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Magazin für Theologie und Ästhetik


Von der Utopie zur Heterotopie

Das Christentum als Muse von Utopien?

Andreas Mertin*

Theologie ...

Ein kursorischer Rückblick erweist das Verhältnis der abendländischen Theologie zur Utopie als eher ambivalent. Zwar ist es vermutlich unbestreitbar, dass das jüdisch-christliche Erbe der Nährboden der wesentlichen Utopien der Neuzeit war,[1] seien dies die Raumutopien zu Beginn des 16. und 17. Jahrhunderts, die wir mit den Namen Thomas Morus[2], Tommaso Campanella,[3] Johann Valentin Andreae[4] oder Francis Bacon[5] verbinden, seien es jene Zeitutopien, die sich mit dem Aufkommen sozialistischer Ideen ausbilden.[6] Von den bedeutenden literarischen Utopien des 16. und 17. Jahrhunderts sind zumindest die ersten drei von Theologen bzw. theologisch Ausgebildeten und unter expliziter Bezugnahme auf das Christentum geschrieben worden. Von der jüdisch-christlichen Theologie scheint es nur ein kleiner Schritt zur Utopie zu sein, wie ja auch die heilsgeschichtlichen Implikation der Geschichtsphilosophie von Karl Marx und Friedrich Engels zeigen.[7]

Dennoch hat das Christentum als eschatologisch ausgerichtete Religion aus guten Gründen immer auch ein durchaus kritisches Verhältnis zur Utopie gehabt.[8] So wird im christlichen Anti-Utopismus die Eschatologie als Ziel und das Christusereignis als Grund christlicher Hoffnungen der Utopie gegenübergestellt. Der Movens christlichen Handelns ist nicht die Utopie, sondern Gottes Rechtfertigung des Gottlosen. Daher ist für den christlichen Anti-Utopismus die Utopie nur eine Flucht aus der Gegenwart.[9] Zum anderen wird die Utopie in einer etwas positiver akzentuierten Sichtweise in der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium dem Gesetz zugeordnet. Positiv beschreibt sie so die Zielperspektive des die Welt sozial und politisch ordnenden Menschen, negativ muss sie von der zentralen christlichen Hoffnung unterschieden werden und darf daher nicht religiös überhöht werden. Wo Christen etwa unter dem Einfluss chiliastischen Gedankenguts[10] Utopie in Realität überführen wollten und von der praktischen Realisierbarkeit des Evangeliums in einem Reich Gottes auf Erden überzeugt waren, war der Vorwurf des Schwärmertums nicht weit. Erst im 20. Jahrhundert haben sich dann theologische Positionen artikuliert, die die Utopie positiver aufgreifen konnten, etwa wenn der Theologe und Philosoph Paul Tillich Utopie und Reich Gottes so bestimmt, dass sie sich wie horizontale und vertikale Ordnungen zueinander verhalten: "Die vertikale (Reich Gottes) nimmt teil an und verwirklicht sich in der horizontalen, ohne mit ihr identisch zu sein."[11]

... oder Ästhetik?

Auf der anderen Seite kommen wir der Sache selbst vielleicht näher, wenn wir nicht nur die literarischen Utopien nach dem 16. Jahrhundert, sondern schon die biblischen Texte selbst als bewusst ästhetische Konstruktionen betrachten - also nicht als zunächst religiöse Texte, die dann auch ästhetisch gelesen werden können. Dann wäre "Utopie" nicht erst in der Neuzeit in die Kunst ausgewandert,[12] sondern von Anfang an auch in der Religion eine Kunstform gewesen. Dafür plädiert jedenfalls der jüdische Theologe Yehuda T. Radday in seiner Auslegung der Erzählung vom Garten Eden, die er als bewusste ästhetische Konstruktion eines Nichtortes liest. Während die europäischen Theologen den Garten Eden historisch-kritisch zu lokalisieren suchten, seien die Verfasser der Urgeschichte ganz anders vorgegangen: "Der Garten befindet sich dort, wo zwei weltberühmte Ströme entspringen, die aber bekanntlich gar keinen gemeinsamen Ursprung haben ...; wo obendrein eine winzige Quelle liegt, die die Leser wahrscheinlich vom Augenschein her als nahe Jerusalems liegend kennen; und wo ein Fluss seinen Verlauf beginnt, von dem allerdings noch nie jemand gehört hat. Um den Ort noch mehr zu präzisieren, ... fügt [der Text] noch die Namen zweier Länder hinzu, die jedoch je zwei an entgegengesetzten Enden der Welt liegende Gegenden bezeichnen. Gibt es also kein Eden? ... Es existiert, doch schaffe es sich ein jeder für sich und in sich."[13] Radday kommt zu dem Schluss, dass die Erzählung vom Garten Eden einem Gemälde ähnlicher sei als einem theologischen Lehrtext. Was die jüdisch-christliche Tradition also im Blick auf die Utopie bieten kann, ist selbst im engeren Sinne ein Stück Kunstgeschichte und muss in dieser Perspektive gelesen werden.[14]

Eine unterlassene Gegenlektüre als Zwischen-Episode

Man könnte nun daran anschließend und quasi im Gegenzug über die theologischen Gehalte des ästhetischen Scheins seit Immanuel Kant reden,[15] über die chiliastischen Impulse der ästhetischen Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die Kunst und Leben verbinden wollten, oder über die theologischen Gehalte der negativen Utopie, die - folgt man Theodor W. Adorno - noch den ästhetischen "Blick der Erlösung" auszeichnet.[16]

Heterotopologie

Statt dessen möchte ich im Blick auf das "aktuelle Utopiepotential des Christentums als Herausforderung für die Künste und die Kultur" auf Überlegungen von Michel Foucault rekurrieren, die vielleicht das Produktive der Religion für die Kunst in der Gegenwart beleuchten können. Foucault hat in seinem Aufsatz "Andere Räume" die These geäußert, dass im Gegensatz zur Zeit, die im 19. Jahrhundert nahezu vollständig entsakralisiert worden sei, dies mit dem Raum nicht gelungen ist.[17] Zwar habe es eine theoretische Entsakralisierung des Raumes gegeben, aber diese habe sich noch nicht praktisch durchgesetzt. Vielmehr werde unser Leben durch eine Reihe von Entgegensetzungen gesteuert, an denen man kaum rühren könne.[18] Deutlich sei, "dass wir nicht in einem homogenen und leeren Raum leben, sondern in einem Raum, der mit Qualitäten aufgeladen ist" (37). Foucault interessiert sich nun für solche Räume, die gegenüber anderen grundsätzlich anders geartet sind, Räume mit "sonderbaren Eigenschaften", weil sie sich auf alle anderen Platzierungen beziehen. Diese Räume gehören zwei elementaren Typen an: den Utopien als Platzierungen ohne konkreten Ort und dem, was Foucault nun Heterotopien nennt. Es gibt in jeder Kultur und jeder Zivilisation "wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können. Weil diese Orte ganz andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien" (39). Heterotopien dieser Art sind zum Beispiel Kirchen und Museen, aber eben auch Friedhöfe und Bordelle. Geleistet werden muss nach Foucault "das Studium, die Analyse, die Beschreibung, die 'Lektüre' dieser verschiedenen Räume ... gewissermaßen eine zugleich mythische und reale Bestreitung des Raumes, in dem wir leben" (40). Den Versuch dazu nennt Foucault "Heterotopologie".

Das berührt nun meines Erachtens zentral das aktuelle als auch das künftige Verhältnis von Kunst und Religion, zentraler jedenfalls, als es heutzutage der Rekurs auf die Utopie noch sein könnte. Kunst und Religion müssen sich als je andere "andere Räume", als Heterotopien begreifen. In der Kunst wie in der Religion werden "die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet". Die Kunst kann die Religion als Heterotop wahrnehmen und lesen, wie die Religion die Kunst. Die notwendig bleibende Fremdheit ist das Potential mit dem beide arbeiten können.

Zusammenfassende Thesen
  1. Die literarische wie geschichtsphilosophische Form der Utopie erweist sich als eng mit jüdisch-christlichen Vorstellungen verknüpft.
  2. Dennoch hat das Christentum als eschatologische Religion immer ein kritisches Verhältnis zur Utopie bewahrt bzw. die Utopie unter den eschatologischen Vorbehalt gestellt.
  3. Die utopischen Elemente der jüdisch-christlichen Erzählwelt selbst scheinen sich mir jedoch weniger einer theologischen, als vielmehr einer ästhetischen Konstruktion zu verdanken.
  4. Diese ästhetische Konstruktion des Utopischen zehrt dabei von Anfang an auch von den eschatologischen Momenten der religiösen Erzählung.
  5. Besser als "Utopie" bietet sich "Heterotopie" im Sinne von "Gegenplatzierungen oder Widerlager, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet werden", für eine produktive zukunftsorientierte Arbeit von Kunst und Religion an.
  6. Wäre es nicht so ein Sprachungetüm, müsste man also weniger von "Museutopia - Schritte in andere Welten" als vielmehr von Museheterotopia - Schritte in andere Räume" reden. Die Mehrzahl der in der hier zu sehenden Ausstellung präsentierten Objekte scheint mir auch genau dieses Modell der Heterotopologie, der Lektüre und Re-Lektüre anderer Räume nahe zu legen. Daran könnte man ästhetisch wie theologisch weiter arbeiten.
Anmerkungen
  • Statement auf der Veranstaltung "'Suchet der Stadt Bestes!' Zwischen Paradies und himmlischen Jerusalem. Das Utopiepotential des Christentums als Herausforderung für die Künste und die Kultur" im Rahmen der Ausstellung "MUSEUTOPIA - Schritte in andere Welten", Karl-Ernst-Osthaus-Museum Hagen.
  1. Vgl. Sven-Aage Jørgensen, Utopisches Potential in der Bibel. Mythos, Eschatologie und Säkularisation, in: Utopieforschung, hg. von Wilhelm Vosskamp, 3 Bände, Frankfurt 1985, Band 1, S. 375-401. Jørgensen verweist auf Frank und Fritzie Manuel "Utopian Thought in the Western World" (Cambridge, Mass. 1979), die Utopien als säkularisierte literarische Nachkommen des jüdisch-christlichen Glaubens ansehen: "When plan belief in religous paradise became attenuated, utopia came into being".
  2. Thomas Morus (1477-1535), Utopia 1516
  3. Tommaso Campanella (1568-1626), Sonnenstaat 1602 (1623)
  4. J.V. Andreae (1586-1654), Christianopolis 1619
  5. Francis Bacon (1561-1626), Nova Atlantis 1627
  6. Vgl. den Artikel "Utopie" im Brockhaus 2002.
  7. Vgl. Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Stuttgart u. a. 8/1990.
  8. Vgl. zum Folgenden Peter Steinacker, Art. "Utopie", TRT
  9. Man wird darin eine richtige - wenn auch verkürzte - Beobachtung sehen können. Tatsächlich reagieren die großen literarischen Utopien auf das Fraglichwerden und das Zerbrechen der mittelalterlichen Einheitswelt mit Raumutopien, also mit "einer die Realitätsbezüge ihrer Entwürfe bewusst oder unbewusst vernachlässigenden Denkweise". Andererseits zeigt das Schicksal einiger ihrer Verfasser, dass sie durchaus in die sozialen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ihrer Zeit tief verwickelt waren.
  10. Chiliasmus, die Lehre von einer tausendjährigen Herrschaft Christi auf Erden am Ende der geschichtlichen Zeit (Offenbarung des Johannes 20,110); im Mittelalter am deutlichsten formuliert von Joachim von Floris: Nach dem Zeitalter des Vaters (des Alten Testaments) und des Sohnes (des Neuen Testaments) sollte das tausendjährige Zeitalter des Heiligen Geistes beginnen. Religiöse Bewegungen der Neuzeit, die den Anbruch eines Friedensreiches auf Erden erwarten, werden häufig chiliastisch genannt. Als politischen Chiliasmus bezeichnet man die nicht religiös begründete Hoffnung und politische Praxis, die die diesseitige Verwirklichung eines dauerhaften ("ewigen") Reichs erwartet und/oder aktiv anstrebt (Drittes Reich; Drittes Rom). [Brockhaus 2002]
  11. Peter Steinacker, Art. "Utopie", TRT
  12. Vgl. Karl Heinz Bohrer, Utopie "Kunstwerk", in: Utopieforschung, a,a,O,, Band 3, S. 303-332; Klaus L. Berghahn, Ästhetische Reflexion als Utopie des Ästhetischen, ebenda, S. 146-171.
  13. Yehuda T. Radday, Auf den Spuren der Parascha. Ein Stück Tora. Zum Lernen des Wochenabschnitts, Arbeitsmappe 1, S. 8. Zur Realisierung des paradiesischen Gedankens schreibt Radday "Wie bewerkstelligt er das aber? Indem er, so werden wir belehrt, die Verhaltensanweisungen der Torá beherzigt, die sie ihm demnächst in ihren fünf Büchern vorlegen wird."
  14. Theologisch kompatibel wäre dazu die Lektüre der Paradieserzählung nicht als Utopie, sondern als Ätiologie der Sündhaftigkeit des Menschen in der realen Welt, also jenseits von Eden. Vgl. Jürgen Ebach: Ursprung und Ziel. Erinnerte Zukunft und erhoffte Vergangenheit. Biblische Exegesen, Reflexionen, Geschichten. Neukirchen-Vluyn 1986, insbes. S. 54f.: Die Paradieserzählung ist "kein Rückblick auf eine rekonstruierte oder gar erinnerte Frühphase der Geschichte der Menschheit, sondern ein Entwurf der verspielten Möglichkeit, eine Negativfolie ..., vor der der erfahrbare, vorfindliche, gegenwärtige Zustand des Menschen und seiner Lebensbedingungen nicht als naturwüchsig, sondern als geschichtlich zu erfassen ist. So ist der Garten Eden, von dem und in dem Gen 2 und 3 handeln, nicht geschichtliche Frühzeit der Menschheit, sondern der Punkt, von dem aus die tatsächliche Geschichte, um deren Erfassung und Beurteilung es von Anfang an geht, erfassbar und erfahrbar wird ... Von Beginn an, vom ersten Satz an, der über den noch nicht erschaffenen Menschen gesagt wird, ist der geschichtliche - und das ist der aus dem Gottesgarten vertriebene - Mensch im Blick; erst der aus dem Paradies vertriebene Adam, im vollen Sinne erst Kain, der Ackerbauer, ist der Mensch, dessen Vorhandensein die Paradieserzählung ätiologisch erklären will. So kann von einem zweiten, auf das priesterschriftliche Kapitel Gen l folgenden Schöpfungsbericht und einer von ihm trennbaren Erzählung vom Sündenfall nicht die Rede sein; vielmehr gehören Gen 2 und 3 zusammen als Ätiologie des vorfindlichen geschichtlichen Menschen, genauer: des Bauern, seiner Arbeit und ihrer Bedingungen ... Der geschichtliche Mensch aber ist der autonome Mensch ..."
  15. Vgl. dazu Ernst Müller: "Beraubung oder Erschleichung des Absoluten? Das Erhabene als Grenzkategorie ästhetischer und religiöser Erfahrung"; in: Herrmann / Mertin / Valtink (Hg.) Die Gegenwart der Kunst. Ästhetische und religiöse Erfahrung heute. München 1998, S. 144-165.
  16. Vgl. Th. W. Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka, in: ders., Prismen: Kulturkritik und Gesellschaft. Frankfurt 1976. S. 302ff. "Absolute Entfremdung, preisgegeben dem Dasein, von dem sie sich abgezogen hat, wird als die Hölle durchforscht, die sie an sich schon, ohne es zu wissen, bei Kierkegaard war. Als Hölle aus der Perspektive der Erlösung. Kafkas künstlerische Verfremdung, das Mittel, die objektive Entfremdung sichtbar zu machen, empfängt ihre Legitimation aus dem Gehalt. Sein Werk fingiert einen Ort, von dem her die Schöpfung so durchfurcht und beschädigt erscheint, wie nach ihren eigenen Begriffen die Hölle sein müsste ... Das mittlere Reich des Bedingten wird infernalisch unter den künstlichen Engelsaugen" (P 338f.)
  17. Michel Foucault: "Andere Räume." In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. K. Bark (Hg.) Leipzig 2/1991. S. 34-46. Alle Zitate im Folgendem aus diesem Aufsatz.
  18. Exemplarisch nennt er die Entgegensetzungen "zwischen dem privaten Raum und dem öffentlichen Raum, zwischen dem Raum der Familie und dem gesellschaftlichen Raum, zwischen dem kulturellen Raum und dem nützlichen Raum, zwischen dem Raum der Freizeit und dem Raum der Arbeit. Alle diese Gegensätze leben noch von einer stummen Sakralisierung." Ebenda, S. 37

© Andreas Mertin 2002
Magazin für Theologie und Ästhetik 20/2002
https://www.theomag.de/20/am57.htm