Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Magazin für Theologie und Ästhetik


Die Leinwand als Tabernakel?

Bemerkungen zum Projekt "KinoKirche"

Inge Kirsner

"Nein zur Kinokirche!"

Der erste Versuch, 1997 in einer Stuttgarter Kirche (im Stadtteil Rot) Filme zu zeigen, führte zu Widerständen in der dortigen Kirchengemeinde. Mit einem Protestschild stand eine Kirchengemeinderätin vor der Kirche. Für sie war es eine Entweihung des heiligen Ortes: "Dazu gibt es doch Gemeindesäle!" beharrte sie. Die Demonstrantin verglich die Aufführung von Filmen in der Kirche mit dem Treiben der Händler, bevor sie von Jesus aus dem Tempel vertrieben wurden. Befragt, ob sie generell gegen Bilder und andere Medien in der Kirche sei, sagte sie, eine Bildbetrachtung sei etwas ganz anderes als ein Film. Ersteres führe in die Tiefe, letzteres zur Zerstreuung. Um Zerstreuung aber könne es in der Kirche nicht gehen.

Um was ging es bei diesem Versuch in der Auferstehungskirche in Rot? Es sollten statt der üblichen Andachten in der Passionszeit als Vorbereitung auf Karfreitag und Ostern einige Filme gezeigt werden, die unterschiedlichste Leidensgeschichten thematisieren.

Dies in einer Kirche aus den 50er Jahren, schlicht, funktional, vorne ein modernes Kreuz in einer Nische, links auf einer Empore die Orgel, rechts vom Kreuz eine riesige weiße Fläche, ideal als Projektionswand. Da die Fenster nicht zu verdunkeln waren, war es notwendig, die Filme später am Abend zu zeigen - doch im Licht der Projektion blieb das Kreuz schattenhaft sichtbar.

Zu sehen gab es u.a. eine Neuinszenierung der Geschichte um das Leben und Leiden des historischen Jesus ("Jesus von Montréal", Denys Arcand, Kanada 1989), "Intolerance" (D.W. Griffith, USA 1916), "Das siebte Siegel" (Ingmar Bergman, Schweden 1956) und "Es wäre gut, wenn ein Mensch würde umbracht für das Volk" (Hugo Niebeling, Deutschland 1991), alles Klassiker des ´religiösen´ Films. Doch auch für die Filmkundigen gewannen die vorgestellten Klassiker durch den Aufführungsort erneute Aktualität.

Eine vertiefende liturgische Qualität wurde besonders bei dem Stummfilm "Intolerance" sicht- und hörbar. Kantor und Filmmusiker Jürgen Schwab begleitete und kommentierte das dreistündige filmische Geschehen an der Orgel und erinnerte so an die Anfänge der Filmgeschichte, als Filme noch in kirchenähnlichen Theatersälen aufgeführt und mit Kino-Orgeln begleitet wurden.

Die Anfänge: Kino als Kirche

Tatsächlich, wer am Anfang des letzten Jahrhunderts ein Kino betrat, fand sich in einem hohen Saal wieder, dessen Stuhlreihen zentral nach vorne ausgerichtet waren; rechts vom Zentrum befand sich eine riesige Orgel. Unterschied: da vorne war hinter dem Vorhang - nichts. Leere, Weiße. Zunächst. Des weiteren: der rote Plüsch. Und: keine Fenster. Die Konzentration sollte ausschließlich auf das Geschehen da vorne ausgerichtet sein. Das, was diesen Raum unterschied von anderen kulturellen Vorführungsräumen, war schließlich das, was gespielt wurde.

Das Kino zu nutzen als einen Raum, in dem die Filme nicht nur abgespult werden, sondern die Überlegungen, die die Menschen zu diesem Film führten und die Diskussionen, die einem Film, oft an einem anderen Ort, folgen, in eben den Kinoraum zu verlegen, und ihm so eine zusätzliche Qualität zu verleihen, war lange Jahre ein Projekt des Abaton-Kinos in Hamburg in Zusammenarbeit mit dem Amt für Öffentlichkeitsdienst. Solche Filmreihen mit Themen wie "Zweite Schöpfung", "Die Konstruktion der Wirklichkeit", "Menschen, Monster und Maschinen" wurden in den Jahren 1996-1999 auch im Kommunalen Kino in Stuttgart, zusammen mit dem Ev. Bildungswerk und der Ev. Medienzentrale, angeboten. Ziel war es jeweils, interessierten KinogängerInnen mit Einführungen in die Filme und dem Angebot von Begleitseminaren und der Möglichkeit zur Diskussion im Anschluss an die Filmsichtung einen Eindruck davon zu vermitteln, wie die Sinnmaschine Kino arbeitet und welche Filme auf den zweiten Blick auch einen religiösen Zugang bieten.

Noch reizvoller als diese Form des intellektuellen Zugangs aber ist es, eine anderes Zusammenspiel zwischen Kino und Kirche zu erproben.

Zweiter Versuch: Kirche als Kino

Was in Stuttgart-Rot auf Protest traf und nur eine spärliche Zuschauerzahl erreichte, war längst erprobtes und bewährtes Zusammenspiel in der Kirche St. Johannis in Hamburg-Harvestehude. Während beim dortigen Angebot an Filmgottesdiensten bislang ein Fernseher flimmerte, um den im Halbkreis einige Menschen saßen, wurde anlässlich des Kirchentages 1995 quer vor den Altar eine große Leinwand gespannt. Auf der Empore standen zwei Filmprojektoren, an denen Tage und halbe Nächte durchgearbeitet wurde. "Liturgische Filmnächte" hieß das Projekt, das große Besucherzahlen anlockte, die z.B. "Das Schweigen der Lämmer" und "Blade Runner" sicher zum ersten Mal (in einer Kirche) sahen. Die Filme wurden immer wieder unterbrochen, um theologischen Reflexionen über Geschöpf und Schöpfer oder die Vielschichtigkeit des Bösen Raum zu gewähren. Die Höhe des neugotischen Kirchenraumes bot den Vorteil, dass trotz der riesigen Leinwand der Blick nach vorne nicht ´vermauert´ wurde, sondern über der Leinwand noch die Spitzen der drei bunten Fenster sichtbar waren, die über das Geschehen auf der Leinwand hinauszuweisen schienen.

Bewusst vermauert wurde der Blick nach vorne im Rahmen der Ausstellung "Subfiction 2" von Maix Mayer im Hospitalhof Stuttgart im März 2001. Kunst in der Kirche hat, gerade in der Hospitalkirche, eine lange Tradition. Die sakrale Atmosphäre des Kirchenraumes lädt dazu ein, vor Bildern, Objekten, Installationen lange zu verweilen. Den einander erhellenden, einander brechenden und manchmal verwirrenden Verbindungen nachzugehen, die sich daraus ergeben, dass Kunst an einem solchen besonderen Ort gezeigt wird, der selbst schon eine lange Geschichte hat, eigene Kunstwerke beherbergt. Den Zeitrhythmus - wie viel Verweildauer sie den Objekten jeweils zugestehen - bestimmen die Kunstbetrachtenden selbst.

Solange die Bilder sich nicht bewegen. Ganz anders stellt sich die Kunstbetrachtung dar, wenn es sich bei der Installation um einen Film handelt. Oder gar um zwei parallel laufende Filme, wie sie bei der Ausstellungseröffnung der Werke von Maix Mayer am 16. März 2001 in der Hospitalkirche gezeigt wurden. Oder besser: innerhalb der Hospitalkirche. Die dogmatischen, ästhetischen Probleme, die sich aus der Filmprojektion in einer Kirche ergeben können, wurden raffiniert gelöst. So wie es in manchen Kirchen eine Kapelle innerhalb des Kirchenraumes gibt, die etwas Besonderes beherbergt, das nicht sofort einsichtig ist, wurde ein eigener Raum für den Film geschaffen. Durch die Ab-Teilung des hinteren Kirchenraumes wurde eine Kino-Kirche innerhalb des Kirchenraumes installiert; eine Wand an der Empore befestigt, die lediglich rechts und links einen schmalen Durchgang lässt. Auf diese Wand wurden die Filme projiziert, sie wird zur Leinwand. Auch das Verdunkelungsproblem war auf diese Weise gelöst, die praktischen und theoretischen Einwände umgangen.

Film ist ein eigenes Lebewesen; es bestimmt seinen Rhythmus selbst. Der Film gibt im allgemeinen einen totalitären Rezeptionsstatus vor: er gibt vor, was gespielt wird. Er schafft eine eigene Wirklichkeit, eine Filmlänge lang und lässt in dieser Zeit kein anderes Bild gelten neben sich. Film hat die Qualität und den Anspruch eines Traumes, der den Geist gefangen nimmt und zu seiner einzigen Wirklichkeit wird.

Auch die Kirche ist ein zentralistischer Raum; der Gekreuzigte vorne in der Mitte bestimmt die Wahrnehmung, und prägt sowohl die Worte, die gesprochen werden, wie auch die ausgestellten Objekte. Durch die Wand, die zwischen den Kino- und den Kirchenraum gezogen wird, tritt das Kreuz für die Kinobesucher in den Hintergrund. Aber es bleibt dahinter, unsichtbar-bestimmend.

Zwei Räume innerhalb eines Raumes: Kino und Kirche verweisen so aufeinander, ohne einander zu vereinnahmen. Die Möglichkeit zum Dialog und die Wahrnehmung von Differenz zwischen zwei unterschiedlichen Erzählgemeinschaften werden auf diese Weise eröffnet. Dies ist das Setting für Maix Mayers Film Subfiction 2, der aus zwei Filmen besteht, die nicht nach- sondern nebeneinander gespielt werden. "Erlösung" ist sein Thema, und dies wird auf vielfältige Weise durchgespielt, inhaltlich, räumlich und durch die Verbindungen, die sich durch die Beziehungen zu seinen übrigen ausgestellten Objekten und der Kirchen-Kunst im Raum ergeben.

"Dazu gibt es doch Gemeindesäle!" hatte die Demonstrantin gesagt, die bewegte Bilder für wenn nicht gottes-, so doch kirchenlästerlich hielt. Der Kirchenraum besitzt tatsächlich eine eigene liturgische Qualität, die schon lange für (Kirchen- u.a.) Musik und für Kunstausstellungen aller Art genutzt wird. Die Filmprojektion stellt jedoch eine besondere Herausforderung dar, praktischer wie theoretischer Natur.

Das Projekt: Filmgottesdienste

Will man Filme nicht einfach nur in der Kirche zeigen, sondern sie auch liturgisch einbinden, wie es ein Jugendarbeits-Team der ev. Friedenskirche in Stuttgart ab Herbst 1999 plante, steht man vor einer Fülle von Problemen und Entscheidungen. Die erste Entscheidung ist die gegen den Gemeindesaal, wo es bereits eine eingebaute Leinwand gäbe und auch die Verdunkelung samt Projektion keine Schwierigkeit darstellen würde. Die älteren Gemeindemitglieder hätten für diese Lösung plädiert, weil im Gemeindehaus auch alle anderen ´subversiven´ Veranstaltungen wie Jugenddisco etc. laufen. Sie sind erleichtert, als klar wird, dass die geplanten Filmgottesdienste nicht als (Ersatz für den) Sonntagsgottesdienst, sondern als Zweitgottesdienste angeboten werden sollen. Und zwar am Sonntagabend, in den Herbst- und Wintermonaten - selbst eine so dunkle Betonhöhle wie die Friedenskirche, erbaut in den 60er Jahren, ist für eine geplante Filmprojektion mit Videobeamer sonst zu hell. In der Vorbereitung wurde deutlich, dass es sinnvoll ist, das neue Medium in eine vertraute liturgische Form zu betten, die aber neu gefüllt werden sollte. Der Ablauf der jeweiligen Filmgottesdienste orientierte sich an der normalen Gottesdienstordnung. Die Inhalte der jeweiligen liturgischen Stücke jedoch sollten ganz auf den Film ausgerichtet sein: dieser war Ausgangs- und Zielpunkt, von ihm wollten wir die Themen, den Rhythmus, die Klangfarbe bestimmen lassen.

Wie aber lässt man die beiden Totalität beanspruchenden Systeme Kino und Kirche nicht feindlich, sondern dialogisch korrespondieren? Film und Gottesdienst wurden als zwei Größen nacheinander vorgestellt; der eine im Gottesdienst vorgestellte Filmausschnitt war in sich verständlich und abgeschlossen. Andere mögliche Modelle wie das Zeigen mehrerer Filmausschnitte innerhalb des Gottesdienstes wurde zunächst verworfen, weil man dem Film und dem Gottesdienst auf diese Weise nicht gerecht werden würde. So steht der eine Ausschnitt als pars pro toto in der Mitte der Feier, als Predigttext gewissermaßen. Natürlich stellt ein Ausschnitt immer eine Beschneidung dar, und der Film wird durch den Kontext auch funktionalisiert. Aber das Medium Film konnte im Anschluss an die Feier unbeschnitten Raum gewinnen. Und einen Ausschnitt aus dem Film im Gottesdienst zu zeigen, erschien sinnvoller, als diesen nachzuerzählen (was heute oft genug im normalen Sonntagsgottesdienst geschieht).

Wie in einem Triptychon stand der jeweilige Filmausschnitt in der Mitte: zwischen Einführung und (theologischen) Zugang. Davor wurde gebetet (im Wechsel, ein Psalm oder Salomons Hohelied der Liebe, je nach Thema des Films) und gesungen (oder es wurde etwas eingespielt). Während der Schriftlesung wurde auf der Orgel improvisiert (machtvolle Orgelklänge zur Schöpfungsgeschichte) oder diese wurde durch inszenierte Zwischenrufe unterbrochen (wie war das mit der Stammtafel und der Zeugung Jesu?). Nach der ´Predigt´, besser: den Zugängen, weil verschiedene ´Auslegungen´ dem Filmausschnitt folgten, wurde nochmals gesungen und das Vater Unser gebetet; der Segen schloss den gottesdienstlichen Teil ab. Nach einer viertelstündigen Pause, in der man sich mit Getränken und Popcorn versorgen und mit den anderen BesucherInnen diskutieren konnte, wurden die jeweiligen Filme ganz gezeigt: von Charlie Chaplins "City Lights" und Baz Luhrmanns "Romeo und Julia" über Peter Weirs Filme "Die Truman Show" und "Fearless" bis zu Andrew Niccols "Gattaca".

Fazit

Wir vollzogen mit den Filmgottesdiensten liturgisch nach, was die Friedenskirche optisch ausdrückt: 1892 wurde die Kirche eingeweiht, deren Turm heute noch steht. Das restliche Kirchengebäude wurde im 2. Weltkrieg fast ganz zerstört. An die Stelle der Ruine trat ein Betonbau, der 1966 fertiggestellt wurde. Der Bau der Friedenskirche erscheint von außen wie ein sachlicher grauer Kasten. Der alte Turm aus dem 19.Jahrhundert steht unvermittelt neben dem neuen ´Betonklotz´. Die Kargheit und das Nebeneinander von Alt und Neu ist Programm.

Das Innere des Betongebäudes gleicht einer Höhle; rechts und links oben findet sich eine Reihe von Betondurchbrüchen, kleine Lichtkanäle, verglast. Die sich in einer Art Halbrund um den Halbkreis des Altarraumes befindlichen Kirchenbänke sind auf dessen Mitte ausgerichtet. Hier befindet sich eine hohe Stahlkonstruktion mit jeweils vier Längs- und Querstangen, das Ganze nicht massiv, eher einem Gerüst gleichend. Kein Corpus hängt daran. Dieses Kreuz beherrscht den Raum, doch weil es nicht massiv, sondern durchlässig ist, wirkt es nicht erschlagend, sondern ´aufrichtend´. Die Leinwand wird nicht zentral vor dem Altarraum aufgespannt, sondern hängt rechts von dem Gerüst. So bleibt während der Filmprojektion dieses offene Kreuz sichtbar. - Die baulichen Gegebenheiten bilden die Situation der und die Anforderungen an eine Großstadtgemeinde in idealer Weise ab; das Alte ist vergangen, steht noch als ´Bild´ neben dem neuen Gebäude, das den Bildersturm schon hinter sich hat. Der neue, karge Raum kann völlig neu ´bespielt´ werden. Alt und neu treten in Beziehung miteinander - aber durch den sichtbaren Abstand lediglich durch die Verbindungen, die sich in Auge und Ohr der Betrachtenden und Zuhörenden herstellen.

Dies entspricht der gegenwärtigen Wirklichkeitswahrnehmung, und der Film ist deren vollkommenstes Medium, insofern er sichtbar macht, wie sich Wirklichkeit zum (immer variierenden) Bild im Kopf der Rezipienten zusammensetzt.

Versteht man Theologie, unter anderem, als Wahrnehmungswissenschaft, so ist es eine ihrer Aufgaben, zu untersuchen, wie die Konstruktionsbedingungen der Wirklichkeit und des Glaubens ´funktionieren´. Wie die Beziehungen zwischen beiden Größen aussehen, muss immer neu gedacht und bedacht werden. Die Umgestaltung eines Kirchenraumes zur Kinokirche ist eine der spannenden Möglichkeiten, dieses Wechselspiel zu inszenieren und sichtbar zu machen.


© Inge Kirsner 2002
Magazin für Theologie und Ästhetik 15/2002
https://www.theomag.de/15/ik3.htm