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Magazin für Theologie und Ästhetik


Medienreligion

Religionssoziologische Perspektiven und theologische Deutungen

Günter Thomas

Einleitung

Die sprichwörtlichen Spatzen pfeifen es von den Dächern: Die Medienkultur des ausgehenden zwanzigsten und des beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts hat religiöse Facetten, ja gibt Anlass zu der Vermutung, dass in der audiovisuellen Kultur eine in verschiedene Typen verzweigte eigentümliche Art von Medienreligion entstanden ist. Je nach religionstheoretischem Instrumentarium zeigen die Messinstrumente zumindest religiöse Aspekte bzw. eine religiöse Imprägnierung an.[1] Eine beachtliche Anzahl vornehmlich praktisch-theologischer Publikationen hat sich diesem Phänomenen angenommen.[2] Für viele Religionspädagoginnen und Pfarrerinnen ist die Medienreligion Teil ihres Alltags in einer multireligiösen Umwelt. Die ARD konnte schon vor wenigen Jahren in einem kurzen Werbespot die Tagesschau als Ritual anpreisen und selbst Fokus entdeckte das Thema und widmete dem täglichen Nachrichtenritual eine Titelstory. Und mit dem Titel "Undercover-Religion" lief auch schon ein Fernsehfilm zum Thema, übernahm also das Fernsehen dieses Thema in den Katalog möglicher Selbstbeschreibungen.

Doch so evident viele Einzelbeobachtungen sind, so diffus ist das Gesamtbild. So unübersehbar die Anleihen vieler Werbespots an religiösen Motiven sind, so strittig ist es in der religionsphilosophischen und religionssoziologischen Zunft, hier wirklich von Religion zu sprechen.[3] Und selbst wenn der religionssoziologische Befund einer Medienreligion zutreffend sein sollte, so beginnt damit erst die theologische Arbeit. Wie sollen sich Theologie und Kirche zu diesem Befund verhalten? Sollen sie die Infragestellung einfacher Säkularisierungstheoreme begrüßen? Sollen und können sie die Befunde einfach ignorieren? Sollen sie darauf hoffen, dass diese Religiosität auch der Kirche zugute kommt? Diese Fragen sind schwer zu beantworten, denn die erfolgreiche Präsenz der Medien in der Gegenwartskultur trifft auf eine zutiefst verunsicherte Kirche, die um ihren kulturellen Einfluss bangt und kämpft, die, wenn man den Medienberichten Glauben schenken würde, schon lange mit einem Exodus ihrer Mitglieder konfrontiert ist und die durch eine 'nachatheistische Interesselosigkeit', neureligiöse Bewegungen, Esoterik und New Age schon genug unter Druck gesetzt wird.

Vor dem Hintergrund dieser schwierigen und komplexen Situation möchten ich in den folgenden Überlegungen drei Problemkreise abschreiten. Im ersten möchte ich einen Differenzierungsvorschlag für die verschiedenen Interaktionsebenen zwischen Medien und Religion vorstellen. Ich hoffe, dass er zur Klärung und Präzisierung dessen beiträgt, wovon wir reden, wenn wir von Medienreligion oder von religiösen Aspekten der Medien sprechen. In einem zweiten Schritt möchte ich verschiedene theologische Reaktionsweisen auf den Befund bzw. auf die Indizien einer Medienreligion bedenken. Im dritten Teil möchte ich die Aufforderung zu einer Deutung aufgreifen, indem ich wiederum exemplarisch Beziehungen aus dem Resonanzraum zwischen Medienreligion auf der einen Seite und Kirche und Theologie auf der anderen Seite erkunde.

I. Audiovisuelle Medien und Religion. Vier Ebenen der Analyse und der Interaktion

Um die Emergenz von Medienreligion zu sehen und um historische Wandlungen im Verhältnis einzelner Medien zu Religion zu erfassen, erscheint es mir sinnvoll, ja unabdingbar, bei der Untersuchung des Verhältnisses zwischen Medien und Religion sowohl Rezeptionsrichtungen als auch mehrere Ebenen der Interaktion und Analyse zu unterscheiden. Dabei gilt es auch zu bedenken, von welcher Seite, d.h. ob vom Christentum aus oder von den Medien aus die Rezeptionsrichtung und die Interaktionsebene betrachtet wird.[4]

1. Rezeption von Kommunikationsmedien durch die Kirche

Zunächst ist es ein kaum zu übersehender Sachverhalt, dass das Christentum schon immer bestimmte Kommunikationsmedien eingesetzt hat, sich in ihnen selbst vollzogen hat. In den letzten Jahrzehnten war es die Semiotik, die eindringlich auf die Abhängigkeit von natürlich-sprachlichen, bildlichen, musikalischen und räumlichen Zeichensystemen (Kommunikationsmedien im Luhmannschen Sinne) aufmerksam machte und auf die theologischen Implikationen verwies. Die Rezeption allgemein kultureller, außerreligiöser oder fremdreligiöser Kommunikationsmedien und -formen durch die christliche Kirche und deren Reinvestition in andere außerkirchliche kulturelle Bereiche ist ein prinzipiell unabschließbarer Prozeß. Die Kommunikation des Christentums ist auch nicht denkbar ohne die Aufnahme von Verbreitungsmedien wie Schrift, Buchdruck und Radio. Seit dem Aufkommen audiovisueller Verbreitungsmedien sind auch diese Teil dieses facettenreichen Rezeptionsvorgangs.

2. Rezeption von Religion durch Medien

Gegenüber dieser basalen Ebene geht es bei den von mir anvisierten Verhältnissen zwischen Medien und Religion um die umgekehrte Rezeptionsrichtung. Doch wenn nun von Medien die Rede ist, so wird ein sehr spezifischer, sich erst im 20. Jahrhundert klar ausbildender Zusammenhang zwischen Medientypen ins Auge gefasst. Im Fokus der Aufmerksamkeit ist darum die Kombination der Kommunikationsmedien mit organisatorisch verfassten Verbreitungsmedien, die sich in der späten Moderne zu einem weitgehend eigenständigen gesellschaftlichen Teilsystem herausgebildet hat, d.h. dem Mediensystem in Gestalt von Fernsehen, Kino, Radio, Internet, Musik- und Videoproduktionen.[5] Im Blick auf diese Rezeptionsrichtung lassen sich, exemplarisch konzentriert auf das Fernsehen, zumindest vier Typen bzw. Ebenen der Beziehung zwischen Medien und Religion unterscheiden.

a) Augenfällig ist die erste Beziehungsform, bei der es um Selbstdarstellungen und Fremddarstellungen traditioneller, expliziter Religionen im Medium geht. Beim "Wort zum Sonntag", bei Gottesdienstübertragungen im Fernsehen oder bei Radioandachten handelt es sich um solche Selbstdarstellungen. Serien über Pfarrer oder Pfarrerinnen, Magazinbeiträge zum Kirchentag, Reportagen über diakonische Einrichtungen oder gar Talkshows über entlassene Theologieprofessoren und homosexuelle Priester stellen demgegenüber Fremddarstellungen, d.h. von den Medienverantwortlichen selbst gesteuerte Präsentationen bekannter, traditioneller Religion dar. Auf diese Ebene konzentrieren sich bis heute das kirchliche Medienengagement und die kirchlichen Ausbildungsbemühungen.

b) Eine erste Spur, die zu Medienreligion führen kann und die auf kulturelle Rezeptions- und Transformationsprozesse aufmerksam macht, findet sich in der zweiten Beziehungsform. Hier geschieht es, dass religiöse (und d.h. nicht nur christlich-religiöse) Motive, Symbole, Themen und Bilder in verschiedenste fiktionale wie nichtfiktionale Sendungen aufgenommen werden. Selbstverständlich können diese Motive, Symbole, Themen und Bilder von einem Beobachter dieses Prozesses auf das Repertoire spezifischer Religionen zurückgeführt werden, aber dieser Rückverweis geschieht eben zumeist nicht in der Sendung oder dem Genre selbst. So durchziehen Paradiesmotive die Ikonographie des individuellen Glücks in der Werbung, Vergänglichkeitsmotive sind in Fernsehserien eingestreut, welche zugleich das Leben in einer komprimierten, verstehbaren und in seiner Fragmentarität rekombinierbaren und geschlossenen Form darstellen.[6] Das religiös kosmologische Symbol der Kugel in der Hand des Pantokrators kehrt wieder als Erdkugel in Nachrichtensendungen. Immer wieder bearbeiten Spielfilme Probleme der Sünde, der Schuld und der Lebenserneuerung. In unendlicher Wiederholung stellen sie die Persistenz und die Formen des Bösen dar, dessen Macht in den Inszenierungen der Konfrontationen zwischen guten und destruktiven Kräften immer wieder ausgetestet wird.[7] Die Frage nach Versöhnung, Erlösung und der Möglichkeit von Neuanfängen durchzieht subtil auch schon das Vorabendprogramm. Wenn dann eine Zigarettenmarke mit Kirchenfenstern und mit Sprüchen wie "Das gefällt der Gemeinde" wirbt, dann ist dies gegenüber den mythischen Erlöserfiguren mancher Kriminalfilme eher eine triviale Rezeption. Innerhalb dieses Beziehungstyps werden Filmemacher zum kulturellen Bricoleur, ereignen sich Crossovers zwischen verschiedenen kulturellen Formen und werden Medienprodukte zu Symbolcollagen aus Fragmenten verschiedener kultureller Traditionen.

c) Die dritte Beziehungsform ist durch eine Adaptation und Transformation religiöser Rituale in einzelnen Sendungen gekennzeichnet. Was ist damit gemeint? Eine ursprünglich religiöse Praxis oder ein religiöses Ritual wird strukturbildend, formgebend und funktionsstützend in ein Genre aufgenommen und diese Rezeption geht deutlich über einzelne Motive, Symbole oder Themen hinaus. Das "performative Ereignisfernsehen" lässt Menschen sich den Bund der Ehe versprechen, zelebriert die Veröffentlichung von Beschädigungen des Lebens und Bekenntnissen von Schuld, feiert Versöhnung und organisiert Erfahrungen des Staunens, die an Wunder grenzen.[8] Politische Magazine routinisieren moralische Entrüstung, ritualisieren den gesellschaftlichen Entzug von Achtung. Empathie und Seelsorgerituale werden von fliegenden religiösen Grenzgängern in Szene gesetzt. Nachrichtensendungen mit ihrer schon in den visuellen Eingangssequenzen vorgeschlagenen Unterstellung einer Beobachtung der ganzen Welt/Wirklichkeit sind Ordnungsrituale, die nicht nur alle wichtigen Ereignisse des Tages immer in den gleichen Zeitrahmen fassen, sondern durch die Benennung aller relevanter Unglücke die unbeschreibbare, relative Ordnung des Nicht-Beschriebenen unterstellen. Spielshows feiern die Entlastung von dem Gesetz der sozialen Erwartungen in dem umschlossenen Raum des Zweckfreien. Musikvideos zelebrieren mit mythischem Material existentielle Grundhaltungen und -erfahrungen der Destruktion, des Aufbruchs, der Erfüllung. Andere Sendungen inszenieren den Test moralischer Grenzen, erlauben diese Grenzen von beiden Seiten aus zu beobachten. Und nicht zuletzt ermöglicht Big Brother einen wunderbaren Tausch: Die Zuschauer tragen zur Veröffentlichung und Ausweitung der Menschen im Container bei und dürfen dafür exzessiv praktizieren, was ihnen im normalen Leben untersagt wird: Andere, der eigenen Sympathie nicht werte Mitglieder der bzw. dieser Gesellschaft einfach rauswerfen. Und wer wollte nicht schon immer im Kleinformat praktizieren, was den Gott der metaphysischen Tradition auszeichnete: andere Beobachter beobachten und Inklusion und Exklusion regulieren.[9] Der Sendestrom selbst verklammert im Fall des Fernsehens verschiedenste 'religiöse' Aussagekomplexe und Einzelrituale mit spezifischen 'Theologumena'. Diese werden, so ist zu vermuten, ähnlich selektiv und altersspezifisch rezipiert, wie es innerhalb der Kirchen die Menschen im Kontext ihrer Lebensgeschichte und Frömmigkeitsprägung tun.

d) Die vierte Beziehungsebene betrifft religiöse Formen und Funktionen, die in strukturellen Aspekten der Verarbeitung, Konstruktion und Präsentation der 'Wirklichkeit' in den Medien und insbesondere im Fernsehen greifbar sind. Sie übergreifen die Ebene der Einzelsendung, denn sie sind auf der weiteren Stufe der strukturellen und den Gesamtfluss des Programms betreffenden Aspekte zu entdecken. Als unendliche, stets zerfallende aber individuell nicht zerstörbare Endlosliturgie, d.h. als liturgische Ordnung, begleiten die Fernsehprogramme den Alltag der Menschen, mit einer inneren Ordnung und der Möglichkeit der je individuellen Zeitordnung der Lebenswelt der betreffenden Zuschauer.[10] Mit frei regulierbarer Spannweite können sie Transzendenzen und 'Außeralltäglichkeiten' organisieren. Mit dem stets mitlaufenden Anspruch, die unübersichtliche moderne Wirklichkeit sichtbar und beschreibbar zu machen, unterstellt sich das Fernsehen selbst die Erzeugung einer nicht nur sozialen Kosmologie. In großer Nähe zu Luthers großem Katechismus erzeugt und repariert es eine Form der 'ontological security' d.h. ein basales Vertrauen in die relative Funktion der unübersichtlichen Lebenswelt jenseits der eigenen unmittelbaren Erfahrung.[11] Der Strom selbst bietet mit seinen präfigurierten Erfahrungsräumen in vielfältigen Abstufungen eine Verlassen des Alltags inmitten des Alltags, mit dem sicheren Versprechen, in diesen narrativ-mythischen und stark personalisierten Gegenwelten dennoch nicht verloren zu gehen. Den vor dem Bildschirm Versammelten offeriert das Fernsehen Erfahrungen der Gemeinschaft, die mit einer dualisierenden Typik Gemeinschaft/Gesellschaft oder Gemeinschaft/Vereinzelung nicht wirklich greifbar sind. Im Fall von Medienereignissen kann sich, wie z.B. der Olympiade, eine globale Ökumene aufbauen.[12]

Vor dem Hintergrund der Differenzierung dieser Ebenen stellt sich nur die Frage: Aber wo beginnt Medienreligion? Entsteht Religion durch die evolutionär unwahrscheinliche Vernetzung bestimmter kultureller Kommunikationsformen so ereignet sich Medienreligion im Überschneidungsbereich der dritten und vierten Ebene. Erst hier werden Erfahrungsräume geschaffen und Ereignisabfolgen inszeniert. Der Auftritt von dümmlich-naiven Pfarrern in der Werbung und der Rekurs auf das Kreuz in vielen Videoclips mag eine für die Kirchen ärgerliche Angelegenheit sein, weil hier christliche Symbolik karikiert und verschlissen wird, aber Medienreligion liegt hier noch nicht vor. Der Qualitätssprung ereignet sich dort, wo die Rezeption von Motiven, Symbolen und Themen in die Schaffung von inszenierten Erfahrungsräumen eingeht und hierbei kulturelle Formen und Funktionen der Religion übernommen werden. Hier kann implizite Religion entstehen. Hier kann implizite Religion beobachtet werden, wenn sich die Theologie für einen Moment nur auf einen vergleichenden religionssoziologischen und religionswissenschaftlichen Blick über die eigene Schulter einlässt.

An dieser Stelle müssen einige kurze Bemerkungen zur Frage der Identifikation und Zuschreibung von Religion genügen. Religion wird identifiziert über eine Merkmalset, d.h. über ein Verfahren der polythetische Klassifikation, ohne dass hierbei diese Zuschreibung von Religion an die semantische Selbstbezeichnung 'Religion' des betreffenden Systems gebunden ist.[13] Denn Religion ist eine Emergenzphänomen, das aus der Kombination distinkter Kommunikationsformen hervorgeht. Zwei Missverständnisse sind an dieser Stelle zu vermeiden. Die Identifikation der Medienreligion als eine implizite Religion spätmoderner Gesellschaften ist ein religionssoziologischer bzw. religionsphänomenologischer Befund, der mit der Identifikation noch nicht unmittelbar eine direkte Qualifikation enthält.[14] Diese Religion ist wie alle andere Religion an sich weder ein lebensförderliches und begrüßenswertes noch an sich verwerfliches Phänomen. Die Beobachtung von Medienreligion als Einrichtung der westlichen Gesellschaften enthält zu keinem Zeitpunkt die Unterstellung, jeder Mensch sei religiös, habe oder brauche unbedingt Religion. Der Anthropologe Clifford Geertz formuliert darum pointiert: "Ein Mensch ... kann ästhetisch unempfindsam, religiös desinteressiert, für wissenschaftliche Analyse nicht ausgerüstet und der Geschichte gegenüber ignorant sein; er kann jedoch nicht völlig ohne Common sense leben und überleben."[15] Gerade die postsozialistischen Gesellschaften belegen diese Auffassung. Doch damit bin ich, wie Sie sehen, schon in Fragen der Deutung hineingeraten.

II. Theologische Reaktionen und Deutungen

In der Themenstellung für diesen Vortrag wurde ich gebeten, eine theologische Deutung der Medienreligion vorzunehmen. Das Syndrom Medienreligion fordert in der Tat die Theologie zu einer Interpretation und die Kirchen zu Reaktionen heraus. Dabei besteht die Herausforderung aber zuallererst darin, zwei scheinbare Alternativen zu vermeiden. Gleichgültig ob die Theologie ihren Flug mittels prophetischer Sicht oder feiner theoretischer Instrumentarien steuert, den sogenannten kulturellen Blindflug kann und darf sie sich um ihres eigenen theologischen Anliegens willen nicht leisten. Demgegenüber ist aber auch zu betonen, dass die Theologie als Teil der religiösen Gegenwartskultur und mit der Aufgabe ausgestattet, den Glauben und die Kirche der Gegenwart theologisch zu orientieren, sich auch nicht auf eine historisierende Beobachtung anderer Beobachter zurückziehen kann.[16] Auch eine theologisch verantwortete Hermeneutik der Religion der Gegenwart zielt auf eine konstruktive dogmatische Verantwortung der Sache des Evangeliums und bleibt nicht auf halbem Wege bei der Deutung der Religion in der Kultur stehen. Und auch die Kirche kann sich in der sozialen und kulturellen Gegenwart nur durch eine sensible Beobachtung ihrer Umwelt verorten, wenn sie die Verortung in der dynamischen Realität Gottes nicht aus dem Blick zu verlieren.[17]

Entsprechend der Pluralität der theologischen Orientierungen und Analysen der kulturellen Gegenwart, gibt es nicht nur eine, sondern mehrere theologische Deutungen des Problemkomplexes 'Medienreligion'. Einige, durchaus verbreitete theologische und kirchliche Reaktionsweisen sind mit Fragezeichen zu versehen, auch dann, wenn sie eine wichtige particula veri enthalten. Vier Reaktionstypen möchte ich umrisshaft beschreiben.

1. Die differenzorientierte Deutung: Resonanzverstärkungen

Man kann aus einer soziologischen, d.h. differenzierungstheoretischen Perspektive heraus die Interaktionsebenen zwei bis vier ausschließlich als Anzeichen einer intensiven Rezeption religiöser Elemente des Mediensystems zugunsten einer Resonanzverstärkung der systemeigene Medienkommunikation betrachten. Was nicht Religion im Religionssystem ist, kann nicht Religion sein - weil es eben zum Mediensystem gehört.[18] An dieser Interpretation der 'reinen' Soziologie ist sicherlich richtig, dass z.B. im Medium Fernsehen alle diese 'religiösen Elemente' eingeordnet werden in eine Ökonomie der Aufmerksamkeit, die wiederum an den ökonomischem Markt gekoppelt ist. Ob damit allerdings der Verdichtung der Formen, den Erfahrungsmöglichkeiten der Zuschauer und der Eigendynamik der Entwicklung zureichend Rechnung getragen wird, das möchte ich bezweifeln. Zu deutlich ist die religiöse Tönung der entsprechenden Phänomene. Diese kann aber von der 'reinen' Theologie, die sich primär an den Phänomenen und Problemen der eigenen Reflexionstradition orientiert, ebenso ignoriert werden. Im Reinhalten des eigenen Reflexionsbereiches, d.h. im Zurückweisen einer Verschmutzung der eigenen kategorialen Instrumentariums, treffen sich in diesem Fall Theologie und Soziologie. Die mit diesem Ansatz verbundene theologische Sorge, sich durch das Anhängen an jede intellektuelle Mode als Theologie selbst zu trivialisieren, ist in einer Mediengesellschaft allemal berechtigt. Und doch muß die Theologie ihre kulturelle Gegenwart adressieren.

2. Die fragmentorientierte Deutung: Traditionssplitter

In ihrer paradoxen Konstellation richtig, aber langfristig trügerisch ist eine Deutung, der gemäß die Präsenz christlich-religiöser Symbole und Motive in populären Kinofilmen, Zeichentrickfilmen, in Musiktiteln und in Videos die immer noch gegenwärtige kulturelle Wirksamkeit und Präsenz der christlichen Tradition anzeigt - auch wenn die Motive eines solchen Rekurses von zweifelhafter Natur sein sollten.[19] Offensichtlich und schwer zu bestreiten ist die Beobachtung, dass mancher Werbetexter und mancher Filmemacher ein größeres Vertrauen in die Resonanzfähigkeit christlicher Symbole hat, als der eine oder andere kirchenleitende oder akademisch lehrende Theologe. In der Tat ist das beispielsweise im Konfirmanden- und im Religionsunterricht vermittelte Wissen nicht nur zum Verstehen der Shakespeareschen Dramen notwendig, nein, es ist auch für ein tieferes Verständnis der Videoclips Michael Jacksons unabdingbar. Und die Effektivität dieser Bildung im Blick auf den Aufbau von religiösen Assoziationshintergründen unterstellen faktisch nicht wenige Kreative der Medienkultur. Gerade weil die Medienreligion in ihrer rezeptiv-parasitären Gestalt so machtvoll ist, dokumentiert sie die zumindest latente Macht der christlichen Tradition und verweist auf die komplexen und langfristig wirkenden Muster des Christentums in kulturellen Tradierungsprozessen. Dieser Befund ist darum ohne Zweifel zustimmungsfähig. Bedenklich wird er, wenn er dazu verführt, die mittel- bis langfristigen Rückwirkungen auf die christlichen Kirchen aus den Augen zu verlieren. Denn Symbole, Motive und Bilder werden auch verschlissen und trivialisiert. In dem öffentlichen semiotischen Prozeß erfahren Bedeutungen auch Verschiebungen, die von Kirche und Theologie als Entstellungen und Verzerrungen gelesen werden müssen. Nicht zuletzt erschließt sich die Bedeutung von Symbolen aus ihren syntaktischen und pragmatischen Kontexten heraus. Die christliche Symbolik ist daher nicht aus Gestaltungen einer christlichen Lebensform herauszulösen. Tiefgreifende, zu stabilen Gemeinschaften führende existentielle Erschließungserfahrungen sind von flackernden Hintergrundsassoziationen zu unterscheiden.

3. Die kulturoffene, hochkulturelle Deutung: Parareligion

Hochkulturell orientierte, aber kulturoffene Verächter der Popularkultur sehen, ausgerüstet mit einem normativ aufgeladenen Religionsbegriff, in den Medien nicht Medienreligion, sondern nur 'ersatzreligiöse Sinnstiftung', der mit Sorge begegnet werden muß. Wie das EKD-Impulspapier "Gestaltung und Kritik. Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur" exemplarisch dokumentiert, gilt für diese Position, dass nur die Kunst wie die Religion ausdrückt, "was uns unbedingt angeht, die existentielle Betroffenheit durch eine letztgültige Wirklichkeit", weil eben beide "an die individuelle Erfahrung gebunden sind".[20] Die Liberalität dieser "Dokumentafrömmigkeit" schließt jedoch die Medienreligion, ebenso wie religiöse Aspekte des Sports aus. Doch damit verschließt sie sich vorschnell der Wahrnehmung der Transformation von Religion in der Spätmoderne. Damit verschließt sie sich auch gegen ihre Intention der Verwandlung derjenigen modernen Problemstellung, die unter dem Titel "Religion und Ästhetik" bzw. "Kunstreligion" die Gemüter und Geister des 18. und 19. Jahrhunderts bewegte. Die pejorative Qualifikation als 'Parareligion' oder 'Pseudoreligion' eröffnet zu früh eine religiöse Religionskritik und droht damit eine Mischung aus einem religionsphilosophischen Snobismus und einer theologischen Immunisierungsstrategie zu offenbaren. Eine solche normative Distanzierung von sogenanntem modernen 'Religionsersatz' nimmt m.E. den dichten Phänomenbefund nicht ernst genug und stoppt die Wahrnehmung wie auch die Analyse zu früh. Darüber hinaus vermengt sie die notwendige religionssoziologische Betrachtung und das ebenso unentbehrliche theologisch-dogmatische Urteil, die zu unterscheiden die Kunst der doppelten, d.h. kultur- und religionstheoretischen wie auch der theologischen kulturellen Selbstverortung der Kirche ist.

4. Die kulturoffene, religionsinteressierte Deutung: subjektive Bricolage

Welche Deutungen eröffnet der Befund: Religion, speziell implizite Religion? Die verschiedenen Aspekte von Medienreligion könnten als ein hoffnungsvoll stimmendes Zeichen für ein Bedürfnis nach Religion gedeutet werden. Sie wären dann ein Mosaikstein im Bild einer nachsäkularisierten, nachkirchlichen, wenngleich auch nachchristlichen Religiosität, in der die sinnsuchenden Menschen zu Bricoleuren, zu freien, individuell operierenden Bastlern ihres religiösen Deutungshorizontes werden.[21] Die Medienreligion könnte so als Moment der impliziten gesellschaftliche Rückkehr von Religion gedeutet werden. Sie wäre dann sinnenfälliger Ausdruck einer untergründigen, in jedem Menschen wirksamen Lebensmacht der Religion, die in verschiedensten kulturellen Gestalten ihr Darstellungsmaterial findet und gerade so ihre Freiheit gegenüber institutionellen Religionsformen wahrt und die Freiheit des Subjekts steigert. In der Medienreligion ginge es dann um die Erfahrung einer absoluten Realität, um die Darstellung unmittelbarer Religion, die möglicherweise im Horizont christlicher Symbolik vertieft, überboten und korrigiert werden kann.[22] Eine Stärke dieser Deutung kann, zumindest bei Vermeidung der Vertiefungsbemühung, sein, dass sie nicht versucht, von einer Phänomenologie der Religiosität der Gegenwart ausgehend, Wasser auf die Mühlen des christlichen Glaubens leiten zu wollen. Denn Plausibilitätsgewinne für den christlichen Glauben sind im Feld der Medienreligion sicherlich keine zu erzielen. Die zweite Stärke dieser Deutung ist ohne Zweifel, sich auf die Fülle und Komplexität der Phänomene einzulassen, ohne durch immunisierende Distanznahmen die Beobachtung zu trüben. Und dennoch möchte ich im folgenden an diese Deutung mehrere Fragezeichen anbringen, Fragezeichen, die zugleich die von mir vorgeschlagene Deutung konturieren: Unterstellt diese Deutung nicht eine fragliche Identität von Religion hinter ihren vielfältigen Erscheinungen? Unterschätzt sie nicht das kulturelle Gefährdungspotential, das von jeder Religion, und damit auch von der Medienreligion ausgehen kann?

III. Medienreligion und Kirche - Facetten eines Resonanzfeldes

Wie kann eine im Gegenüber zu den skizzierten Deutungen entwickelte theologisch verantwortbare Interpretation der Medienreligion aussehen? Wie die Frage nach einer theologischen Deutung indirekt anzeigt, gibt ja es nicht nur theologische, sondern auch kultur- und religionswissenschaftliche, auch religionsgeschichtliche. Und doch droht m.E. die Suche nach der einen theologischen Deutung der überraschungsreichen Komplexität des Verhältnisse zwischen Medienreligion und Kirche nicht gerecht zu werden. Zwischen Medienreligion und Kirche entsteht vielmehr ein Resonanzraum, der mehrere, nicht nur einseitige und nicht strikt monokausale Beziehungen enthält. Dieser Resonanzraum führt sowohl zu einer Sensibilisierung der kulturellen Umweltwahrnehmung als auch zu einer Intensivierung der Selbstwahrnehmung von Kirche und Theologie. Der Versuch der einen Deutung bricht sich in ein Spektrum, das von einem Auslösen theologischer Erinnerungen, einer Provokation neuer Interpretationen, ungeplanten Entdeckungen am Eigenen in der Begegnung mit dem Anderen, befreienden und schmerzhaften Differenz- und Lernerfahrungen bis hin zu direkten und indirekten Beiträgen zur kulturellen Gestaltung reicht. Hierbei ist, und dies gilt es gegenüber allen mit dem Religionsbegriff verbundenen Identitätsannahmen und Vereinnahmungsstrategien hervorzuheben, der Ausgangspunkt der Beziehungen Differenz. Im Unterschied zu der kulturoffenen und religionsinteressierten Interpretation steht also nicht die Annahme einer Religion mit einem gleichen Erfahrungskern, eine Identität, am Beginn, sondern die Anerkennung der Differenz, die die Identität des christlichen Glaubens ausmacht.[23] Die Wahrnehmung der Medienreligion in diesem Resonanzraum steigert zunächst theologisch das Distinktionsbewusstsein, denn sie erfolgt aus einer distinkten Perspektive: eben der des christlichen Glaubens, der sich auf den trinitarischen Gott und dessen Handeln bezieht.

Im folgenden möchte ich exemplarisch einige wenige der vielfältigen Facetten der Beziehung zwischen Medienreligion und christlicher Kirche in der Gestalt von fünf Herausforderungen für die Kirche beschreiben. Dabei werden diese Herausforderungen bewusst auf sehr verschiedenen Ebenen liegen, denn es geht mit darum anschaulich zu machen, wie verschieden gelagert die Beziehungen in diesem Resonanzraum sind. Die theologische Deutung der Medienreligion ist dabei in der Formulierung der Herausforderung enthalten.

1. Eine religionstheoretische Herausforderung mit ekklesiologischen und religionspädagogischen Implikationen

Medienreligion kennt keine kirchenähnliche Organisation, aber vielfältige erwartbare, öffentliche Kommunikation. Sie operiert mit sozial hochgradig generalisiertem Sinn, der, verglichen mit der jüdisch-christlichen Tradition, zeitlich sehr instabil ist und sachlich sehr mehrdeutig.[24] Man denke nur daran, wie viele Menschen den Sieg der Liebe über den Tod auf der untergehenden Titanic sahen, wie viele Menschen an der täglichen Konstruktion einer geordneten, bestimmbaren, wenngleich hochgradig labilen Welt in den Nachrichten teilnehmen. Diese Beobachtung vermehrt m.E. die Zweifel an der Auffassung, die eine strikte Unterscheidung vornimmt zwischen individueller, lebendiger, unmittelbarer Religiosität bzw. Frömmigkeit einerseits, und sozial verobjektivierter, vorstellungsmäßig entfalteter, versprachlichter institutionalisierter Religion andererseits. Denn in diesem Dual steckt eine doppelte Fehlabstraktion. Die erste besteht in der Gleichsetzung von Institutionen im Sinne von Formen verstetigter, erwartbarer und thematisch zentrierter Kommunikation und Organisationen im Sinne von rollenspezifisch ausdifferenzierten, rechtlich stabilisierten und über Mitgliedschaften Grenzen regulierenden Formgebungen dieser Kommunikationen. Religion ohne Kommunikation, d.h. "flüssig und lebendig, durch unmittelbare Berührung aus Gott schöpfend, höchst innerlich, persönlich, individuell und abrupt",[25] völlig institutionenfrei, ist undenkbar, wenngleich die Organisationen sich wandeln und fast ganz zurücktreten können.[26] Religion jenseits und außerhalb der Organisationsgestalt von Kirchen ist, wie u.a. die Medienreligion belegt, ein offensichtliches Faktum. Religion ohne erwartbare und verstetigte Kommunikation, d.h. ohne Institution, ist aber so unmöglich wie eine Privatsprache. Ist die vorstellungs- und zeichengebundene Kommunikation erfahrungsevozierend und -generierend und stellt die öffentliche Kommunikation die notwendigen symbolischen Deutungsmittel bereit, so gibt es weder eine vorsoziale, rein subjektive, noch eine unmittelbare oder gar unsichtbare Religion.[27] Beide, die Medienreligion wie auch die christliche Kirche sind Kommunikations- und Gemeinschaftsphänomene, in denen die Zeichensysteme, Geschichten, Rituale, Symbolnetze Erfahrungen machen und insofern Menschen dann Erfahrungen machen.[28] Daher besteht die Herausforderung für kirchliches und pädagogisches Handeln darin, solche qualifizierten Erfahrungsräume öffentlicher und gemeinschaftlicher Kommunikation des Evangeliums zu schaffen.

2. Die kulturtheologische Herausforderung einer trinitarisch differenzierten Wahrnehmung kultureller Umwelten

Eine Kirche, die sich selbst dem schöpferischen Handeln Gottes verdankt, wendet sich ihren Umwelten mit differenzierten, mehrschichtigen Erwartungen zu. Die die Kirche umgebende und sie zugleich mit bedingende Kultur ist der Ort, zu dem sich Gott in differenzierter Weise verhält und in dem Zeichen des trinitarisch differenzierten Handelns Gottes zu finden sind.[29] Auch die Medienreligion ist Teil der sich selbst gefährdenden, Natur und Kultur übergreifenden Schöpfung, mit ihrer Kreativität und Fragilität, ihren Destruktionspotentialen und Schönheiten. Auch sie ist der Ort, an dem Kain Abel immer wieder erschlägt. Aber auch sie ist Teil der von Gott bewahrten Schöpfung, die nicht ihrer Vernichtung, sondern ihrer Verwandlung entgegengeht. In der Begegnung mit ihr kann und darf Theologie und Kirche nicht von einer vollständigen Unbekanntheit Gottes, nicht von einer wirklichen Gottlosigkeit ausgehen.[30] Auch die Unterhaltung als Gegenwelt des Nutzens ist in all ihrer Ambivalenz wie andere "Gestalten der Kultur" auch Teil der geschöpflichen "Ökonomie des Humanen".[31] Beim Blick auf die Medienreligion weiß die Kirche, dass sie, um eine Vorstellung Karl Barths aufzugreifen, auch außerhalb ihrer selbst mit 'Gleichnissen des Himmelreiches' rechnen muß, d.h. mit Gestaltung von Liebe, von Hoffnung und Vertrauen, die als Zeichen der Gegenwart des Auferstandenen zu deuten sind und ihr, der Kirche, zur Ermahnung und Korrektur gegeben sind.[32] Auch innerhalb der Medienreligion ist damit zu rechnen, dass Gott nicht völlig unbekannt ist und dass die Kirche darum diese nicht nur 'kritisch begleitet'. Gegenüber einer naiven Einseitigkeit in der Wahrnehmung ist aber auch daran zu erinnern, dass Christen im Glauben demjenigen nachfolgen, der die Kräfte der Demütigung und der Zerstörung der Würde der Menschen bekämpft hat, der gegen Mächte und Gewalten angegangen ist und die Macht kultureller Selbstgefährdung offengelegt hat.[33] Dass manches Produkt der audiovisuellen Medien in pointierter Weise geistlos ist, dürfte unbestritten sein. Und dennoch sind die audiovisuellen Produktionen in diesem Jahrhundert ein ungeheures Ereignis eines Ausbruchs menschlicher Kreativität und Imagination, das auch Menschen verbindet, zusammenführt und Horizonte überschreiten lässt.[34] Und nicht zuletzt kann selbst das Fernsehen nicht nur Menschen als Quotenbringer missbrauchen, sondern, zumindest punktuell, auch Barmherzigkeit mobilisieren.

Diese Perspektiven mögen an dieser Stelle sehr dogmatisch-theologisch formuliert sein. Aber angesichts der Fülle und inneren Komplexität der Erscheinungen der Medienreligion kann es ebenso wie in anderen kulturellen Umwelten nicht um eine einfache Bejahung oder Zurückweisung gehen. Vielmehr gilt es theologisch zu bedenken, wie differenziert, und dies heißt, wie trinitarisch unterschieden, die vielgestaltige Wirksamkeit Gottes in seiner ganzen natürlichen und kulturellen Schöpfung im Raum der Kirche wahrgenommen werden muß. Die mit dem Hinweis auf Kreativität und Zerstörungspotentiale angedeutete Doppelgesichtigkeit der religiösen Aspekte des Fernsehens sollte die Theologie vor aller notwendigen Kritik aber an eine selbstkritische Einsicht erinnern: Es dürfte einer der ernüchternsten und von Theologie und von den Kirchen anzuerkennenden Erkenntnisse der Religionskritik und Religionsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sein, dass nicht jede Gestalt von Religion lebensförderlich ist und das friedliche Zusammenleben der Menschen befördert. Wir sehen es täglich, dass Religion, nicht nur Pseudo- oder Parareligion, eine Macht der Beschädigung oder gar der Zerstörung des individuellen, sozialen und kulturellen Lebens werden kann. Die Spur der Religion in Geschichte und Gegenwart ist auch eine Spur der Destruktion. Religion ist nicht nur ein Medium der Lebenssteigerung, sondern kann auch zu einem Medium der Steigerung der persönlichen wie der gemeinschaftlichen Zerrüttungspotentiale werden - für die direkt an ihr Partizipierenden oder für andere. Religion ist ambivalent und leicht pervertierbar. Gerade die christliche Religion sollte diese Einsicht stets selbstkritisch gegenwärtig haben - im Blick auf sich selbst und auf andere. Aus der Einsicht in diesen Sachverhalt erwächst die Verantwortung für eine theologische Religionskritik, die vom christlichen Glauben aus nach der Wahrheit und Lebensdienlichkeit der 'anderen Religion' fragt und auch deren Zerstörungspotential kritisch reflektiert. So spannen die 'Gleichnisse des Himmelreiches' und die theologische Religionskritik ein breites Spektrum theologischer Wahrnehmung der Medienreligion auf.

3. Die systematisch-theologische Herausforderung der medialen Dauertheodizee

Unter den speziell die systematisch-theologische Erkenntnisbildung betreffenden Herausforderungen möchte ich nur eine herausgreifen und kurz umreißen. Die Medienreligion bietet eine permanente, vielgestaltige Auseinandersetzung mit kulturellen und natürlichen Kräften der Beschädigung und Zerstörung des individuellen und gemeinschaftlichen Lebens. Dies betrifft nicht nur viele Unterhaltungsgenres, auch die täglichen Nachrichten stellen sozusagen den für die europäische philosophische Aufklärung so folgenreichen Eindruck des Erdbebens von Lissabon auf Dauer. Die morbide Faszination, mit der den Einbrüchen in das Leben und den Bedrohungen des individuellen und gemeinschaftlichen Glücks begegnet wird, zielt auf der Rezipientenseite auf die Differenzerfahrung des Lebenssteigerung in der Begegnung mit der Lebensbedrohung. Ihr entspricht, dass die mediale Darstellung und Inszenierung einer bedrohten Wirklichkeit im Common sense zugleich eine Mischung aus einem Bedürfnis nach Erfahrungsintensivierung und Zynismus routinisiert. An ihr prallt, so ist mit guten Gründen zu vermuten, die theologische Behauptung, dass Gott so alles herrlich regiert, dass sein Wesen die Liebe sei oder dass er gar 'die alles bestimmende Wirklichkeit' sei, bei vielen Menschen einfach ab.[35] Der von der religionssoziologisch geprägten liberalen Seite vorgetragenen Auffassung, in der Religion gehe um einen umfassenden, absoluten, nicht bezweifelbaren Sinn, ergeht es an dieser Stelle nicht besser.[36] Die mediale Dauerkonfrontation mit den Nachtseiten der Schöpfung erodiert diesen Sinn oder lässt ihn erst gar nicht entstehen. Und die mit dem Trost 'das Leben geht weiter' ausgestattete mediale Dauerliturgie scheint diesen umfassenden Sinn auch nicht mehr nötig zu machen.

Selbstverständlich ist die Theodizeefrage nicht neu, sondern von bedrängender Daueraktualität. Und sie ist zweifellos nicht mit einem theologischen Handstreich zu lösen. Nur hat z.B. die Fernsehkommunikation die prekäre kulturelle Balance aus positiver und negativer Nahbereichserfahrung, d.h. die kulturelle Ökologie der Erfahrungen des Lebensabträglichen und Lebensförderlichen, durch die Dauerkonfrontation mit negativer Fernerfahrung nachhaltig zerstört. Auch ohne selbst zu leiden, wird stets fremdes und fernes Leid als subtile Infragestellung einer grundlegenden Ordnung 'erfahren'. Insofern hat die Theodizeefrage m.E. im Sinne einer Entprinzipialisierung eine Wandlung und durch eine niederschwellige Dauerpräsenz eine Radikalisierung erfahren. Darum denke ich, dass ihre stille oder laute Dauerpräsenz mehr fordert von den Kirchen, als das aktive Beschweigen der Not und mehr als eine von manchen Kanzeln gepredigte Theologie auf dem Niveau der Band Dire Straits: "There is always sunshine after rain...". Die kreuzestheologischen Ansätze in der Theologie des 20. Jahrhunderts erfordern nicht nur eine weitere Entfaltung in Richtung einer mitleidenden Präsenz Gottes im Geist, sondern auch entsprechenden öffentliche liturgische Realisierungen. Vielleicht sollten Kirchengemeinden und Schüler im Religionsunterricht bei Erdbeben, Vulkanausbrüchen, Hungersnöten und quälenden gewaltsamen Konflikten Trauer- und Klagegottesdienste abhalten? Müssen Kirche und Theologie sich nicht verstärkt wieder die Sprachform der Klage, auch der stellvertretenden Klage erschließen? Ist es nicht Aufgabe der Kirche, stellvertretend dem Seufzen der Schöpfung vor Gott Sprache zu verleihen? An diesem Punkt provoziert die medienreligiöse 'morbide Neugierde' bezüglich katastrophaler Beschädigungen des Lebens die Suche nach vertiefter Gotteserkenntnis und einer neuen Sprachfähigkeit.[37] An diesem Punkt werden Fragen der Eschatologie offen gehalten und werden Christen zur Bitte nach einer neuen Schöpfung gedrängt. Angesichts der medialen Dauertheodizee ist die christliche Rechenschaft der Hoffnung theologisch zu präzisieren und liturgisch entsprechend zu inszenieren.

4. Die praktisch-theologische Herausforderung veränderter Mentalitäten

Die Medienreligion, gemeinsam mit ihrer Mentalitätsprägung und dem von ihr verstärkten Markt der Aufmerksamkeit fordert die Kirche hinsichtlich ihres Selbstvollzugs, ihrer eigenen Gestaltung, heraus, die Stile, Gewohnheiten, kulturellen Muster der Gegenwart in der Gestaltung des kirchlichen Lebens ernster zu nehmen. Lassen sie mich dies an drei Beispielen sehr knapp verdeutlichen, wenngleich ich mich hier durchaus zögerlich auf das fremde Feld der praktischen Theologie vorwage.

a) Die in der Mediengesellschaft notwendige freie Beweglichkeit auf dem Markt der Aufmerksamkeit verändert die Bereitschaft der Menschen, am sozialen Leben der Kirche zu partizipieren. Viele Kirchengemeinden machen die Erfahrung, dass sich mehr Menschen (auch sogenannte Kirchendistanzierte) als so mancher Schwanengesang auf kirchliche Frömmigkeit erwarten lässt, engagieren möchten - aber eben nicht 'auf ewig'. Bietet man Menschen projektorientierte Teilnahmeformen an, die von alleine wieder die Teilnahme beenden lassen, so sind sie eher bereit, sich zu beteiligen. Das größte Problem kirchlicher Kreise und Gruppen ist ja nicht, wie man hineinkommt, sondern wie man nach einer gewissen Zeit ohne hohe soziale Kosten wieder herauskommt. Das 'Umschalten' im Sinne einer variierenden Freizeitgestaltung gehört heute zu den nicht negierbaren individuellen kulturellen Grundbedürfnissen einer sozialen Mobilität und darf nicht mit einer grundlegend abnehmenden Bindungsbereitschaft oder gar Bindungslosigkeit verwechselt werden. Vielmehr entstehen neue Bindungsmuster und -typiken, die von den den gesellschaftlichen Kommunikationshaushalt dominierenden Medien wesentlich mit geprägt werden und deren auch positiven Potentiale von den Kirchen erst allmählich erschlossen werden.[38]

b) Das zweite Beispiel betrifft die lebensgeschichtlichen Rituale, die noch immer von einer großen Anzahl von Menschen in Anspruch genommen werden, die aber auch zunehmend vom performativen Realitätsfernsehen aufgegriffen werden.[39] Beobachtet man die Konstruktion lebensgeschichtlicher Einheiten in Soaps oder die Krisentopographie in Popsongs und Videoclips, so fällt auf, dass sie vielfach um kulturelle lebensgeschichtliche Krisen kreisen: Arbeitslosigkeit, Beziehungsabbrüche, Wohnortswechsel, Berentung, Schulanfang, Umzüge, Unfälle etc. Im Gegensatz dazu sind die kirchlichen Begleitungen von Umbrüchen vornehmlich auf kulturelle und gleichzeitig biologische Umbrüche wie Geburt, Reifung, Heirat und Tod konzentriert. Aufgrund der soziokulturellen Entwicklung haben, wie die Bearbeitung von Lebensgeschichten in resonanzstarken Serien exemplarisch anzeigen, die primär kulturellen Passagen stark an Bedeutung gewonnen - ohne dass die Kirchen mit entsprechenden öffentlichen Angeboten religiöser Sprachfindung bzw. mit Verkündigungsformen darauf angemessen reagiert haben. An dieser Stelle drängt sich der Eindruck auf, dass, von Einzelexperimenten abgesehen, quer durch die verschiedenen theologischen Strömungen hindurch die Inkulturation des Evangeliums stagniert. Wollen die Kirchen nicht nur eine Kompetenz in Fragen der Lebensgeschichte und ihrer Deutung behaupten, sondern erweisen, so ist eine Steigerung der liturgischen und theologisch begründeten lebensgeschichtlichen Sensibilität erforderlich.[40] Ähnliches ließe sich, um ein weiteres Beispiel aus dem liturgischen Leben herauszugreifen, auch von dem Erntedankfest sagen. Ihm korrespondiert keine kirchliche Feier, in der in einer definitiv postagrarischen Gesellschaft in Dank, Bitte und Klage der Abhängigkeit von Technik und Forschung vor Gott gedacht wird.[41] In diesen Fällen mahnt die Medienreligion mit ihrer eigenen Rastern menschlicher Sorgen und Schlüsselerfahrungen, mit ihren eigenen Inszenierung des Staunens, der Bewunderung und der Furcht angesichts der Technik und Forschung eine kreativere und alltagsnähere 'rituelle Verkündigung' der Kirche an.

c) Das dritte Beispiel betrifft das kulturelle Leitbild öffentlicher Kommunikation. An welchem Paradigma der Kommunikation und welchem entsprechenden personalen Leitbild sollte sich die Kirche ausrichten? In der Gegenwart ist die Leitfigur unbestritten der Moderator bzw. die Moderatorin. Historisch betrachtet hat die christliche Kirche das Modell des Priesters und im Zuge der abendländischen Literalisierung dann vor allem im Protestantismus das des Lehrers übernommen. Ist in der Gegenwart auch das Modell des Moderators für religiöse, gottesdienstliche Kommunikation geeignet? Ohne die Form des Predigers oder des Priesters zu problematisieren oder zu marginalisieren, gilt es m.E. vor einer letztlich anachronistischen Rückwendung zum Modell des Priesters offensiv auszuloten, welche Formen der 'Verkündigung' nach dem Modell des Moderators gestaltet sein könnten. Denn der Moderator ist beispielsweise in der Lage, ein dem kreativen religiösen Pluralismus und der Vielfalt der Gaben entsprechendes Gespräch zu stimulieren, das durch die persönliche Rückbindung der Beiträge zugleich die Lebensverankerung von Glauben deutlich machen und darüber hinaus zugleich Bildungs- und Mündigkeitsstandards der Moderne aufnehmen kann.

5. Die Herausforderung der Entdeckung eigener kultureller Ressource

Die Medienreligion fordert die christlichen Kirchen dazu heraus zu bestimmten, worin den ihr Beitrag zur Gegenwartskultur bestehen könnte.[42] Um dieser Herausforderung begegnen zu können, ist von den Kirchen nicht ein defensives, sondern ein konstruktives und kreatives Differenzbewusstsein zu entwickeln, das diese dazu führt, sich selbst und die eigenen kulturellen und spirituellen Ressource ernst zu nehmen. Sowohl die Differenz, als auch das Moment der konstruktiven Kreativität ist Voraussetzung eines Beitrags, der einen Unterschied ausmacht. Worin kann dieser Beitrag bestehen? Worauf zielt die Aufforderung, die eigenen Schätze nicht zu vergraben?

Der Beantwortung dieser Frage ist eine Überlegung voranzustellen, die die Vorstellung zielstrebiger Einflussnahmen auf die Gegenwartskultur zu irritieren vermag. Kann eine spezifische und konstruktive kulturelle Wirksamkeit des Christentums bzw. der Kirche als Lebens-, Bildungs- und Zeugnisgemeinschaft gewollt und in ihrer Wirksamkeit intendiert werden? Sicherlich wirkt die Kirche mittels ihrer Wahrnehmung durch andere immer 'irgendwie'. Aber wie jeder Leser Max Webers und jede kirchengeschichtlich Gebildete weiß, waren und sind viele langfristige und tief prägende kulturelle Folgen des Christentums, positive wie fragwürdige, von den Akteuren nicht intendiert worden. Die Beantwortung der Frage nach dem Beitrag der Christen steht also unter dem Vorbehalt, dass dieser Teil eines im präzisen Sinne multipel kontingenten Prozesses ist, in dem ihre Wirksamkeit theologisch hinsichtlich ihrer Abhängigkeit von Gott als auch gesellschafts- und kulturtheoretisch hinsichtlich ihrer Abhängigkeit von unberechenbaren soziokulturellen Faktoren zu bedenken ist. Darüber hinaus wirkt sie nicht nur mit dem was sie nach 'außen' intendiert, sondern auch mit dem, was sie bewusst und mit Selbstbewusstsein ist.[43] Es wäre nicht überraschend, wenn sich hier die für viele kulturelle Prozesse charakteristische Paradoxie einstellen würde, dass zu offensichtliche Intentionen das Intendierte verhindern.[44] Soweit der selbstkritische Vorbehalt gegenüber intendierten Wirkungen. Das Gegenüber zur Medienreligion lässt nun exemplarisch zwei dieser Ressource hervortreten:

a) Die Medienreligion bietet eine historisch einmalige, in ihrem Output kaum ermessbare Erzählmaschinerie für den homo narrans.[45] Sie ist unbestritten der größte Geschichtenerzähler aller Zeiten, der im Unterschied zu reiner Erzählung diese Geschichten performiert.[46] Gerade hierin fordert sie die Theologie und die Kirche dazu heraus, ihre eigenen Geschichten und deren Wirklichkeitskonstruktionen ernster zu nehmen und so der kulturellen Selbstbanalisierung zu widerstehen. Macht man sich bewusst, wie machtvoll und filigran umfassend die narrative Welt aus der Hollywoodschmiede Kinder und Jugendliche sozialisiert, so erscheint mancher Umgang mit den eigenen Geschichten in der Kirche reichlich defensiv, ja selbstzerstörerisch. Sicherlich, in der Rahmung "nur Spaß" oder "nur fiktional" kann der moralische, kognitive oder emotionale Zumutungsgehalt der Mediengeschichten und ihrer Figuren enorm erhöht werden.[47] In ihnen können kulturelle Selbstfestlegungen und Distinktionen 'virtualisiert' ausgetestet werden. Über abgestufte Formen der imaginären Identifikation können Identitäten ausprobiert werden. Gegenüber der audiovisuellen Performance der Bildergeschichten muten die biblischen Geschichten karg an. Und doch sind in ihnen vielfältige Erfahrungen mit Gott und menschliche Wahrnehmungs- und Handlungsmuster sedimentiert, deren Orientierungspotential auch in der Gegenwart weder theologisch noch lebenspraktisch erschöpft ist. Der äußeren Kargheit der die Imagination anregenden Geschichten der Bibel korrespondiert eine innere Komplexität, die auszuloten die Aufgabe des Glaubens ist, der in der Kirche, im religionspädagogischen Wirken und in der Theologie zu verstehen sucht. Flieht die Kirche dieser theologischen Aufgabe, und d.h. auch der dogmatischen Dichte, Schwere und Heterogenität ihres eigenen primären Symbolsystems, so verspielt sie ihr Kapital, das in die Gegenwartskultur zu investieren ist.[48]

b) Den Wert der zweiten kulturellen Ressource nimmt die Kirche über weite Strecken bisher selbst nicht wahr, ja sie hat deren Wert weithin noch kaum entdeckt. Aber es ist anzunehmen, dass ihr Wert in den kommenden Jahren zweifellos enorm steigen wird: Es handelt sich um thematisch gebundene, öffentliche Kommunikation in physischer Kopräsenz, in der sich Menschen über die Belange der gemeinschaftlichen Lebensgestaltung konstruktiv austauschen.[49] Menschen treffen sich, teilen Raum und Zeit, aber nicht sport- oder unterhaltungsorientiert, sondern gemeinsame Erkenntnis und das Wohl der Wirklichkeiten außerhalb der unmittelbaren Erfahrung suchend.[50] Die oftmals mühsame und kraftaufwendige Pflege dieser Ressource mag in radio-, fernseh- und internetbegeisterten Zeiten wie eine kulturelle Fehlanpassung, eine "cultural maladaptation" erscheinen.[51] Sie ist aber ein Schatz, dem nicht umsonst theologisch die Verheißung korrespondiert: "Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen." Diese Dimension der physischen Kopräsenz hat noch eine andere, eminent theologische Bedeutung. Wird hierbei die Universalität des Leibes Christi vergegenwärtigt, so wird die lokale Kirchengemeinde nicht zu einer Variante eines Ortsvereins, sondern vereinigt in pointierter Weise reale (anregende und belastende) interaktive Gemeinschaftserfahrung mit der Aufnahme in die Zeiten, Länder und Kulturen umgreifenden Gemeinschaft des Leibes Jesu Christi.[52] Wird dies theologisch und liturgisch 'realisiert', so erscheint z.B. die 'säkulare Ökumene' der Medienereignisse als ein zwar formanaloges, aber letztlich schwaches und flüchtiges Abbild.[53]

V. Zusammenfassende Überlegungen und Perspektiven

Kirche, Theologie und Pädagogik sind durch das Fernsehen herausgefordert, jenseits von Alarmismus und Vereinnahmung eine konstruktive und differenzierte Sicht auf medienreligiöse Erscheinungen zu entwickeln. Alle drei müssen und können bei aller Ähnlichkeit der Formen und aller Übernahme von Funktionen sensibel und umsichtig ein präzises Distinktionsbewusstsein befördern, das frappierende Nähe und fundamentale Differenzen zugleich vergegenwärtigt. Nur auf dieser Basis können sie für die kulturelle Umwelt außerhalb der Kirche ein Wahrnehmungsspektrum aufbauen, das von relativen 'Gleichnissen des Himmelreiches' bis zu einer theologischen Religionskritik reicht, die die Beschädigung von Menschen und Zerrüttung kultureller Formen aufgreift. Das Wissen um die Irrtumsfähigkeit und Pervertierbarkeit von Religion bewahrt an dieser Stelle Kirche und Theologie vor falschem Triumphalismus und illusionärer Selbstüberschätzung. Eine differenziert-kritische Deutung der Medienreligion impliziert zuallererst ein selbstkritisches Nachdenken über die Gestalt und Botschaft der Kirche. In all diesen Verstehensbemühungen bleiben Theologie und Kirche von Gottes lebendig machendem Geist abhängig, der ermutigt, den Weg zwischen kleingläubiger Defensive und überzogener Kritik zu gehen und die gemeinschaftliche Bemühung einer differenzierten Wahrnehmung befördert. Aufgrund dieser Abhängigkeit von Gottes, Denken und Handeln befreienden Gegenwart kann die Kirche die durch das medienreligiöse Fernsehen erwachsenden Herausforderungen angehen. Aufgrund dieser Treue Gottes dürfen sich Kirche und Theologie an dieser Stelle nicht kulturell marginalisieren lassen, sondern müssen ruhig und entschieden die Potentiale der jüdisch-christlichen Tradition, die großen Zentralbegriffe der Theologie und die Dynamik der gemeindlichen-religiösen Interaktion erschließen - um sie konstruktiv in die Auseinandersetzung um die gegenwärtige Medienkultur einzubringen. Die Verheißung der von der Auferstehung her sich entfaltenden neuen Schöpfung und die Bitte um das Kommen des Reiches lässt Christen angesichts der schillernden medialen Faszination mit Lebenszerstörung die präsente und eschatologische Überwindung der 'Mächte des Todes' vergegenwärtigen. Die diakonisch und therapeutisch helfende Hinwendung zu den Schattenseiten des Lebens unterscheidet sich nachhaltig von der neugierig flüchtigen Zuwendung der medialen Aufmerksamkeit. Der lebendigmachende und bewegende Geist Gottes wird es auch sein, der die Kirche davor bewahrt, sich kulturellen Wandlungsprozessen zu entziehen, neue Herausforderungen in ihrer kommunikativen Gestaltung nur zurückzuweisen und diese Verhärtung dann als wahre Treue zu stilisieren.

Die überzeugendste und wirkungsmächtigste Deutung der Medienreligion geschieht durch die konstruktive und kreative Annahme der Herausforderungen, mit denen Kirche und Theologie in der Medienkultur konfrontiert sind. Nimmt die Kirche auch nur einen Bruchteil der Herausforderungen der Gegenwartskultur an und vergräbt nicht die Pfunde ihrer eigenen Ressource, so kann sie in Kritik, Erkenntnissuche und Handeln selbst ein wahres Medium sein: Medium des schöpferischen, erhaltenden und erneuernden Handelns Gottes.

Anmerkungen
  1. Für eine Zusammenfassung der Diskussion siehe Thomas, Günter, Medien - Ritual - Religion. Zur religiösen Funktion des Fernsehens. Frankfurt/M. 1998; einen Einblick in den aktuellen Diskussionsstand bietet Thomas, Günter (Hg.), Religiöse Funktionen des Fernsehens? Medien-, kultur- und religionswissenschaftliche Perspektiven, Opladen 2000.
  2. Exemplarisch Albrecht, Horst, Die Religion der Massenmedien, Stuttgart 1993; Schilson, Arno, Medienreligion. Zur religiösen Lage der Gegenwart. Tübingen 1997; Kino, Musikkultur und Fernsehen in den Blick nehmend Gutmann, Hans-Martin, Der Herr der Heerscharen, die Prinzessin der Herzen und der König der Löwen. Religion lehren zwischen Kirche, Schule und populärer Kultur, Gütersloh 1998; siehe auch die Beiträge zum Konsultationsprozess ‚Communio et Communication' des GEP aus den frühen 90er Jahren. Aus der Perspektive einer praktisch-theologischen, religiösen Kulturhermeneutik heraus analysiert Gräb, Wilhelm, Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft, Gütersloh 2002. Auf das Kino konzentriert sich die umsichtige Studie von Herrmann, Jörg, Sinnmaschine Kino. Sinndeutung und Religion, Gütersloh 2001.
  3. So kritisch Keppler, Angela, "'Medienreligion' ist keine Religion. Fünf Thesen zu den Grenzen einer erhellenden Analogie", in: Thomas, Günter (Hg.), Religiöse Funktionen des Fernsehens? Medien-, kultur- und religionswissenschaftliche Perspektiven, Opladen 2000, S. 223-230.
  4. Die folgenden Ausführungen nehmen Überlegungen auf, die an anderer Stelle auch mit einem Schaubild versehen dargelegt wurden. Siehe Thomas, Günter, "Liturgie und Kosmologie. Religiöse Formen im Kontext des Fernsehens", in: ders. (Hg.), a. a. O., S. 104.
  5. Zum Systemcharakter der Medien siehe Marcinkowski, Frank, Publizistik als autopoietisches System. Politik und Massenmedien. Eine Systemtheoretische Analyse, Opladen 1993; Luhmann, Niklas, Die Realität der Massenmedien, Opladen 2. Aufl. 1996. Das Aufkommen privater Fernsehanbieter ist in diesem Sinne u.a. ein weiterer Schritt des Mediensystems hin zu einer operativen Schließung.
  6. Siehe exemplarisch Schilson, a. a. O., S. 59 ff. Cöster, Oskar, Ad'Age - der Himmel auf Erden. Eine Theodizee der Werbung, Hamburg 1990.
  7. Schultze, Quentin J., "Television Drama as a Sacred Text", in: Ferré, John P. (Hg.), Channels of Belief. Religion and American Commercial Television, Ames, IO: Iowa State University Press 1990, S. 3-27 / 117-119.
  8. Den Begriff des "performativen Ereignisfernsehens" prägte Keppler, Angela, Wirklicher als die Wirklichkeit. Das neue Realitätsprinzip der Fernsehunterhaltung, Frankfurt/M. 1994, und Keppler, Angela, "Die Kommunion des Dabeiseins. Formen des Sakralen in der Fernsehunterhaltung", in: Rundfunk und Fernsehen, 43. Jg. 1995, S. 301-311. Siehe auch Reichertz, Jo, Die frohe Botschaft des Fernsehens. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen medialer Diesseitsreligion, Konstanz 2000, und Reichertz, Jo, "Trauung und Trost, Vergebung und Wunder. Kirchliche Dienstleistungen im Fernsehen", in: Thomas, Günter (Hg.), a. a. O., S. 205-221.
  9. Für eine ebenfalls 'religiöse' Interpretation von Big Brother siehe Hiddemann, Frank, "Big Brother is God. Religiöse Hintergründe der Daily Life Soap", in: medien praktisch 4, 24. Jg., 2000, S. 30-32.
  10. Siehe exemplarisch Neverla, Irene, Fernseh-Zeit. Zuschauer zwischen Zeitkalkül und Zeitvertreib. Eine Untersuchung zur Fernsehnutzung, München 1992.
  11. Zum Begriff der 'ontological security' siehe Giddens, Anthony, The Consequences of Modernity, Cambridge 1990, S. 92 und seine Rezeption in der Medienforschung bei Silverstone, Richard, "Television, Ontological Security, and the Transitional Objekt", in: Media, Culture and Society, 15. Jg. 1993, S. 573-598.
  12. Zu Medienereignissen siehe Dayan, Daniel / Katz, Elihu, Media Events. The Live Broadcasting of History, Cambridge, MA / London 1992, zu den Olympischen Spielen u.a. Real, Michael, Super Media. A Cultural Studies Approach, Newbury Park 1989, ders., Exploring Media Culture. A Guide, Thousand Oaks 1996.
  13. Für die Identifikation von Religion über ein polythetisches Merkmalset siehe exemplarisch Smart, Ninian, Worldviews. Crosscultural Explorations of Human Beliefs, New York 1983, und ders., Dimensions of the Sacred. An Anatomy of the World's Beliefs, London 1996; Saler, Benson, Conceptualizing Religion. Immanent Anthropologists, Transcendent Natives, and Unbounded Categories, Leiden 1993. Ein knapper Versuch einer Applikation der Dimensionen Smarts auf das Fernsehen findet sich in Thomas, Günter, "Beobachtungen einer öffentlichen Religion. Fernsehen als kulturelles Leitmedium" in: Praktische Theologie 34. Jg. 1999, S. 54-65.
  14. So notwendig eine solche Qualifikation in einer theologischen Betrachtungsweise sein mag, so inadäquat ist sie in einer religions- und kulturtheoretischen Sicht auf das Fernsehen. Diese Vermischung eines Religionsbegriffs mit unübersehbaren dogmatischen (rechtfertigungstheologischen) Interessen belastet beispielsweise die kulturanalytischen Betrachtungen der Studie Gestaltung und Kritik. Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur im neuen Jahrhundert, (EKD-Texte 64), Hannover 2000, S. 24 ff.
  15. Clifford Geertz, Religiöse Entwicklungen im Islam, Frankfurt 1988, S. 137.
  16. Kultur und Theologie haben aus ganz verschiedenen Gründen eine Gemeinsamkeit: Sie sind, im sportlichen Bild gesprochen, ein Spiel ohne Schiedsrichter und ohne Zuschauer - nur mit Spielern. Dies schließt aber die Möglichkeit nicht aus, sondern ein, dass gute Spieler sich dadurch auszeichnen, mit dem Paradox umgehen zu können, zu Spielen und das Spiel beobachten zu können.
  17. Diese Umweltwahrnehmung hat verschiedene Gestalten und reicht daher von der individuellen Evidenzerfahrung über Gemeindeerfahrungen, Pfarrkonvente und Akademiearbeit bis hin zur universitär-wissenschaftlichen Arbeit. Allerdings fehlt es offensichtlich den Kirchen an einer systematischen Vernetzung dieser komplexen Wahrnehmungen, so dass, so ist mit Gründen zu vermuten, Kirchenleitungen zu oft der Versuchung erliegen, die reduktiven Außenbeschreibungen der Medien für eine adäquate Selbstbeschreibung zu halten und so die Stärken und Leistungen der kirchlichen Arbeit unzureichend wahrnehmen.
  18. So paradigmatisch die Position von Schmidt, Siegfried J., "'Between Heaven and Hell'. Soap Religion in den Medien?", in: Thomas, Günter (Hg.), Religiöse Funktionen des Fernsehens? Medien-, kultur- und religionswissenschaftliche Perspektiven, Opladen 2000, S. 271-288.
  19. So der argumentative Ansatz in Gutmann, a. a. O., Kap. I.
  20. Gestaltung und Kritik, a. a. O. , S. 35 u. 34.
  21. Der Begriff Bricoleur geht zurück auf Lévi-Strauss, der mit ihm die Synthese und Kombinationsleistung früher Mythenerzeuger bezeichnet und die Arbeitsweise des Bastlers von der des technisch gebildeten und ausgerüsteten Spezialisten oder Ingenieurs unterscheiden möchte. Der Bricoleur ist durch eigene Freiheitsgrade, die Abwesenheit von geeigneten Werkzeugen, die Nötigung zur Improvisation, Umwege und nicht zuletzt merkwürdige Zusammensetzungen vorliegenden, älteren Materials gekennzeichnet. Siehe Lévi-Strauss, Claude, Das wilde Denken, Frankfurt/M. 1968, S. 29 ff.
  22. Für diesen Ansatz siehe exemplarisch Gräb, Wilhelm, Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutungen. Eine praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh 1998, insb. Kap. 1-4 u. 7.
  23. Die Differenz ist die Voraussetzung, dass Kirche und Theologie einen eigenen Beitrag zu kulturellen Gestaltungen leisten können. Hierin liegt der fundamentale Unterschied zwischen dem hier verfolgten Ansatz und dem der oben genannten Studie Gestaltung und Kritik. Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur im neuen Jahrhundert. Die Studie geht von einer Identität aus, indem sie das Christentum als Auslegung einer Basiserfahrung versteht, welche "eine Tiefendimension menschlicher Erfahrung" ist, "in der noch vor allen bewussten Akten der Lebensführung über deren Sinn und Bestimmung entschieden wird" (a. a. O., S. 13, Leitsatz). Christlicher Glaube ist hier im theologischen Ansatz eine mögliche Deutung eines allen Menschen Gemeinsamen. Dies mag theologieintern schöpfungstheologisch mit Gründen zu vertreten sein, scheint aber gerade im Dialog mit der Kultur die Differenz überspringen zu wollen - und dies ist m.E. den ‚Gebildeten unter den Verächtern der Religion' als den Adressaten eines solchen Kommunikationsangebotes von Grund auf suspekt.
  24. Für die Unterscheidung einer Sozial-, Sach- und Zeitdimension von Sinn siehe Luhmann, Niklas, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984, Kap. 2.
  25. So Troeltsch, Ernst, "Religion und Kirche", in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 2, Tübingen 1922, S. 148. "An und für sich ist die Religion vielmehr der direkte Gegensatz gegen die feste Form der Kirche" (ebd.).
  26. Die Auffassung Simmels, es könne "religiöse Naturen, die keine Religion haben" geben, ist in einem kommunikationsorientierten Ansatz nicht nachvollziehbar. Siehe Simmel, Georg, "Die Religion (1906/1912)", in: Georg Simmel Gesamtausgabe. Bd. 10, Frankfurt/M. 1995, S. 39-118, 423-440, hier 65 f.
  27. Dass zur Ausbildung von reflektiertem Selbstbewusstsein und reifer Individualität für jeden Menschen Religion notwendig sei, dass also die Annahme einer "inneren Transzendenz" (Simmel) oder eine "metaphysische, das alles umfassende Sinnganze ansprechende Dimension" (Gräb, a. a. O., S. 55) der Alltagsgrundierung anthropologisch notwendig sei, vermag religionssoziologisch nicht überzeugen und droht unter Bonhoeffers Verdikt über die "Tricks der Pfaffen und Psychologen" zu fallen. Davon zu unterscheiden ist sicherlich die theologische Einsicht in die spezifische Menschlichkeit Gottes, die den Gedanken einer vollständigen Gottlosigkeit der Menschen zurückweisen muß. Ob sich dies jedoch in einer stets aktualisierten metaphysischen Dimension zeigen muß, dies erscheint eher fraglich zu sein.
  28. Die grundsätzliche Abhängigkeit vom Zeichensystem schließt eine Dimension der kreativen Aneignung nicht aus, sondern erfordert diese gerade. Allerdings kehrt sich das Abhängigkeitsgefälle gegenüber der von Troeltsch und Simmel repräsentierten Position um. Der linguistic turn oder der symbolic turn impliziert das Ende eines begründungstheoretisch subjektzentrierten Religionsverständnisses und zeigt auch eine 'nachmetaphysische Zeit' im Sinne einer 'Metaphysik der Innerlichkeit' an - ohne dass das subjektive Moment vollständig ausgefällt wird. Für eine Position, die diesen Aspekt mit dem Begriff der Artikulation zu erfassen sucht siehe Jung, Matthias, Erfahrung und Religion. Grundzüge einer hermeneutisch-pragmatischen Religionsphilosophie, Freiburg 1999, insb. S. 262-329. Nicht umsonst suchen Menschen erlebnis- respektive erfahrungsproduktive Kommunikationsformen.
  29. Aus diesem Grund kann weder der Sinn- noch der Religionsbegriff alleine die Basis einer spezifisch theologischen Thematisierung des Verhältnisses zwischen christlichem Glaube und Kultur sein. Im Unterschied zu beiden setzt die Thematisierung von Kultur im Horizont trinitarischen Denkens differenzierter an. Denn sie vermag die facettenreiche Typik und Dynamik von Gottes Handeln und Präsenz zu erfassen und in der Unterscheidung von Schöpfung, Versöhnung und Erlösung darzulegen. Wenngleich nicht alle Aspekte in gleicher Weise ausgeführt wurden, so bildet ein solcher trinitarischer Ansatz die Tiefengrammatik von Karl Barths vielfältigen Anläufen, das Verhältnis von Kirche und Kultur in den Blick zu nehmen. Siehe exemplarisch Barth, Karl, "Die Kirche und die Kultur", in: ders., Gesamtausgabe III/24, Zürich 1994, S. 10-40. Für einen neueren Ansatz einer "trinitarischen Strukturierung der Kulturtheologie" siehe Moxter, Michael, Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie, Tübingen 1999, S. 382-409.
  30. Siehe wiederum exemplarisch Barth, Karl, Das christliche Leben. Die Kirchliche Dogmatik IV/4, Fragmente aus dem Nachlass. Vorlesungen 1959-1961, Zürich: Theologischer Verlag Zürich 1976, S. 187-219.
  31. Zur Vorstellung der geschöpflichen "Ökonomie des Humanen" siehe Barth, Karl, KD IV/3, S. 850 f. Eine neuere theologische Würdigung der Unterhaltung bietet Uden, Ronald, "Unterhaltung als Gegenwelt des Nutzens. Kommunikationswissenschaftlich-theologische Anmerkungen", in: medien praktisch 4, 24. Jg. 2000, S. 10-16.
  32. Barth, Karl, KD IV/3, S. 107-153.
  33. Wiederum exemplarisch Barth, Karl, Das christliche Leben, S. 363-399. Hierin liegt das Recht der ethischen Überlegungen in Huber, Wolfgang, Die tägliche Gewalt. Gegen den Ausverkauf der Menschenwürde, Freiburg 1993, Kap. 1 'Gewalt und Intimität als Unterhaltung'.
  34. Eine über Andeutungen hinausgehende pneumatologische Interpretation kultureller Prozesse bleibt ein Desiderat von Barths Theologie. In Bearbeitung des Zusammenhangs zwischen Geist und Kultur liegt die unbestreitbare Stärke des Ansatzes Tillichs, wenngleich seine Kategorien der Reformulierung bedürfen und insbesondere die christologische Bestimmtheit des Geistes nicht zureichend in den Blick kommt. Siehe Tillich, Paul, Systematische Theologie III, Berlin 1966, S. 72-85, 282-305. Für Kultur im Horizont der Pneumatologie siehe auch Moxter, a. a. O..
  35. Nicht umsonst konzentrieren sich in jüngster Zeit wieder dogmatische Arbeiten auf die Frage nach der Allmacht Gottes. Siehe Bauke-Ruegg, Jan, Die Allmacht Gottes. Systematisch-theologische Erwägungen zwischen Metaphysik, Postmoderne und Poesie, Berlin 1998; Kress, Christine, Gottes Allmacht angesichts von Leiden. Zur Interpretation der Gotteslehre in den systematisch-theologischen Entwürfen von Paul Althaus, Paul Tillich und Karl Barth, Neukirchen-Vluyn 1999.
  36. Siehe hierzu exemplarisch Gräb, a. a. O. Innerhalb der Religionssoziologie wird dagegen eher der Verlust eines "himmlischen Baldachins" betrauert. "Der himmlische Baldachin steht, in welcher Gestalt auch immer, für eine heilige Ordnung, in der alles Leben und jeder Gegenstand seinen Platz und seine Zeit in einem umfassenden Sinngefüge haben". So im Anschluss an Peter Berger und Helmuth Plessner jüngst Soeffner, Hans-Georg, Gesellschaft ohne Baldachin. Über die Labilität von Ordnungskonstruktionen, Weilerswist 2000, S. 11, verbunden mit einem kritischen Blick auf fragwürdige, totalitäre Substitute und einem Plädoyer für Individualisierung und Nüchternheit. Ein kurzer Blick auf Hiob oder auf Israel im babylonischen Exil nährt allerdings den Verdacht, dass die soziologische Theoriebildung, die in der Gesellschaft einen "Mythos von einer wenn nicht goldenen, so doch zumindest wohlgeordneten Vergangenheit" (a. a. O., S. 272) beobachtet, hier selbst einem solchen Mythos verfällt. Das Problem dieser Fehlwahrnehmungen ist, dass die fragwürdigen Ersatzmechanismen eines schon immer aus Fragmenten konstruierten und fragilen Baldachins unzureichend in den Blick kommen: die prozessuale, augenblicksorientierte (daher eher 'geschichtslose'), stets zerfallende Medienkosmologie, deren eigenen Blindheiten und Zynismen theologische Rückfragen erfordern.
  37. Für den Ausdruck 'morbide Neugierde' siehe die Beiträge in Gannett Foundation (Hg.), Morbid Curiosity and the Mass Media. Proceedings of a Symposium, Knoxville 1984. Im Fall 'nahen Leides' wie beispielsweise bei der Zugkatastrophe von Enschede bieten die Kirchen durch Trauergottesdienste in der Tat Formen für eine Artikulation des Leides vor Gott an. Das Fernsehen vermag hier nur eine 'Trauerbegleitung' durch Bildwiederholungen und Dauerbesprechen zu praktizieren. Die theologische Herausforderung betrifft darum insbesondere zwei Gestalten der Lebensbeschädigung: a) das dauerpräsente Leid und b) das medial 'nahegebrachte' 'ferne' Leid. Zweifellos darf die Bedeutung von spendenfinanzierten Hilfsaktionen, die durch Fernsehen und Kirche gefördert werden, nicht unterschätzt werden. Doch die theologischen Anfragen sind damit noch nicht abgegolten.
  38. Gegen die verbreitete Klage über die Bindungslosigkeit als auch gegen die medial lancierte und kirchenleitend oft rezipierte Rede vom Exodus aus der Kirche darf an einen schlichten empirischen Sachverhalt erinnert werden: Heute besitzt so gut wie jede Kirchengemeinde ein Gemeindehaus, etwas was vor 150 Jahren noch nicht der Fall war. Diese intensiv genutzten Gemeindehäuser sind Indikator für einen Wandel auf dem Feld religiöser Kommunikation, der nicht sogleich als Verfall gedeutet werden darf. Die auf Gottesdienstbesucherzahlen fixierten historischen Vergleiche führen so zu krassen empirischen Fehlwahrnehmungen.
  39. Siehe Reichertz, a. a. O.
  40. Bei solchen neuen Formen muß es sich nicht, aber kann es sich um neue Rituale handeln. Aus der Fülle der neueren Literatur sticht durch Sensibilität und Kreativität ein psychologisch-therapeutischer Beitrag deutlich heraus: Imber-Black, Evan/Roberts, Janine, Rituals for our Times. Celebrating, Healing, and Changing our Lives and our Relationships, New York 1992. Eine transreligiöse Perspektive bietet Grimes, Ronald, Deeply into the Bone. Re-Inventing Rites of Passage, Berceley 2000. Dass nach der Therapiekultur auch die Medienreligion rituelle Gestaltungskompetenz beansprucht, sollte für die Kirchen nicht nur als Bestätigung empfunden, sondern auch als Alarmzeichen gedeutet werden. Siehe Reichertz, Die Frohe Botschaft des Fernsehens, 2000 (s.o. Anm. 8).
  41. Die unübersehbaren Ambivalenzen der Technik können an dieser Stelle nicht als Gegenargument angeführt werden. Auch heute 'riskiert' die Kirche das Erntedankfest in einer Welt, die auch von Krankheit, Erdbeben und Überschwemmungen, d.h. naturalen, nicht der Sünde des Menschen zuzurechnenden Katastrophen geprägt ist.
  42. Siehe zum folgenden auch die allgemeiner gehaltenen und historischer ausgerichteten Überlegungen von Preul, Reiner, Kirchentheorie. Wesen, Gestalt und Funktionen der Evangelischen Kirche, Berlin 1997, § 11 zu 'Kirche und Kultur', der dem Duktus eines Beitrages der Kirche zur Kultur folgt und den Beitrag zur Sprache, zur öffentlichen Kommunikation, zur Bildung und zur Kunst reflektiert.
  43. Hier lohnt die Erinnerung an das, was Karl Barth 1946 bezüglich des Verhältnisses von Kirche und Politik betonte: "Die Kirche existiere also exemplarisch, d.h. so, dass sie durch ihr einfaches Dasein und Sosein auch die Quelle der Erneuerung und die Kraft der Erhaltung des Staates ist... Die Christengemeinde darf nicht vergessen: sie redet gerade in der Bürgergemeinde am unmissverständlichsten durch das, was sie ist" (Barth, Karl, "Christengemeinde und Bürgergemeinde", in: Theologische Studien 20, 1947, S. 41 f.).
  44. Zweifellos kann es nicht um eine grundsätzliche Infragestellung zielgerichteter individueller, gemeinschaftlicher und institutioneller Handlungen gehen. Aber es gilt zu bedenken: "Wenn man eine Kommunikation richtig versteht, hat man umso mehr Gründe, sie abzulehnen" (Luhmann, Niklas, "Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation", in: ders., Soziologische Aufklärung. Bd. 3, Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen 1981, S. 25-49, hier 27). Wird die Absicht der Kommunikation mitkommuniziert, so steigt, wie speziell die Pädagogik zeigt, das Ablehnungsrisiko umso mehr. Die mitkommunizierte Absicht zu erziehen, senkt die Wahrscheinlichkeit gelingender Erziehungskommunikation drastisch. Ähnliches dürfte in der Gegenwartskultur auch für viele kirchliche Kommunikationsangebote gelten, die eine 'kritische Begleitung' der Kultur anstreben. Wer will schon im Alltag 'kritisch begleitet' sein?
  45. Das deutsche Fernsehen strahlte 1996 allein 8219 Spielfilme an 16617 Sendeterminen aus. Bei diesen 22,5 Spielfilmen pro Tag sind die anderen narrativen Genres wie Fernsehfilme oder Serien noch nicht mitgerechnet. Siehe Arbeitsgemeinschaft der ARD-Werbegesellschaften (Hg.), Media Perspektiven Basisdaten, Frankfurt 1997, S. 27. Für einen Einblick in die medienbezogene Dimension des homo narrans siehe die Beiträge in Journal of Communication 4, 35. Jg. 1986, S. 73-171 zu: 'Homo Narrans: Story-Telling in Mass Culture and Everyday Life'.
  46. Auf den Unterschied von Erzählung und Aufführung macht eindringlich und überzeugend aufmerksam Grimes, Ronald L., "Of Words of the Speaker, of Deeds the Doer", in: Journal of Religion 1, 66 Jg., 1986, S. 1-17. Theologiegeschichtlich ist sicherlich die Frage aufzuwerfen, inwiefern die Suche nach einer narrativen Theologie u.a. auch eine Reaktion auf eine Überfluss an Geschichten in der Medienkultur der Gegenwart darstellt.
  47. Entgegen weitverbreiteter Annahmen, das Fernsehen sei ein Ort der 'Amoralität' ist es der Ort intensivster Moralkommunikation. Herbei baut es auf vier Verfahrenstechniken auf: a) Die Rahmung direkter Moralkommunikation als fiktiv und nur unterhaltend, womit der Zumutungsgehalt reduziert bzw. virtualisiert wird. b) Moralische und allgemein ethisch orientierend wirkt die Darstellung einer anderen Normalität. Nicht in der gleichen Wirklichkeit wird etwas als anders moralisch als normal kommuniziert, sondern in der anderen Wirklichkeit wird dies als normal dargestellt. Es erscheint damit als reale Möglichkeit. c) Durch die Norm der Form wirken viele Genres im Sinne einer Moralkommunikation. Dies gilt für Sendungen wie die Tagesschau ebenso wie für den Kriminalfilm. d) Skandalträchtige Sendungen und Themen lassen moralisches Handeln relativierend beobachten. Durch den Blick auf die moralische Grenze von beiden Seiten erscheint die Grenze als kontingent. Doch die Moralität des Beobachtungsstandpunktes wird damit umso direkter kommuniziert. Für die Moralkommunikation betreffenden Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen einer religiösen und einer spielerischen Rahmung siehe Handelman, Don, "Play and Ritual. Complementary Frames of Meta-Communication", in: Chapman, A.J. / Foot, H. (Hg.), It's a Funny Thing Humour, London 1977, S. 185-192, und Edwards, Tony, "Play, Ritual, and the Rationality of Religious Paradox", in: Method & Theory in the Study of Religion 1, 5. Jg., 1993, S. 7-25.
  48. Damit soll nicht einem naiven Biblizismus das Wort geredet werden. Die Frage ist jedoch, ob, kulturtheoretisch gesprochen, die Bibliothek der Bibel das primäre Medium religiöser Imagination ist, ob, theologisch gesprochen, die Bibliothek der biblischen Zeugen der Ort ist, in dem das erwartet wird, was als Handeln Gottes zu verstehen ist. Dass die lebenspraktische Auseinandersetzung mit der Welt der Bibel an soziale Erschließungssituationen gebunden ist, ist hier vorausgesetzt. Die Kirche ist darin eine Interpretations- und Imaginationsgemeinschaft. Wird allerdings, um einen empirischen Fall als prägnantes Beispiel herauszugreifen, in einem Hauptgottesdienst am 24.12. keinerlei Bibeltext verlesen, so drängt sich die Frage auf, inwieweit die Kirche den vielbeklagten Traditionsabbruch selbst aktiv betreibt.
  49. Für ein Konzept von relativen, aus der Aggregation von Aufmerksamkeit hervorgehenden Öffentlichkeiten und deren Verhältnis zu religiöser Kommunikation siehe Thomas, Günter, Art.: "Öffentlichkeit", in: Metzler Lexikon Religion, Bd. 2, Stuttgart / Weimar 1999, S. 586-589. Zur Funktion der gemeindlichen Öffentlichkeit siehe auch Preul, a. a. O., S. 200-308 'Der Beitrag der Kirche zur Kultur öffentlicher Argumentation'; und Huber, Wolfgang, Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche, Gütersloh 1998, Kap. VI.1. 'Kirche als intermediäre Institution'. Beide Beiträge bedenken jedoch nicht das Gewicht physischer Präsenz.
  50. Diese Ressource der physischen Kopräsenz betrifft auch den christlichen Gottesdienst und zeigt deutlich eine Fehlstelle in der theologischen Pneumatologie an. Dass Kirche sich elementar aus Kommunikation in Interaktionssituationen, welche physische Präsenz einschließen, aufbaut, war trotz der Medienrevolution von Buchdruck und Flugblatt eine Einsicht, an der Luther stets festhielt. Siehe exemplarisch WA 12, 259, auch in den Schmalkaldischen Artikeln BSLK 449, und in der Predigt zur Einweihung der Schlosskirche zu Torgau, WA 49, 600. Zum kulturgeschichtlich bedeutsamen Prozeß des Einbaus medialer Kommunikation im Sinne von Verbreitungsmedien in rituelle Kommunikation in physischer Präsenz siehe Graham, William A., Beyond the Written Word. Oral Aspects of Scripture in the History of Religion, Cambridge 1987. In der Verbindung von Geistwirken, Glaube und physischer Kopräsenz, nicht in einer vermeintlichen Zeichen- und Medienfreiheit gottesdienstlicher Kommunikation liegt die Pointe des systematisch-theologischen Einwurfs von Dalferth, Ingolf U., "Kirche in der Mediengesellschaft - Quo vadis? Eine Anfrage", in: Theologia Practica, 20. Jg. 1985, S. 183-194.
  51. Rappaport, Roy A., Ecology, Meaning, and Religion, Berkeley, CA 1979, S. 43-95, 145-172.
  52. Siehe Welker, Michael, "Die Kirche als 'Leib Christi' - Was heißt das?", in: ders., Kirche im Pluralismus, Gütersloh 1995, S. 104-127.
  53. Für die medieninduzierte, über partikulare Medienereignisse hinausreichende 'global ecumene' siehe Hannerz, Ulf, Cultural Complexity. Studies in the Social Organization of Meaning, New York 1992, Kap. 7.

© Günter Thomas 2003
Magazin für Theologie und Ästhetik 22/2003
https://www.theomag.de/22/gt1.htm

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Günter Thomas (HG.) Religiöse Funktionen des Fernsehens? Medien-, kultur- und religionswissenschaftliche Perspektiven. Opladen 2000