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Magazin für Theologie und Ästhetik


Ästhetische Bildung

Ein Internetprojekt des rpi-virtuell

Andreas Mertin

Die 2002 erschienene Kulturdenkschrift der EKD "Räume der Begegnung. Religion und Kultur in evangelischer Perspektive" fordert zu Recht in ihren Ausführungen über die "Begegnung mit den Künsten als Chance für die Gemeinden" ein "besonderes Interesse an der Auseinandersetzung mit den modernen Künsten", denn: "ein Glaube, der selbstsicher in der Moderne beheimatet sein will, ist auf eine komplexe Gestalt angewiesen, welche er in der populären Ästhetik allein nicht finden kann".[1] Aber nicht nur die Zuwendung zu den ästhetischen Avantgarden des 20. und 21. Jahrhunderts bedarf der Pflege, auch die Kenntnis jener Entwicklung, die von den Anfängen der Menschheit bis in die künstlerischen Programme der Gegenwart führt. Denn nur vor der Folie der Geschichte der künstlerischen Auseinandersetzungen mit der Welt wird vieles von dem einsichtig, was Künstler heute beschäftigt.

Das virtuelle religionspädagogische Institut im Internet hat daher damit begonnen, ein Projekt zur kulturellen und ästhetischen Bildung im Religionsunterricht auszuarbeiten, das auf intuitive und kommunikative Art und Weise Schülerinnen und Schüler wie Lehrerinnen und Lehrer in die Kulturgeschichte der Kunst und ihrer Vorläufer[2] einführt. Entwickelt wurde dazu von einem Team ein einfaches dreidimensional anmutendes Museum, das in einer geradezu hegelisch anmutenden Flucht von Räumen die Kunstgeschichte der Menschheit exemplarisch vor Augen führt:

"Hegel dachte, über seiner Zeit wölbe sich die Abendröte. Der Mensch war mit seiner Geschichte alt geworden und konnte jetzt auf ein langes Tagwerk zurückblicken. In der Dämmerung lag vor ihm, ausgebreitet in die Ferne von Jahrtausenden, eine vollständige Sammlung der Weltkunst. Jedes Werk stellte eine versteinerte Form des Bewusstseins dar, welches die Menschheit zurückgelassen hatte auf ihrer langen Wanderung zu sich selbst. ... Wie die Eule erst bei einbrechender Dämmerung ihren Flug beginnt, so schwangen sich Hegels Gedanken vor der aufziehenden Nacht über die Dächer von Dorotheenstadt. ... Was den Gang der Geschichte nur blind und drängend vorangetrieben hatte, sollte als umfassende Rückschau im Wissen aufbewahrt werden. Unter den kräftigen Flügelschlägen von Minervas Wappentier zogen in der Tiefe die Kulturlandschaften vorbei: das Abendland, die Antike, der Orient. Der Flug führte nach Osten, denn dahin wiesen die Spuren der Wanderung. Wo das Licht aufging, hatte auch die Menschheit ihren Anfang genommen. Dem Lauf der Sonne war sie schließlich gefolgt nach Westen: Den Gang von Morgen nach Abend nannte Hölderlin die Reise des Weltgeistes durch die Geschichte. Diesen Gang durchschritt Hegel denkend noch einmal von Anbeginn, um sich das Vergangene selber in allen Stufen gegenwärtig zu machen. Den Prozeß der Rückerinnerung hielt er fest in den Vorlesungen über Ästhetik und Geschichte: Das philosophische System, das er darin entwarf, bildete gleichsam das imaginäre Museum des Weltgeistes. In Gedanken gefasst barg es die bedeutendsten Kunstwerke aller Zeiten. Ihre Aufstellung erfolgte nach chronologischen Gesichtspunkten. Während der Betrachter den historischen Reigen verfolgte, erkannte er im allmählichen Wechsel der Kunstform das einwohnende Gesetz: den Fortschritt des Geistes im Bewußtsein der Freiheit'."[3]

Anders als die Konstruktion Hegels, der von den aufsehenerregenden Funden in den Höhlen von Altamira und Lascaux noch nichts wissen konnte, beginnt das Museum mit der Vorgeschichte der Menschheit, den Hervorbringungen der Steinzeitkultur in Europa, genauer in Frankreich und Spanien. Obwohl sich schon hier Kunst und Religion begegnen, findet man die Steinzeit selten im Fokus des Religionsunterrichts. Im nächsten Raum werden die frühen Hochkulturen vorgestellt, dann die griechische und die römische Kunst. Natürlich geht es dabei nicht um eine umfassende Einführung in die jeweilige Zeit mit ihren Werken (das ist die Aufgabe des Kunstunterrichts und muss von ihm geleistet werden), sondern um ein Gefühl für die ästhetisch-künstlerischen Gestaltfindungen der jeweiligen Zeit.

Die christliche Kunstgeschichte setzt im virtuellen Museum ein mit der Kunst der Katakomben, einigen Mosaiken aus Ravenna und natürlich der frühmittelalterlichen Buchmalerei. Dabei stößt der Besucher nicht nur auf Werke der bildenden Kunst, sondern auch auf Architektur, etwa auf die Hauptkirche St. Riquier in Centula, 790-99 von Angilbert erbaut, die als modernster Bau der Epoche gilt und auf viele spätere Bauten gewirkt hat. Parallel zur Bildenden Kunst bekommt man so auch einen Eindruck von anderen Gestaltfindungen des Christentums. Mit der Romanik und der Gotik kommt man zu den ersten großen Gestaltbildungen des Christentums, mit Renaissance, Barock, Rokoko, dem 19. und 20. Jahrhundert dann zum Emanzipationsprozess der Bildenden Künste aus der Vorherrschaft der christlichen Religion. Konsequent werden daher im Museum das 19. und 20. Jahrhundert als postchristliche Kunstgeschichte vorgestellt.

Nichtsdestoweniger ist das Museum in der Auswahl der Exponate auf die christliche Ikonografie fokussiert bzw. darauf, was von ihr in der Moderne übrig blieb. Das ist natürlich ein Tribut an das Fach Religion, für das das Museum ja eingerichtet wurde.


Der Raum "Renaissance" der Artothek des rpi-virtuell

Jeder Raum wird mit knappen Worten und weiterführender Literatur und Links vorgestellt, die wichtigsten Werke können in höherer Auflösung heruntergeladen werden. In zahlreichen Räumen findet der Besucher darüber hinaus so genannte verborgene Links, sozusagen Geheimgänge etwa zur Höhle von Lascaux, den Pyramiden in Ägypten, zur künstlerischen Welt von Hieronymus Bosch oder Marcel Duchamp und vieles mehr. Diese verborgenen Links sind durch ein kaum wahrnehmbares Spinnennetz angedeutet. Es macht also Sinn, nicht nur durch das Museum zu schlendern und sich das eine oder andere Bild vergrößert anzuschauen, sondern in den einzelnen Räumen tatsächlich nach weiteren Abzweigungen zu suchen.

Eine Werkstatt des Museums bietet Lehrerinnen und Lehrern darüber hinaus an, eigene Museumsräume zu entwerfen und stellt dazu die notwendigen Dateien zur Verfügung. Nach und nach kann so ein wucherndes vernetztes System entstehen. Ein Info-Raum leistet dazu den notwendigen Überblick, ein Museumswächterraum zeigt an, was jeweils neu im Museum ist. Denn das Museum soll laufend um weitere Kunstwerke und vor allem nach und nach auch durch religionspädagogische Erschließungen und Impulse ergänzt werden. Sie erst werden darüber Auskunft geben, inwieweit im Religionsunterricht dieses Projekt auch genutzt und umgesetzt wird.

Das Museum hat darüber hinaus zwei weitere eigenständige "Flügel", die sich zum einen mit der religiösen Kunst der Gegenwart und zum anderen mit zeitgenössischer Kunst beschäftigen und dazu jeweils temporäre Ausstellungen anbieten.

Noch ist das Museum erst in den Anfängen, aber es verspricht bei konsequentem Ausbau eine lohnenswerte Adresse im Netz zu werden.

Anmerkungen
  1. Alle Zitate "Räume der Begegnung. Religion und Kultur in evangelischer Perspektive", Gütersloh 2002, S. 46.
  2. Vgl. Hans Belting: Bild und Kult: Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München 1990.
  3. So die immer noch einzigartige Beschreibung von Beat Wyss, Trauer der Vollendung. Von der Ästhetik des Deutschen Idealismus zur Kulturkritik an der Moderne, München 1985, S. 14f.

© Andreas Mertin 2003
Magazin für Theologie und Ästhetik 26/2003
https://www.theomag.de/26/am102.htm