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Magazin für Theologie und Ästhetik


ORGAN2 / ASLSP oder "Was ist Zeit"

Zur Eröffnung eines Kunstprojektes in St. Burchardi, Halberstadt - 5. September 2000

Klaus Röhring

Zeitwende bedeutet Rückblick und Ausblick, Erinnerung und Hoffnung zugleich. Ein Millenium endet, ein neues beginnt: Das Jahr 2000. Bewusst wird uns, wie Zeit vergeht. Symbolisch wie konkret in Halberstadt: Erinnerung an eine berühmte Orgel, 1361 von Pater Nikolaus dem Tischler erbaut, von Michael Praetorius im "Syntagma musicum II" beschrieben und gerühmt. Musikgeschichte geschah auch durch sie, wie durch die beiden anderen Orgeln dieser Stadt, die größte Renaissanceorgel - von Schloss Grüningen nach St. Martini versetzt - und die größte Barockorgel, deren Prospekt noch heute im Dom zu bewundern ist. Klänge haben diese in die Mauern der Halberstädter Kirchen eingegraben: Kyrie und Gloria, Präludien, Fugen, Choräle. Durch Halberstadt und die Kirchen gehend hört man sie, wenn man hören kann und will: "Es war einmal". Warum aber, so fragten sich Organisten, Musikwissenschaftler, Orgelbauer, Theologen und Philosophen, diese Erinnerung nicht auch als zukünftige: "Es wird einmal"? Das Jahr 2000 würde dadurch zu einer "Mitte der Zeit", bekäme gleichsam eine an der Christologie orientierte organologische Symbolkraft:

1361 - 2000 - 2639

Kein neuer Kalender wird damit geschrieben, aber ein Datum wurde gewählt, das Kalender, Zeit und Geschichte bewusst macht. Heute am 5. September 2000 zum 88. Geburtstag von John Cage soll diese Idee den Anfang ihrer Verwirklichung finden.

Eine Orgel soll hier in St. Burchardi gebaut werden und nach ihrer Fertigstellung mit John Cages ORGAN2 / ASLSP beginnen, mit dem ersten der acht "kleinen" Teile dieses Werkes, von denen eines bei einer Aufführung wiederholt werden sollte. ASLSP - so langsam wie möglich... warum nicht 639 Jahre lang das "Es war einmal" als "es wird einmal" nach vorne gedacht und geplant? Akkorde, Klänge, tage-, wochen-, monate-, jahre-, jahrhundertelang dauernd. Musik, sonst schnell sich verflüchtigend, in der Zeit vergehend, scheint zu dauern, zu haften, unbeweglich zu werden, als sei die Zeit der Ewigkeit schon da, als gäbe es nicht Wind und Wetter, Frost und Hitze, Störungen, Zerstörungen, Traditions(ab)brüche....

Ich stelle mir vor: Im Jahr 2003 oder 2004 nach Halberstadt zu kommen, ich höre, nachdem die lange Pause zu Beginn mich nur das Summen des Motors und den Wind des Blasebalgs wahrnehmen lässt, den gis1-h1-gis2-Akkord und vielleicht schon die e-e1-Oktave dazu. Ich frage mich, wann es denn sein wird und wie es zu erleben wäre, wenn das gis2 zum fis2 sich absenkt, das gis1 zum a1, das h1 zum c2 sich erhöhe und wie es klingen wird, lange im romanischen Kirchenraum verweilend, die Zeit dabei erinnernd, die Zeit aus-denkend, die nächsten 639, 638, 637 Jahre as slow as possible... Ich stelle mit vor, nach einer Stunde wieder dorthin zu gehen oder nach einem Jahr... oder nach Jahren. Aber weiß ich denn, ob ich das noch erleben werde?

Bewusst wird mir, dass solches - wie wir Theologen sagen - nur sub clausula Jacobaea zu sagen ist: "Wenn der Herr will, werden wir leben und dies oder das tun" (Jakobus, 4,15). Vielleicht fahren auch meine Kinder dorthin, mehrfach und deren Kinder vielleicht, um zu hören, wie weit man denn sei inzwischen mit dem, was mit mir begann und sich über mich hinaus fortsetzen möchte.

Und ich denke an die Baugeschichte des Halberstädter Domes oder der anderen Dome in unserem Land. Wie eine Generation Soli Deo Gloria in der Hoffnung, man werde in der nächsten und den weiteren Generationen fortfahren mit dem begonnen Werk, zu bauen begann, das Fundament setzte und die ersten Mauern zog. Anfangen in der Gewissheit, der certitudo, nicht securitas, der Sicherheit, dass der in uns angefangen hat das gute Werk, es auch vollenden werde.

Vertrauen, Hoffnung, Glauben braucht es dazu, nicht Sicherheitsgarantien und den Wahn, es morgen schon selber vollenden zu können oder zu müssen. Eine Haltung gegenüber der Zeit und der Geschichte, die uns Heutigen fremd geworden zu sein scheint, leben wir doch zumeist so, als seien wir das letzte der menschlichen Geschlechter, als könnten wir uns mit Hilfe von Gen- und Nanotechnik selbst unsterblich machen. Instant gratification wird uns versprochen, sofortige Bedürfnisbefriedigung. Die digitale Zauberfee erfüllt unsere Wünsche im Nu. Real time. Das Internet und seine 24-Stunden-Warenkörbe, nur anzuklicken, wird unser Glücksbringer. Ein temporaler Turmbau zu Babel (Pico Iyer).

Wie bei einer Revolte dagegengesetzt und -gespielt nun: ORGAN2 / ASLSP, "as slow as possible", 639 Jahre lang oder noch länger... heißt das nicht: In der Zeit die Zeit der Ewigkeit zu erahnen und gleich"zeitig" die eigene Vergänglichkeit, wie auch die Unverfügbarkeit der Zeit bewusst zu erleben und zu akzeptieren, weil wir uns vor einer Art der Unsterblichkeit hüten müssen, die noch schlimmer ist als der Tod? Die alte, weise und menschlich machende Erfahrung von Generationengeschichte wird hier in St. Burchardi wieder hörbar und bewusst gemacht. Das biblische Buch Kohelet, des Predigers, Kapitel 3 erinnert uns seit Urzeiten schon daran, dass die Zeit uns eigentlich unverfügbar ist: "geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit" (Prediger, 3,2). "Uns unverfügbar" heißt jedoch nichts anderes als "uns geschenkt".

Es gereicht dieser Stadt, ihren Bürgern, den in dieser Stadt Verantwortlichen und allen bisherigen und hoffentlich noch vielen künftigen Sponsoren zur Ehre, sich auf dieses in der Welt bisher einmalige Projekt eingelassen zu haben, es nun auch verwirklichen und an die nächsten Generationen weitergeben zu wollen. Sie setzen damit das Zeichen einer auch so anders möglichen Zeitrechnung als sie heute üblich geworden. Sie erinnern damit auch eine hinter der Zerstörung dieser Stadt zurückliegende Geschichte, um sie nach vorne zu wenden, als Hoffnung und Mahnung und als Verpflichtung für uns und die zukünftigen Generationen. Jüdisch-christliche Tradition nennt den Inhalt derselben Schalom, Frieden und meint damit das uns alle umfassende Glück, das uns zuteil werden wird, wenn wir bereit sind, es auch wie ein Geschenk zu empfangen. Dafür steht dieses Kunstprojekt. Darin spiegelt es auch den Geist dieses "so langsam wie möglich" zu spielenden Werkes von John Cage. Er war - wenn auch mehr in der Tradition fernöstlicher Religiosität und ihrer westamerikanischen Verwandlung - der Überzeugung , dass "circumstances do it for us". Er will uns auch durch seine von allen Zwängen befreite, anarchische, also herrschaftsfreie Musik verhelfen, "einfach zu diesem unserem Leben (zu) erwachen, das so vortrefflich ist, wenn wir erst einmal unseren Geist und unsere Wünsche aus dem Weg geräumt haben und es aus sich heraus wirken lassen" (Silence).

"Herr, Dein ist die Ewigkeit...Deine Jahre gehen nicht und kommen nicht; aber unsere Jahre hier - sie kommen und gehen, und so nur können sie alle kommen...Deine Jahre sind ein einziger Tag, und Dein Tag ist ja nicht ein Tag um Tag, sondern ein Heute, wie Dein heutiger Tag nicht einem morgigen weicht, wie er denn auch nicht einem Gestern folgt. Dein Heute ist Ewigkeit...Die Zeiten alle hast Du gewirkt, und vor den Zeiten allen bist Du, und niemals gab es eine Zeit, wo Zeit nicht war...", schreibt Augustin im berühmten Kapitel über die Zeit, im XI. Buch seiner Bekenntnisse und fragt: "Was ist Zeit? Wer könnte das leicht und kurz erklären? Wer vermöchte es auch nur gedanklich zu begreifen, um sich dann im Wort darüber auszusprechen? Gleich wohl, was ginge uns beim Reden vertrauter und geläufiger vom Mund als 'Zeit'? Beim Aussprechen des Wortes verstehen wir auch, was es meint, und verstehen es gleichso, wenn wir es einen anderen aussprechen hören. Was ist also 'Zeit'? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht".

ORGAN2 / ASLSP wird hörbarer Ausdruck dieses Wissens des Nichtwissens sein. Nicht zuletzt von Sokrates wissen wir, dass dieses menschliche Weisheit ausmacht und kennzeichnet.

"Und da reden wir von Zeit und Zeit, von Zeiten und Zeiten...So sagen wir und so hören wir, und wir werden verstanden und wir verstehen. Es scheint uns sonnenklar und kommt aus aller Munde, und... liegt doch so tief im Dunkel und bleibt erst neu zu finden" (Augustin: Conf.XI, 13.14.22).

ORGAN2 / ASLSP wird über die Generationen hinweg ein hörbarer Ausdruck dieses uns menschlich machenden fortwährenden Suchens sein.

Darum haben wir in einer Zeit, die dem Mammon des Zeitraffers verfallen ist und daran schier zugrunde geht, diese andere Zeiterfahrung als Erbe an die künftigen Generationen wie eine Botschaft, wie eine musikalische Flaschenpost weiterzugeben. Was könnte besser dazu dienen als John Cages ASLSP!

Und: Könnte ASLSP nicht erfahrbar und greifbar machen, was Günter Grass von allen Schulen als Kursprogramm forderte: "Die bewusste Verzögerung. Das bis zum Stillstand gebremste Tempo"? Zudem: Haben wir nicht für unser musikalisches Zeit-Projekt hier in Halberstadt jetzt einen Partner bekommen, den man vielleicht nicht so seltsam belächelt und ein wenig für verrückt erklärt? Die "Long-Now-Organisation", die sich aus Frauen und Männern der Hightech-Szene der US-Westküste gründete mit dem Ziel, der digitalen Revolution eine langfristige Perspektive zu geben: durch den Bau des langsamsten und dauerhaftesten Computers der Welt. Wie wir hier in Halberstadt wollen sie mit dieser Long-Now-Installation - teils Uhr, teils Computer, teils Bibliothek - an die Tradition generationsüberspannender Projekte anknüpfen - an Staudämme, Pyramiden, Kathedralen. Lediglich zwei Kalkulationen pro Tag soll dieser Computer durchführen, eine um Mitternacht, eine mittags - das aber über Jahrtausende hinweg. Will diese Organisation ein Denken in den Kategorien langsam/ besser befördern und die Aufmerksamkeit auf unsere kollektive Kreativität in den nächsten 10 000 Jahren lenken, so wollen wir in Halberstadt mit den hierzu bescheidenen 639 Jahren vielleicht dennoch weitreichender und tiefgehender die uns alle betreffende Frage aufwerfen:

Könnte es nicht sein, dass man in diesem stillen und klingenden Raum von St. Burchardi erfahren und erleben kann, was die Weisheit des 90. Psalms ist: "Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden" (Psalm 90,12)?

ORGAN2 / ASLSP ist also, wie es oberflächlicher und auf Events ausgerichteter Betrachtung scheinen mag, keineswegs der Ausdruck einer Hybris. Im Gegenteil: Man könnte es einen "musikalischen Erdkilometer" nennen und es in Intention und Wirkung mit Walter de Marias Kunstwerk in Kassel vergleichen. Wie vom besagten amerikanischen Uhren-Computerprojekt könnten wir sagen: "Es würde für die Menschen tiefe Zeit verkörpern. Es wäre etwas Besonderes, es zu besichtigen, und es wäre eine Freude, über es nachzudenken. Es wäre so berühmt, das es als Ikone in den öffentlichen Diskurs eingehen würde" Es ist ein Werk, das aus dem Vertrauen in die Zukunft kommt und der securitas, der wahnhaften Selbstsicherheit, die certitudo, die Gewissheit, das Vertrauen entgegenstellt. Es könnte dem "Pflanzen eines Apfelbäumchens" gleichen. Helfen Sie mit, es zu pflanzen und es nach unserem Vermögen wachsen und gedeihen zu lassen!


© Klaus Röhring 2002
Magazin für Theologie und Ästhetik 15/2002
https://www.theomag.de/15/kr2a.htm