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Magazin für Theologie und Ästhetik



David Small, Fridericianum - Documenta11

In dem kleinen unteren Raum im Zwehrenturm des Fridericianums ist die interaktive Arbeit von David Small platziert. Der Raum ist dunkel und nur an seinem Kopfende leuchtet hell ein Buch auf einem Pult. An zwei Seiten ist das Pult von Bewegungssensoren umgeben, die jede Handlung am und über dem Buch kontrollieren. Der Besucher kann nun durch Bewegungen mit der Hand den Text des Buches lesbar machen, ihn verschieben, heranholen, verschwinden lassen. Je nachdem, wie er seine Hand bewegt, kann er so die jeweilige Seite des Buches variieren. Er kann aber auch eine Seite umschlagen und einen neuen Text hervorrufen. Die Seiten sind "leer" und werden von interaktiv gesteuerten Texten durch Projektion gefüllt.

Meines Erachtens ist aber das eigentliche "Ergebnis" der Arbeit von David Small die nahezu unendlich wiederholte Erzeugung einer Geste aus der Kunstgeschichte, vielleicht aber auch präziser: einer göttlichen Geste. Natürlich assoziiert man mit dieser Geste kunstgeschichtlich auch den Finger des Johannes auf den Isenheimer Altar, vor allem aber Michelangelos Darstellung des Finger Gottes bei der Erschaffung Adams. Es ist aber nicht die Geste des Schreibens, die hier wahrnehmbar wird, sondern die Geste des Suchens, wie das nachfolgende Zitat von Vilém Flusser deutlich macht:

"Sich von den Problemen abzuwenden, die die Menschen interessieren, um sich uninteressanten Gegenständen zu widmen, ist die 'humanistische' Geste. Denn die Gegenstände, die nicht interessant sind (bei denen der Mensch nicht 'engagiert' ist), bleiben 'auf Distanz'. Sie sind nur Objekte und der Mensch ist ihr Subjekt. Er steht an dem Ort der 'Transzendenz' gegenüber diesen vorhandenen Objekten. So kann er sie 'objektiv' erkennen. Im Verhältnis zu Dingen wie den Steinen und Sternen ist der Mensch wie ein Gott. Er ist es nicht im Verhältnis zu Dingen wie den Kathedralen, Krankheiten und Kriegen, denn in diese Dinge ist er verwickelt: sie interessieren. Die 'objektive' Erkenntnis ist das Ziel des Humanismus. In dieser Erkenntnis nimmt der Mensch den Platz Gottes ein. Das ist die 'humanistische' Geste und auch die Geste des bürgerlichen Forschers. Aber das ist nicht die ganze Geste. Die Bewegungen unbelebter Gegenstände sind mathematisierbar, und die interessanten Probleme sind das nicht im gleichen Maße. Mathematisieren: das ist ein altes Ideal, kein bürgerliches. An seinem Beginn ist es an die Musikalisierung geknüpft, an Zauber und Magie. Mathematisieren ist anfänglich die Geste des Spielens der Leier und der Flöte. Doch diese Geste hat sich gewandelt. Sie ist zur Geste des Ablesens geworden. Für den Islam ist die Natur ein von Gott geschriebenes Buch, und es ist in Zahlen geschrieben (arabisch 'Maqtub' meint 'Schrift' und 'Schicksal'). Der Mensch kann es dank Gott entschlüsseln. Hinter den verworrenen Zahlen der Natur wird er einfache Algorithmen finden. Der revolutionäre Bourgeois sucht die Bewegungen unbelebter Gegenstände genau in so einer 'islamischen' Form zu mathematisieren. Seine Geste des Suchens ist auch die Geste des Entzifferns. Und eben dank dieses Aspekts ist seine Forschung 'exakt' geworden. " (Vilém Flusser, Gesten) [AM]