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Magazin für Theologie und Ästhetik


Wie viel Religion verträgt Deutschland?

Eine Rezension

Petra Bahr

Fasziniert und irritiert beobachten wir aus der Ferne, wie Amerika den Schrecken des 11. September bearbeitet. Die großen Gesten der Politik verbinden dort sich zwanglos mit Gesten der Religion. Gebetsformeln beschließen nicht nur die Reden des Präsidenten. Öffentliche Trauerliturgien, Talkshows und die Pressekonferenzen der Militärs greifen gleichermaßen selbstverständlich auf ein religiöses Repertoire zurück. Die Sprache dieser Religion ist Christen, Juden, Muslimen und Hindus offenbar gleichermaßen verständlich. Zivilreligion nennt man dieses Phänomen, die das politisch System mit starken Hintergrundgewissheiten, die demnach das Politische mit Außerpolitischem ausstattet.

Vor dem Horizont der Verbindung von Politik und Religion in einem Land wie den USA, wo Religion qua Verfassung Privatsache ist, fragt Rolf Schieder mit provokantem Unterton: Wie viel Religion verträgt Deutschland? Wie viel reimt sich auf Zivil. Der Autor, evangelischer Theologe und Experte in Sachen Zivilreligion, gibt nicht nur einen leicht verständlichen Überblick über die akademischen Debatten zu diesem Phänomen. Er holt die Diskussion mitten in das politische Leben der "Berliner Republik" mit ihren Inszenierungspraktiken, Ritualen und Symbolen. Dabei unterzieht der Autor die spezifisch deutsche Form der Verbindung von Religion und Politik einer Art "Verträglichkeitsprüfung".

In zwölf locker verbundenen Essays, die auch einzeln lesenswert sind, erkundet Schieder das weite Feld zwischen Religionspolitik, zivilreligiösen Praktiken des öffentlichen Lebens und dem Öffentlichkeitsanspruch der Religionsgemeinschaften. Er überprüft die in den gängigen Konzepten der Zivilreligionstheorie unterstellten Religionsbegriffe, durchmustert die Sehnsüchte der politischen Klasse nach Homogenität und außerpolitischer Legitimierung, die mit der unausgesprochen mit bisweilen überspannten zivilreligiösen Erwartungen verbunden sind und kann dem Konzept der Zivilreligion doch eine sinnvolle und analytisch unvertretbare Dimension auf das Religiöse abgewinnen. Dabei unterzieht er Wie ein roter Faden zieht sich seine These durch das Buch: Die Politik braucht die Religion, damit sie selbst nicht religiös wird - die Religionen brauchen die Politik, damit sie zivil bleiben. Nur so lässt sich der Umschlag in politische Religion oder religiöse Politik auf Dauer verhindern.

In seinen Essays, die nicht nur gut geschrieben sind, sondern geschickt das authentische Material zugänglich machen, betritt der Autor einerseits das bekannten Terrain religionspolitischer Konflikte wie den Umgang mit Religion in der Schule mit neuer Fragerichtung: Der Verweis auf die "Weltanschaulichkeitsneutralität" des Staates in den akuten religionspolitischen Konflikte erscheint hier in anderem Licht: dem Staat ist zivilreligiöse Enthaltsamkeit auferlegt. Ein Religionsunterricht, der in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt wird, drückt die Achtung des Staates vor der Religionsfreiheit seiner Bürger aus und ist Ausdruck der Selbstbegrenzung des Politischen. Eine freiheitliche Zivilreligion kann es für Schieder, will sie das Freiheitspathos nicht unterschreiten, in der Moderne nur im Plural geben. Die großen Herausforderungen liegen auf der Hand: Christen, Juden und Muslime müssen ihre eigene Version eines gemeinsamen Überzeugungshorizontes für ein offenes und friedliches Gemeinwesen ausformulieren, in der die Anerkennung des Anderen die Basis bildet.

Das Buch wagt sich aber auch auf religionskundliches Neuland vor. Es stößt auf Spuren deutscher Zivilreligion, wo das Etikett "Religion" fehlt. So zeigt Schieder, wie ausgerechnet das Gedenken an die Shoah unter der Hand symbolpolitisch für die Beschwörung der Einheit aller Deutschen genutzt wird und übt deutliche Zivilreligionskritik. Er weist auch auf das Defizit der Religionskundler innerhalb und außerhalb der Theologie hin, die sich nach der medientheoretischen und ästhetischen Wende zwar den individuellen Sinndeutungsvollzügen zugewandt hätten, kulturgeschichtlich und kultursystematisch relevante Fragen nach der öffentlichen Inszenierung des (Zivil)religiösen bislang aber vernachlässigt hätten. Hier besteht in der Tat ritualtheoretischer und symboltheoretischer Nachholbedarf, der sich sowohl der Architektur der Macht als auch der Formen der medialen Darstellung widmet. Dass dieses Thema kritische und religionskompetente Aufmerksamkeit verdient, zeigt die neue Qualität der Näherung zwischen politischer Gedenkfeier und öffentlichem Gottesdienst, wie jüngst in Erfurt zelebriert.

Wer das Buch liest, erhält keine blutleere Analyse, sondern den streitbaren Beitrag eines Protestanten in liberaler Tradition. Das führt den Leser dazu, sich schon während der Lektüre mit dem Autor in eine Diskussion zu verstricken. Unklar beleibt allerdings, wie stark ein zivilreligiöse Sinnhaftigkeitsunterstellung des Politischen an eine konfessionelle Religionsperspektive gebunden ist. Schieder diskutiert zwar die heimlich protestantisch-puritanische Tiefenimprägnierung der amerikanischen civil religion, enthält sich aber dieser Suchbewegung für den deutschen Kontext. Unklar bleibt auch, wie denn der gemeinsame zivilreligiöse Horizont unseres Gemeinwesens aus der Vielfalt der irreduziblen Einzelperspektiven gebildet werden soll, wenn dieser Horizont nicht pluralitätszerstörend, sondern pluralitätserhaltend mitgesetzt wird. Ebenso klärungsbedürftig - darauf weist auch Schieder hin - ist das Verhältnis der Kirche als Organisation der Zivilgesellschaft für die Realisation einer solchen Zivilreligion. Das merkwürdige Stichwort der organisierten Zivilgesellschaft, jenes euphemistische Syntagma für das immer noch korporativ organisierte deutsche Gemeinwesen suggeriert eine Liberalität, die es dann nicht einhalten will. Die Unvertretbarkeit des Einzelnen gegenüber einer Gemeinschaft, jener Grundmotor einer liberalen Zivilitätsfigur, die ihren Ausgangspunkt beim Bürger und nicht bei seinen Organisationen nimmt, sitzt nicht nur als Stachel in allen Zivilgesellschaftskonzepten, die zu schnell wieder die Gemeinschaft gegen das Individuum ansetzen, sie sitzt auch als Stachel im Konzept der Zivilreligion, die ja qua Definition nicht selbst organisationsförmig sein kann, weil sie der Entfaltungs- und Möglichkeitshorizont einer Gesellschaft, wenn man so will, ihren Überschreitungsmodus, den Spielraum ihrer Freiheit, zur Darstellung bringen soll. Zu gerne dagegen beanspruchen hierzulande die offiziellen Kirchenvertreter, die - ausschließlichen - Agenten der Zivilreligion zu sein, die in Deutschland, wie Schieder luzide und im übrigen kritisch bemerkt, hauptsächlich im Gewand einer Wertedebatte daherkommt. Man könnte allerdings fragen, ob nicht auch das Bundesverfassungsgericht und das Staatsoberhaupt, der Bundespräsident, priesterliche Mandate der Zivilreligion in Deutschland übernommen haben. Das Konzept der offenen, liberalen Gesellschaft, das Schieder auch in Sachen Religion verteidigt, spiegelt sich im Konzept des Buches wieder: Es bietet keine letzten Antworten sondern provoziert zum Gespräch.


© Petra Bahr 2002
Magazin für Theologie und Ästhetik 17/2002
https://www.theomag.de/17/pb2.htm

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Rolf Schieder, Wieviel Religion verträgt Deutschland? Frankfurt 2001