller ("Des Geheimnis der Reminiszenz", zitiert bei Benz, S. 159), der in seiner Weimarer Dissertation von 1776 auch theoretisch für die Reinkarnationslehre eintrat.
  15. So in seinem Gespräch mit J.D. Falk am Begräbnistag Wielands (25.1. 1813), in: Gespräche mit Goethe, hg. E. Hederer, Bergen 1950, S. 129 ff
  16. J.G. Schlosser, Kleine Schriften, Dritter Teil, Basel 1783, S. 22.
  17. In: J.G. Herder, Sämmtliche Werke. Zur Philosophie und Geschichte. Achter Teil, Stuttgart und Tübingen 1828, S. 150 - 183.
  18. a.a.O., S. 33.
  19. a.a.O., S. 164
  20. K. Marx / F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in Werke, Bd. 4, Berlin/DDR 1974, S. 464 ff.
  21. a.a.O., S. 482.
  22. a.a. O., S. 481
  23. Die Katharer waren allerdings nicht die einzige religiöse Gruppe, die im Westen seit Mitte des 12. Jahrhunderts die Reinkarnationslehre vertraten. Für den Bereich südfranzösisch-spanischen Judentums gilt ebenfalls, daß aus bis heute letztlich nicht erklärten Ursachen eine Reinkarnationslehre, die Lehre vom "Gilgul", dem Kreisen der Seelen durch eine Reihe von menschlichen Körpern, auftauchte. G. SCHOLEM hat diese Erscheinung in seinem Buch "Ursprung und Anfänge der Kabbala", Berlin 1962, ausführlich untersucht und die Parallelität zur katharischen Bewegung konstatiert. Leider geht auch Scholem ungeprüft von der Richtigkeit der Borst'schen These aus "daß diese Bewegung (die Katharer) nicht autochthon in Südfrankreich entstanden ist, sondern in unmittelbarem historischen Zusammenhang mit der Religion der bulgarischen Bogomilen steht..." (a.a.O., S. 11). Vgl. zu diesem Thema den oben, Anm. A genannten Aufsatz zur katharischen und kabbalistischen Reinkarnationslehre.
  24. Indem die Kirche des frühen 14. Jahrhunderts zB. im Bereich der südfranzösischen Diözese Pamiers darauf bestand, den Zehnt in Geld-, statt wie bisher in Naturalform, zu erheben, zwang sie die Bauern der Pyrenäentäler dazu, ihre bisherige, auf Mehrprodukt und erweiterte Reproduktion verzichtende subsistenzwirtschaftliche Lebensweise aufzugeben, um auf den Märkten Geld erwirtschaften zu können. Damit sorgte die Kirche mittelbar für eine Veränderung der bäuerlichen Produktion durch Ausweitung der bisherigen Produktionsflächen, denn angesichts der knappen, für den Anbau landwirtschaftlicher Produkte geeigneter Böden kam eine für die Erwirtschaftung von Geld notwendige Mehrproduktion nur durch eine Ausdehnung der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Richtung auf die höher gelegenen Gebiete der Täler in Frage, die ihrerseits wiederum nur zur Schafzucht taugten. Der dazu notwendige AnpassungsProzess löste die traditionelle bäuerliche Familienstruktur auf. Es waren genau die hiervon Betroffenen, in denen der Katharismus am längsten entschiedene Parteigänger fand, vgl. hierzu M.Benad, Domus und Religion in Montaillou. Katholische Kirche und Katharismus im Überlebenskampf der Familie des Pfarrers Petrus Clerici am Anfang des 14. Jahrhunderts (Spätmittelalter und Reformation, NF Bd. 1 ), Tübingen 1990, S. 299 - 315. Lehre und Organisationsformen der damaligen katharischen Bewegung habe in meiner Untersuchung "Katharismus und Organisation", dargestellt, vgl. oben die einleitende Anm.
  25. Parerga und Paralipomena: Kleine philosophische Schriften, Ausgabe letzter Hand hg. L.Lütkehaus, Frankfurt 1991, Bd. 11, Kapitel IX (§§ 161 - 173), S. 278 - 286.
  26. a.a.0., § 168 (S. 283).
  27. Die Welt als Wille und Vorstellung, Ausgabe letzter Hand, hg. L. Lütkehaus, Frankfurt 1991, Bd. II, S. 516.
  28. Ebenda, Bd. II, Kap. 43, (S. 600 - 615); vgl. ferner "Von der Unzerstörbarkeit unseres wahren Wesens durch den Tod", in: Parerga und Paralipomena, a.a.O., Bd. II, Kapitel X, hier: § 140 (a.a.O., S. 251 - 257).
  29. Auch in der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts spielt das Thema der Grenzenlosigkeit eine wichtige Rolle, wie die Untersuchung von M. Frank, Aufbruch ins Ziellose, in: Derselbe, Kaltes Herz - Unendliche Fahrt - Neue Mythologie. Motivuntersuchungen zur Pathogenese der Moderne, Frankfurt 1989, S. 50 - 92 am Beispiel verschiedener Bearbeitungen des Motivs vom Fliegenden Holländer zeigt.
  30. "Ich bin Ramtha, eine souveräne Wesenheit, die vor langer Zeit auf der Erde lebte. In jenem Leben starb ich nicht; ich fuhr auf, denn ich lernte, die Kraft meines Geistes nutzbar zu machen und meinen Körper mit mir in eine unsichtbare Dimension des Lebens zu nehmen. Dabei wurde ich einer Existenz von grenzenloser Freiheit, grenzenloser Freude, grenzenlosem Leben gewahr ..." heißt zum Beispiel in der von St. L. Weinberg herausgegebenen offenbarungsartigen Schrift "Ramtha", Burggen, 2. Aufl. 1991.
  31. Vgl. zB. die Untersuchung von L. STEVENSON, Twenty Cases Suggestive of Reincarnation, Charlottsville 1966 (deutsch: Reinkarnation. Der Mensch im Wandel von Tod und Wiedergeburt, Freiburg 3. Aufl. 1986) oder die thematisch verwandten Arbeiten von R. MOODY und M. KÜBLER-ROSS. Eine gute Zusammenfassung der Ergebnisse vor allem westlicher religionswissenschaftlicher Forschung zur indischen Reinkarnationslehre bietet W.D. O'FLAHERTY (Hg.), Karma and Rebirth ih Classical Indian Traditions, Delhi 1983.
  32. MAX WEBERS 1920 formulierte forschungsstrategische Ausgangsfrage bekanntlich bestand darin, wie es zu erklären sei "daß gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch - wie wenigstens wir uns gern vorstellen - in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen. Nur im Okzident gibt es Wissenschaft, in dem Entwicklungsstadium, welches wir heute als 'gültig' anerkennen." (Max Weber, Vorbemerkung, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 1988, Bd. I, S. 1). WEBER bringt diese Fragestellung in Beziehung "mit der schicksalsvollsten Macht unsres modernen Lebens: dem Kapitalismus." (a.a.O., S. 4), dessen Entstehung und gesamtgesellschaftliche Machtübernahme eben nur im Westen und nirgends sonst erfolgt sei. WEBERS Forschung geht daher von einer Exklusivitätsannahme der westlichen Entwicklung aus, die das oben genannte Alternativlosigkeitsdenken zum Ausdruck bringt: "Warum taten die kapitalistischen Interessen nicht das gleiche in China oder Indien? Warum lenkten dort überhaupt weder die wissenschaftliche, noch die künstlerische noch die staatliche noch die wirtschaftliche Entwicklung in diejenigen Bahnen der Rationalisierung ein, welche dem Okzident eigen sind?" (a.a.O., S. 11). Bei der von Weber konstatierten seinerzeitigen Unzulänglichkeit der ethnologischen Forschung boten sich ihm als Erklärungsansatz Biologie und Rassenforschung an: "Schließlich sei auch der anthropologischen Seite der Probleme gedacht. Wenn wir immer wieder - wie auf scheinbar unabhängig voneinander sich entwickelnden Gebieten der Lebensführung - im Okzident, und nur dort, bestimmte Arten von Rationalisierung sich entwickeln finden, so liegt die Annahme: daß hier Erbqualitäten die entscheidende Unterlage boten, natürlich nahe. Der Verfasser bekennt: daß er persönlich und subjektiv die Bedeutung des biologischen Erbgutes hoch einzuschätzen geneigt ist." (a.a.O., S. 15). Solange allerdings die vergleichende soziologische Arbeit noch in den Kinderschuhen stecke, sei es verfrüht, "die vergleichende Rassen-Neurologie und -Psychologie über ihre heute vorliegenden, im einzelnen vielversprechenden, Anfänge" hinaus über die oben gestellte Forschungsaufgabe zu befragen (a.a.O., S. 15 f).
  33. Anders als die bürgerlichen Grenzenlosigkeitsideologen bestimmte MARTIN LUTHER (1483 - 1546) vor allem im Rückgriff auf die Tradition AUGUSTINS (354 - 430) die Unmöglichkeit menschlichen Lebens, den endgültigen Sinn seiner Existenz selber zu produzieren, wodurch er andererseits die auf diese Weise begrenzte menschliche Vernunft auf dem Gebiet der Weltgestaltung von religiösem Sonderwissen befreite. Schon früh stellte er polemisch die "Theologie des Kreuzes" (theologia crucis) der von ihm so genannten herrschenden "Theologie der Herrlichkeit" (theologia gloriae) entgegen. Aus seiner Ablehnung der Willensfreiheit in der Beziehung des Menschen zu Gott folgerte er in der Heidelberger Disputation von 1518: "Ein Mensch, der glaubt, er habe darin das Wollen, zur Gnade zu gelangen, daß er das tut, was in seinen Kräften steht, tut zu seiner alten Sünde neue hinzu und wird dadurch doppelt schuldig ... Es steht fest, dal3 der Mensch alle Hoffnung auf sich selbst aufgeben muss, um geeignet zu sein, die Gnade Christi zu erlangen. ... Der ist nicht wert, ein Theologe zu heißen, der Gottes unsichtbares Wesen durch das geschaffene erkennt und erblickt ... sondern nur der, der Gottes sichtbares und zugewandtes Wesen durch Leiden und Kreuz erblickt und erkennt." (M. Luther, Die Hauptschriften, hg. K. Aland, 4. Auflage, Berlin, o.J., S. 29 - 31). Im Bereich der protestantischen Theologie hat HENNING LUTHER eine konsequente theologische Kritik des "Mythos von der Ganzheit" erarbeitet, vgl. "Leben als Fragment. Der Mythos von der Ganzheit", in: Wege zum Menschen 43 (1991), 262 - 273 sowie ders., "Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts", Stuttgart 1992

© Hans-Christoph Stoodt 2004
Magazin für Theologie und Ästhetik 30/2004
https://www.theomag.de/30/hcs1.htm