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Magazin für Theologie und Ästhetik


Lektüren IX

Aus der Bücherwelt

Andreas Mertin

Krieg

Ich lese dieses Buch in der Zeit des Irak-Krieges, in der Zeit des danach herrschenden Chaos' und der Plünderungen in den irakischen Großstädten. Die erkennbare Parallelität ist beklemmend und erschreckend, denn viele der Notizen in diesem Buch lesen sich wie aktuelle Kommentare und Erfahrungen: "Das Radio ist seit vier Tagen tot. Wieder mal merkt man, was für zweifelhafte Sachen uns die Technik beschert hat. Sie haben keinen Wert an sich, sind nur bedingt wertvoll, solange man sie irgendwo einstöpseln kann. Brot ist absolut. Kohle ist absolut. Und Gold ist Gold, in Rom oder Peru oder Breslau. Dagegen Radio, Gasherd, Zentralheizung, Kochplatte, die ganze große Bescherung der Neuzeit - sinnloser Ballast, wenn die Zentrale versagt. Wir sind zur Zeit auf dem Rückmarsch in vergangene Jahrhunderte. Höhlenbewohner." (13) Diese Sätze, gleich zu Beginn des Tagebuches am 20. April 1945 notiert, bekommen ihre Aktualität angesichts des Stromausfalls in einigen irakischen Städten, aber auch durch die schon vor dem Krieg ausgesprochene Drohung der Amerikaner, mit einer neuartigen Superbombe irakische Städte in die Steinzeit zu bomben, indem man alle Elektrizität ausschaltet.

Die Tagebuchaufzeichnungen einer "Frau in Berlin" sind im April/Mai 2003, achtundfünfzig Jahre nach ihrer Entstehung, als 221. Band der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Anderen Bibliothek erschienen. Erstmalig wurden sie 1959 in einem kleinen Schweizer Verlag publiziert und werden nun nach dem Tod der Verfasserin der Öffentlichkeit erneut zugänglich gemacht. Dass sie überhaupt bekannt wurden, verdanken wir dem Schriftsteller Kurt W. Marek, besser bekannt unter dem Namen C.W. Ceram, der die Verfasserin überzeugen konnte, ihre Aufzeichnungen zu publizieren. Es sind authentische Aufzeichnungen, die jeweils am Tage des Geschehens oder am darauffolgenden Tage gemacht wurden, wie unerträglich und grausam das Geschehen auch jeweils war.

Die Aufzeichnungen setzen ein mit der sich Berlin nähernden russischen Armee. "Flak und Artillerie setzen die Akzente über unseren Tag. Manchmal wünschte ich, es wäre schon alles vorbei. Sonderbare Zeit. Man erlebt Geschichte aus erster Hand, Dinge, von denen später zu singen und zu sagen sein wird. Doch in der Nähe lösen sie sich in Bürden und Ängste auf. Geschichte ist sehr lästig." (26)

Noch bestimmen Gerüchte und die Sorge um die kommende Versorgung das Leben. Die Front rückt immer näher, die Versorgungslage wird immer schwieriger, die ersten Plünderungen setzen ein, an denen alle beteiligt sind: "Bin auf einmal in einem Kellerraum, völlig dunkel, keuchende Menschen, Schmerzensschreie, ein Ringkampf in der Finsternis. Nein, hier wird nicht verteilt. Hier wird geplündert. Eine Taschenlampe blitzt auf, ich erkenne Regale, Büchsen darauf und Flaschen, aber nur unten, die oberen Regale sind bereits abgeräumt. Ich bücke mich, werfe mich zu Boden und wühle im alleruntersten Fach Flaschen heraus, fünf, sechs Stück, stopfe sie in meine Kiste. Im Dunkeln bekomme ich eine Konservenbüchse zu fassen, da tritt mir einer auf die Finger, und eine Männerstimme schreit: 'Das sind meine Sachen!'" (47)

Am 27. April besetzen russische Soldaten den Ort und es beginnt Chaos, vor allem aber der Albtraum der Vergewaltigungen. "Was heißt Schändung? Als ich das Wort zum ersten Mal laut aussprach, Freitag abend im Keller, lief es mir eisig den Rücken herunter. Jetzt kann ich es schon denken, schon hinschreiben mit kalter Hand, ich spreche es vor mich hin, um mich an die Laute zu gewöhnen. Es klingt wie das Letzte und Äußerste, ist es aber nicht." (73) Im Nachwort schreibt Kurt W. Marek dazu: "Am erschreckendsten erscheint die Kälte, mit der sie aufzeichnet; bis man erschüttert bemerkt, dass hier keine künstliche Objektivierung stattgefunden hat ..., sondern Kälte sich ausbreiten muss, weil die Empfindungen erfroren waren - erfroren vor Entsetzen." (288)

Das Leben unter den Bedingungen der sich vollziehenden Niederlage, in dem das Grauen und die Verzweiflung zum Alltag wird, in dem die Parole nur "Überleben" heißt oder "Wieder eine Nacht überstanden", wird mehr als deutlich: "So angstvoll haben wir heute den Tag begonnen, saßen bis acht Uhr fix und fertig da und harrten böser Dinge" schreibt die Autorin am 1. Mai 1945. Und: "Ich bin bloß Beute, muss es den Jägern überlassen, was sie mit der Beute tun." (140)

Die Normalisierung, was immer das in diesen Tagen geheißen haben kann, setzt nach dem 7. Mai ein, die Autorin unternimmt erste Streifzüge mit dem Fahrrad, erst in den Süden, dann ins Zentrum Berlins. "Wir verhielten, blickten auf den Bahndamm hinunter. Ein Gewirr von strohgelben Gleisen, dazwischen metertiefe Krater. Schienenstücke ragen hochgebogen in die Luft. Polster und Fetzen quellen aus zerbombten Schlafwagen und Speisewagen. Die Hitze brütet. Brandgeruch hängt über den Schienen. Rings Öde und Verlassenheit, kein Hauch von Leben. Das ist der Kadaver von Berlin." (180)

Die so genannten Ereignisse der Weltgeschichte (Hitlers Tod am 30. April, die Kapitulation Berlins am 2. Mai, die Gesamtkapitulation am 7./8. Mai) spielen in diesen Aufzeichnungen nur insoweit eine Rolle, als sie Rückwirkungen auf das unmittelbare Leben der Menschen haben und das haben sie zunächst einmal so gut wie überhaupt nicht: "Heute verhandeln die Alliierten miteinander. Das Radio spuckt Reden, läuft über von den schönen Sprüchen, mit denen unsere Exgegner einander feiern. Ich verstehe bloß, dass wir Deutschen im Eimer sind, Kolonie, preisgegeben. Ich kann nichts daran ändern, muss es schlucken; will versuchen, mein kleines Schiffchen durchzusteuern." (266)

Erst später, als die Verwaltung wieder aktiv wird, Menschen erfasst und zur Arbeit verpflichtet werden, ist die Geschichte auch wieder Teil des einzelnen Lebens, so die beginnenden Demontagen in Berlin. Hoffnung baut sich nur schleichend auf, aber dennoch wird nach und nach schon im Juni an Projekten gearbeitet. So bastelt die Autorin mit Freunden an diversen Entwürfen von Zeitschriften, für die nur ein Maßstab gilt: "Auf jeden Fall soll in jedem Titel das Wort 'neu' vorkommen" (268). Das alles sind Optionen auf die Zukunft, die sich ebenso rasch zerschlagen, wie sie aufgekommen sind.

Die Aufzeichnungen der Autorin enden Mitte Juni 1945, als ihr Freund von der Front zurückkommt und deutlich wird, dass er mit dem Leben und Erleben der Frauen an der "Heimatfront" nicht zurecht kommt. "Ich habe Gerd inzwischen meine Tagebuchhefte gegeben. (Es sind drei Kladden voll geworden.) Gerd setzte sich eine Weile darüber hin, gab mir dann die Hefte zurück, meinte, er könne sich nicht durchfinden durch mein Gekritzel und die vielen eingelegten Zettel mit den Steno-Zeichen und den Abkürzungen. 'Was soll das zum Beispiel heißen?' fragt er und deutet auf 'Schdg.' Ich musste lachen: 'Na, doch natürlich Schändung.' Er sah mich an, als ob ich verrückt sei, sagte nichts mehr. Seit gestern ist er wieder fort." (281)

Damit und mit der Hoffnung auf ein Wiedersehen endet das Buch, ein außerordentliches Dokument der Zeitgeschichte, das weit über seinen unmittelbaren Anlass hinausgeht. Es sagt viel aus über das Schicksal und die Rolle der Frauen im Krieg, es macht den barbarischen Alltag unter der zivilisatorischen Oberfläche der Menschheit deutlich. Ein ebenso lesenswertes wie empfehlenswertes Buch, trotz der schrecklichen Ereignisse von denen es berichtet.

Nachgedanken

Für mich, der ich 1958, 13 Jahre nach dem im Buch geschilderten Ende des Zweiten Weltkriegs, geboren wurde und meiner Erinnerung nach mit den Folgen des Krieges in Gestalt etwa von Trümmergrundstücken nicht mehr konfrontiert war, liest sich dieses Tagebuch natürlich völlig anders als für die, die in diesen Aufzeichnungen ihre eigene Geschichte, ihre Ängste und Albträume gespiegelt sehen. Zwar blicke ich Tag für Tag auf die Reste eines Betonbunkers aus dem Zweiten Weltkrieg in der Grünanlage vor unserem Haus, aber welche Geschichte, welche Dramen damit verbunden sind, war mir als Kind und später als Jugendlicher nie richtig gewärtig. Zu Hause sprach man nicht über diesen Privatbunker der Nationalsozialisten in unserem Viertel, es lebten schließlich einige davon noch und man musste mit ihnen auskommen. Dass meine Großeltern mit ihrer Tochter nicht den vor ihrem Haus liegenden Bunker zum Schutz vor den Bombenangriffen nutzen durften, war mir nie bewusst und ich habe es lange nach ihrem Tod erst erfahren, als vor wenigen Jahren dieser Bunker endlich zerstört, das heißt mit Beton verfüllt wurde, und die Nachbarn offen über seine Geschichte sprachen.

Dass das Sprechen oder wenigstens Lesen über die damaligen Ereignisse aber wichtig und auch für die Gegenwart erhellend ist, machen die anonymen Aufzeichnungen einer Frau in Berlin überaus deutlich.


© Andreas Mertin 2003
Magazin für Theologie und Ästhetik 23/2003
https://www.theomag.de/23/am93.htm


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Anonyma, Eine Frau in Berlin. Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis zum 22. Juni 1945. Frankfurt 2003