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Magazin für Theologie und Ästhetik


Cinema mundi

Neues iranisches Kino

Heike Kühn

Majid Majidi: Die Farben des Paradieses

"Allmächtiger Gott/ Du, sichtbar und unsichtbar / Nur Dich will ich", predigt der Kassettenrekorder, bis ein Lehrer der Teheraner Blindenschule die Kassette entnimmt. Ein Junge meldet sich, hat sein Eigentum herausgehört. Fromme Weisen und tumultuarische Gesänge finden so ihre Besitzer, dann klingt etwas an, das nicht einstudiert ist. Auf dieser Kassette singt die Großmutter des achtjährigen Mohammad. Was sie singt ? Das verraten die Untertitel von Majid Majidis Film "Die Farben des Paradieses" nicht. Gebete müssen übersetzt werden. Lieder von Großmüttern nicht. Die Hauptsache versteht man auch so: Mohammad wird geliebt. Dass sein Vater sich dieser Liebe nicht anschließt, ist Mohammads größter Kummer. Die Sommerferien sind angebrochen, seine Freunde sind von ihren Eltern abgeholt worden. Nur der Achtjährige sitzt noch vor der verwaisten Schule. Dennoch hat der Junge ein Ohr für das Leiden anderer. Das Vögelchen, das aus dem Nest gefallen ist, entdeckt er vor einer Katze. Majidis mitfühlender Held hat das absolute Gehör der Schöpfung. Wenn es gilt, Vogeleltern ihr Junges und der Welt ihr Gleichgewicht wiederzugeben, klettert er mit Fingerspitzengefühl bis in die Krone eines Baums.

Die Osmose von Film und Wirklichkeit prägt seit den späten sechziger Jahren die Filmproduktion des Irans. Abbas Kiarostamis berühmte Trilogie aus einem Erdbebengebiet beruhte auf realen Ereignissen wie Mohsen Makhmalbafs Filme. Beide Regisseure schätzten das Reale als Fundament eines künstlerischen Prozesses, den es sichtbar zu machen galt. In Kiarostamis Trilogie spielen die Überlebenden des Erdbebens sich selbst. Trauer und Komik entstehen, wenn angeborene und aufgetragene Persönlichkeit kollidieren. Die Persönlichkeitsspaltung vor laufender Kamera, die Imitation des eigenen Lebens, zu der Zensur und Sittenwächter ohnehin zwingen, sollte zum Markenzeichen des Iranischen Films werden. Noch bekannter wurde dieser subversive Stil, der politische Probleme in die Klammern eines filmischen Konjunktivs setzte, durch seine oftmals kindlichen Hauptdarsteller. Schon die frühen Filmen von Kiarostami nutzten Kinder als Seismographen - bis heute nehmen sie im iranischen Film wahr, was eine Gesellschaft erschüttert, die nicht nur ihre Erdbebenopfer verschweigen muß. Eine andere Linie gab Forugh Farokhzad vor: Zugleich Irans berühmteste Lyrikerin, entschleierte sie 1962 mit "Khanesh Siah Ast" (The home is dark) die Schattenseiten ihres Landes. Ihre Studie über Leprakranke, unbarmherzig konkret in der Anklage, mystisch überhöht im Bild, ist ein Filmgedicht von zeitentrückter Wahrhaftigkeit. Forugh Farokhzad starb 1967 bei einem Unfall. Ihr poetischer Realismus ist ein Vermächtnis, das trotz der verbotenen Melancholie Erben gefunden hat.

Noch immer folgen die iranischen Filme den auseinanderstrebenden Seiten der Docufiction und des poetischen Realismus, die sich auf Kinderfilmbasis zum magischen Dreieck eines international mit Preisen überschütteten Filmschaffens zusammensetzen. Mittlerweile sind Filme entstanden, die an allen Seiten Maß genommen haben. Obschon Majid Majidi zur dritten Generation iranischer Filmemacher zählt, zeugen "Die Farben des Paradieses" unverdrossen von Kiarostamis und Makhmalbafs Einfluss. Bis auf Hossein Mahjub, der Mohammads Vater spielt, hat keiner der überwältigenden Laiendarsteller je vor einer Kamera gestanden. Mohsen Ramezani, der als Mohammad eines seiner blinden Augen den Wundern des Alltags zuwendet, während das andere ein Teleskop ist, das ein inneres Universum erkundet, besucht tatsächlich eine Blindenschule. Doch es gibt auch Abweichungen vom Werk der Vorgänger, Veränderungen, die die Altmeister selbst eingeläutet haben. In Makhmalbafs Film "Die Stille" treten zwar wie gehabt Laiendarsteller auf, aber sie spielen nicht mehr die eigene Geschichte nach. Die komplexe Struktur der Docufiction, zugleich authentisch und doch abgesichert als hohe Kunst innerfilmischer Reflexion, bot der Gesellschaftskritik ein Schlupfloch. Jetzt wagt sich die Fiktion ins Freie, gemaßregelt von Vorschriften, die die Produktion eines iranischen Films zum kafkaesken Unternehmen abstempeln, doch zunehmend selbstbewusster.

Mohammads Vater wird sein Kind abholen und in die Berge seines Heimatdorfs zurückbringen. Aber der fünfzigjährige Witwer ist verbittert. Dass Großmutter und Enkel einander die Welt bedeuten, erkennt der Köhler nicht. Sein Leben ist die Schwärze, in die sich Verbranntes wandelt. Mohammad erfühlt das Glühen einer Landschaft, die gesättigt ist von Gelb und Rot und Blau wie die Wolle für die Gebetsteppiche, die seine Großmutter im Blütensud färbt. Die Vogelrufe sind ein Silbenrätsel, das Gott ihm stellt. Über die Kiesel im Bachbett, die Körner einer Ähre gleiten die Finger des Jungen mit derselben Verzückung, die ihm beim Ertasten der Blindenschrift überkommt. Mohammad liest die Welt mit den Fingern und sie ist schön. Sein Vater sieht einen Krüppel und die Welt wird hässlich. Eine zweite Ehe soll ihm den Sohn schenken, der ihn im Alter mit offenen Augen unterstützt. Mohammad steht dem im Wege. Der Vater bringt ihn fernab bei einem blinden Tischlermeister unter. Der Verlust des Enkels treibt die Großmutter aus dem Haus. Noch im strömenden Regen, die Augen beschlagen vor Trauer, wird die alte Frau den an Land geschwemmten Fisch bemerken und seinem Element zurückgeben: Der Akt der Barmherzigkeit, der Majidis Figuren charakterisiert, ist ein Akt mythischer Naturverbundenheit.

Der reuige Sohn holt die Einsame im Unwetter ein. Retten kann er die Mutter nicht. Ihr Tod ist ein weißer Nebel, der vor Mohammad aufsteigt, der Paravent einer übersinnlichen Natur. Die Familie, in die der Vater einheiraten will, deutet den Todesfall als böses Omen. Die Hochzeit wird abgesagt. Widerwillig wie schon einmal wird der Vater Mohammad zurückholen. Am Wegesrand übergeht der Köhler eine Schildkröte, die auf dem Rücken zappelt. Die Qual des Tieres erzählt von einer ganzen Welt, die danieder liegt, von Rücksichtslosigkeit und blinder Wut. So kündigt sich an, was den Vater bewegt, als er den Sohn beim Überqueren eines reißenden Flusses alleine lässt.

Auch Makhmalbafs Film "Die Stille" erzählt die Geschichte eines blinden Jungen. Die Stille setzt ein, sobald Makhmalbafs Protagonist Korshid sich vor der Welt verschließt. Die Hände auf den Ohren hört Korshid auf die Erinnerung an das bedrohliche, Obdachlosigkeit und Schande heraufbeschwörende Klopfen eines Mieteintreibers. Was Korshids Mutter mit Sorge erfüllt, formt sich im Kopf des blinden Autodidakten zum Beginn von Beethovens fünfter Symphonie: Toktoktok-Took, pocht es hinter Korshids Schläfen, ein nie gekannter Rhythmus, der seine Arbeit als Saitenstimmer boykottiert. Am Ende wird Korshid in der Kunst aufgehen und den Metallschmieden seines Heimatstädtchen beibringen, ihre Töpfe im Takt der Fünften zu bearbeiten. Durch die überdachte Passage der Handwerker fällt ein göttliches Licht auf den blinden Dirigenten einer orientalisch abgewandelten 5. Symphonie. Ist das nun Kitsch oder Weltflucht?

Der 1953 geborene Majidi grenzt seinen Film von beidem ab. Zwar gib es auch hier die Blindheit, die sehend macht, wo Sehenden Einsicht verwehrt bleibt. Aber Mohammads Visionen einer lesbaren, auf Übersetzung wartenden Welt sind nicht entsagungsvoll, verlangen nicht den Rückzug in die Kunst. Mohammad sieht die Welt als Zuflucht. Das größte Mysterium ist seine Lebensfreude. Bilder von großer Zartheit und eine Tonspur, die die Seele wachsen hört, bezeugen die Intensität einer lyrischen Wahrnehmung. Sie geben einen Gott zu bedenken, der in der Natur allen zugänglich ist und keine fundamentalistischen Vermittler braucht. Die spirituelle Läuterung, die Mohammads Vater in "Die Farben des Paradieses" erfährt, ist zugleich ein Bekenntnis zur Eigenverantwortlichkeit. Vieles lässt sich ändern, sagt dieser Film, selbst im Iran. Mit Gottvertrauen? Mit Vertrauen in die menschliche Vorstellungskraft.

Jafar Panahi: Der Kreis

Die Leinwand ist schwarz, aber der Film hat schon begonnen. Schreie füllen das Bild, dunkle Blitze des Schmerzes. Aber es ist keine Folter, die die Stimme der Unsichtbaren spannt wie ein Seil, das gleich reißen wird. In das Weiß, das dem Schwarz, in die Stille, die dem Aufruhr folgt, platzt der Schrei eines Neugeborenen. Dann gibt sich das Weiß als Wand zu erkennen, in der ein winziges Fenster aufgeht. Von der verschleierten Hebamme ist kaum mehr als der Mund zu sehen, der Mund eines Orakels, geöffnet zum perfekten Kreis. "Ein Mädchen", sagt die Hebamme, "ein schönes". Für die alte Frau, die auf einen Enkel wartet, ist die Auskunft ein Todesurteil. Einen Jungen hat die Ultraschalluntersuchung ihrer Tochter versprochen. Die Schwiegereltern werden die Scheidung verlangen, von Betrug wird die Rede sein. Die Geburt eines Mädchens ist in Jafar Panahis preisgekrönten Film "Der Kreis" das Ende. Mit der gramgebeugten Großmutter verlässt die Kamera das Krankenhaus. Die Geschichte der Mädchengebärerin Solmaz, die wir nie zu Gesicht bekommen werden, wird stellvertretend für viele weibliche Schattenexistenzen im Verborgenen weitergehen, sie wird den Teufelskreis aus Unterdrückung und Rechtlosigkeit, offizieller Geringschätzung und inoffizieller sexueller Ausbeutung beschließen, in dem alle Protagonistinnen dieses aufwühlenden Film gefangen sind: Solmaz heißt "die Ewige".

Vorerst entlässt die Kamera Solmaz´ Mutter ins Gewühl der Teheraner Straßen und heftet sich an die verzweifelten Gesichter zweier Passantinnen, die ohne männliche Begleitung und deshalb obszönen Rufen und Rempeleien ausgesetzt sind. Als Staffellauf des Leidens funktioniert dieser iranische Reigen, in dem jede Frau einen Teilaspekt fundamentalistischer Doppelmoral zu spüren bekommt und alle zusammen vom ersten bis zum letzten Atemzug das Wesen der Unterdrückung verkörpern. Geschöpfe eines selbstherrlichen Islams, der seinen Opfern auch noch die Einsicht in ihre gottgewollte Minderwertigkeit abverlangt, sind sie dennoch nicht. Arezou, Pari und Nargess mögen sich im Gefängnis kennen gelernt haben, an ihrer Unschuld zweifeln sie nicht. Schon der Hafturlaub, der ihnen gewährt wird, zeugt von der Perfidie iranischer Rechtsprechung. Wagt sich eine Frau ohne männliche Begleitung auf die Straße, gilt sie als Hure. Ohne Ausweis, der etwa Studentinnen Bewegungsfreiheit einräumt, aber vom Vater unterzeichnet sein muß, kann sie jederzeit verhaftet werden. Wo aber soll Pari den Mann finden, der ihre Ehre öffentlich wiederherstellt? Eine Nacht lang hat man Pari und ihren Geliebten in der selben Zelle eingesperrt, dann ist er hingerichtet worden. Das Kind, das in der Zeit des Abschieds gezeugt wurde, vergrößert Paris Sündenregister zum Schandfleck. Ihr Vater nimmt sie auf und sagt sie tot. Nur knapp entgeht die beherzte Pari ihren Brüdern, die sie lieber tot sehen wollen. Eine Abtreibung könnte sie retten. Welcher Arzt wird ihr ohne die Genehmigung, die Vater, Ehemann und Staat ausstellen müssen, helfen? Pari wendet sich an ihre einstige Mitgefangene Elham. Elhams Mann ist Arzt, aber er weiß nichts von ihrer Vergangenheit. Soll sie riskieren, ihm eine Gefallene wie Pari als Freundin vorzustellen? "Du hast dich sehr verändert", sagt Pari, die als Gradmesser eines großmütigen Widerstands durch den Film geht, aber gerade deshalb versteht, was Elhams wahres Gesicht unter die Maske der Ehrbarkeit zwingt. Pari bedeutet "Engel".

Eine Zeitungsmeldung gab dem iranischen Regisseur Jafar Panahi den Stoff, aus dem die Alpträume sind. Auf zwei Zeilen, versteckt in der Rubrik "Sonstiges" wurde über den Selbstmord einer Frau berichtet, die ihre kleinen Töchter getötet hatte. "Die Zeitung", so Panahi, "bemühte sich nicht, nach Gründen für den Vorfall zu suchen. Zweifellos hielt sie jede Erklärung für überflüssig". Angesichts der Allgegenwart eines religiös verbrämten Frauenhasses im Iran entfalten sich auch die Verzweiflungstaten, die Panahis Heldinnen begehen, kommentarlos. Ob sich Arezou verkauft, um der zarten "Blume" Nargess, unter deren weltfremden Augen ein Veilchen blüht, die Busfahrkarte in ihre ländliche Heimat zu bezahlen, ob die unverheiratete Nayereh ihre kleine Tochter aussetzt: ihr Selbstopfer bedarf keiner Deutung. In den Augen der ausdruckstarken Darstellerinnen, die die Nuancen von Leid und Mitleid im Handumdrehen in die verbotene Freude über eine solidarisch geteilte Zigarette überführen, vollendet sich der Zirkel von Diskriminierung und Kriminalisierung. Eine der Frauen, deren Schicksale sich überlagern und steigern wie die Stadien des Mondes, aber damit auch die symbolische Kraft zur Erneuerung bekunden, wird sich am Ende zu der Rolle bekennen, die ihr die Logik der Sittenwächter aufgehalst hat: Mit der schamlos klarsichtigen Mojgane ist "Der Kreis" bei der Prostitution angekommen. Nur weil Jafar Panahi es wagte, der Zensurbehörde das Drehbuch vorzuenthalten, kann sein Film es offen mit dem größten Tabu in der Gesellschaft der islamischen Republik aufnehmen. Mojgane sieht Freiern und Anklägern ins Gesicht, sie senkt den Blick selbst dann nicht, wenn sie verhaftet wird.

Vor Mojganes exzeptionellem Auftritt betont die Kamera in klaustrophobischen Großaufnahmen den beengten Blickwinkel der Frauen. Über den Rand ihres Kopftuches, über den eigenen Gesichtskreis hinaus, haben die Frauen keine Privatsphäre. Sie sind Beobachtete, nicht Beobachterinnen. Selbst in den Bewegungen ihrer Pupillen zeichnet sich der Kreis ab. Die suchenden Augen der Frauen bezeugen aber auch, wie das Hinsehen die Grenzen der Diktatur verschiebt. In Panahis erstem Film "Der weiße Ballon" wird die siebenjährige Razieh von der Darbietung eines Schlangenbeschwörers fasziniert. "Das ist nicht gut für dich", sagt ihre Mutter und zieht sie weg. Für den Rest des Films wird Razieh beharrlich den einen Satz wiederholen: "Ich will sehen, was mir nicht gut tut". Von den Kindern lernen heißt im iranischen Film leben lernen. Panahis erwachsene Heldinnen sind einen Schritt weiter gekommen. Sie sehen deutlich, wer ihnen nicht gut tut: Noch nie war Gesellschaftskritik im iranischen Film unverblümter. Wenn der Kreis der Erzählung sich schließt, sitzen der Engel und die Blume, die Hure Mojgane und Arezou, die "Hoffnung", zusammen in Untersuchungshaft. Ob eine von ihnen Solmaz ist, will ein Wärter wissen, und diesmal schaut keine weg. Solmaz, die Ewige, das sind sie alle.

Bahman Ghobadi: Zeit der trunkenen Pferde

Wie keine andere Kinematographie der Welt hebt das iranische Kino Mühsal und Magie des Beginnens hervor. Fast scheint es, als sei der Filmanfang, der bei so unterschiedlichen Regisseuren wie Jafar Panahi und Majid Majidi buchstäblich im Dunkeln liegt, ein ästhetisches Gebot: Du sollst von der (filmischen) Schöpfung reden - und davon, wie schwer es ist, sie unter den Augen der Zensur sichtbar zu machen. In Jafar Panahis Film "Der Kreis" ist das erste Bild schwarz, und doch hat seine Anklage gegen ein fundamentalistisches Regime, das den Weg des Einzelnen von der Geburt bis zum Tode in ein Netz religiöser Zuweisungen einbindet, schon begonnen. In das Weiß, das dem Schwarz, in die Stille, die dem Aufruhr folgt, platzt der Schrei eines Neugeborenen. Aus dem Nichts wird auch Majid Majidis Film "Die Farben des Paradieses" geboren. Der kindliche Held aus "Die Farben des Paradieses" ist von Geburt an blind. Aber wie die Blindheit, die dem Betrachter die Augen öffnet für eine unterdrückte Gesellschaft, die sieht, und doch wegsieht, ist das Schwarzbild eine universelle Metapher. Es spricht von den schweren Geburten des iranischen Films, aber es schüttelt auch alle Einstellungen ab, die uns glauben lassen wollen, mit dem ersten Bild im Bilde zu sein.

In Bahman Ghobadis Film "Zeit der trunkenen Pferde" ist es der Regisseur selbst, der aus dem Dunkeln einer verborgenen Autobiographie zu uns spricht. Genau genommen interviewt er die achtjährige Erzählerin eines Films, der über weite Strecken hinweg dokumentarisch sein könnte, wäre da nicht seine kunstvolle Komposition. Die kleine Erzählerin heißt Ameneh. Seit dem Tod der Mutter nimmt sich ihre Schwester Rojin der sechsköpfigen kurdischen Familie an, die an der Grenze zum Irak lebt. Ameneh und der zwölfjährige Ayub fahren weit, um in der Stadt Geld mit Gelegenheitsarbeiten zu verdienen. Ihren kleinwüchsigen und verkrüppelten Bruder Madi tragen sie mit sich. Madi ist 15, aber er liegt in ihren Armen wie ein Dreijähriger. "Madi", sagt Ameneh mit ihrer ernsthaften Stimme, "ist der in der gelben Jacke". Das Schwarzbild ist die Ruhe vor dem Sturm: Aus Dutzenden hungriger Kindergesichter lässt Ghobadi seine jungen Protagonisten auftauchen, eine gnadenlose Hetze führt ihre Arbeitssuche von einer Ecke zur nächsten, wirbelt sie durch die Stadt wie Fetzen von buntem Papier. Die Handkamera, die im Gefolge des Dänischen Dogmas in vielen Filmen zusammenhangslos um sich selbst kreist, macht hier Sinn: Hände fliegen, wenn Ameneh Gläser in Papier einpackt, schmale Rücken wie der von Ajub senken sich atemlos unter der Bürde des Schmuggelguts, das auf dem Markt vertickt wird. Jede Bewegung hastet der nächsten Verrenkung hinterher, die das Überleben sichert. "Schneller" ist alles, was die Erwachsenen den Kindern zu sagen haben, die sie ausbeuten. Nur wenige Minuten sind vergangen, und doch hat man eine Kindheit vor Augen, die verfliegt wie Asche und von Drangsal genährt wird wie die kümmerlichen Feuer der Bergbewohner von den letzten Bäumen einer geplünderten Region. Dem Wettlauf mit dem Leben setzt der erste iranische Regisseur kurdischer Herkunft, der es gewagt hat, einen Film auf Kurdisch zu drehen, die Unverrückbarkeit der Berge entgegen. Eine uralter Gleichmut liegt über den Naturbildern, die das Getriebensein der Kinder (und der Erzählung) von Schicksalsschlag zu Schicksalsschlag immer wieder auffängt und in Passagen eines stillen Widerstands übergehen lässt. Doch der eigentliche Ruhepol ist Madi, ein kleines gelbes Leuchtfeuer im Schnee, das den Geschwistern den Weg weist. Zu dem Vielgeliebten eilen sie, um ihm Tabletten und Küsse zu geben, gleichviel ob die Arbeit oder der Schmerz sie zerreißt. Als der Vater während einer Schmuggeltour in den Irak durch eine Mine getötet wird, kennt ihr Opfermut keine Grenzen. Nur eine Operation könne Madis Leben verlängern, und auch das nur für kurze Zeit, lässt ein Arzt sie wissen - nicht aber, wie sie das bezahlen sollen. Ein Onkel, der selbst acht Kinder hat, nutzt die Gelegenheit, um die 15jährige Rojin kostengünstig in den Irak zu verheiraten. Es heißt, sagt die verkaufte Braut zu dem aufgebrachten Ajub, der die Schule verlassen muß, um wie ein Erwachsener zu schuften, aber keine Rechte hat, die irakische Familie wolle Madis Operation bezahlen.

Kinder sind die Seismographen des iranischen Films, bis heute nehmen sie wahr, was eine Gesellschaft erschüttert, die nicht nur wie in Abbas Kiarostamis Trilogie über ein Erdbebengebiet die Ausmaße ihrer Naturkatastrophen verschweigen muß. Aber gemessen an den "Kinderfilmen" der letzten Jahre, etwa Mohsen Makhmalbafs hoch stilisierten Film "Die Stille" oder dem Mysterium "blinden" Gottvertrauens aus Majidis Film "Die Farben des Paradieses", zeugt Bahman Ghobadis Film von einer grenzenlosen Verrohung. Nur die Kinder stehen noch füreinander ein, die Existenz der Erwachsenen wird von wölfischer Notwendigkeit bestimmt. Rojins künftige Schwiegermutter will nichts davon wissen, für einen Krüppel Krankenhausrechnungen zu bezahlen. Aus ihren Fängen lässt sie die Braut, die mit Madi zurückkehren will, auch nicht. Immerhin ist Rojin dem irakischen Hochzeiter einen Maulesel wert. Wie das Mädchen jenseits der Grenze in der feiernden Menge verschwindet, wie ihr Leib untergeht in der Masse der Frauen, die vor ihr zehn Kinder geboren haben, das sagt viel über den Ursprung der Gewalt in Ghobadis kalter Heimat. Kinder, die Kinder gebären, haben nichts zu verschenken. Im Irak will Ajub den Maulesel verkaufen und Madi auf eigene Kosten operieren lassen. Die Schmuggelkarawane, der er sich anschließt, lässt ihn unter Beschuss in Schnee und Eis im Stich. In dem Hinterhalt könnte Freund wie Feind lauern, wer weiß das schon, wenn die Front der Nachkriegsgrausamkeit durch die eigene Familie läuft. Dies ist die Zeit der trunkenen Pferde, die eigentlich Maulesel sind, und hoch beladen mit Traktorreifen wie prähistorische Gürteltiere aussehen. Aus dem Gleichgewicht gebracht, kommen die Tiere nicht allein auf die Beine, zu giftig schwappt der Alkohol durch ihr Blut, den man ihnen als Frostschutzmittel einflößt. Was kann werden aus einem Jungen, einem Krüppel und einem misshandelten Tier, die vor einer Wand aus Stacheldraht und einem Land voller Landminen stehen? Ghobadis Film kennt kein falsches Mitleid, nur unverrückbare Einsichten, furchtbar und schön zugleich.

Mohsen Makhmalbaf: Kandahar / Samira Makhmalbaf: Schwarze Tafeln

Im Januar 2001 fuhr der iranische Regisseur Mohsen Makhmalbaf auf Recherche heimlich nach Afghanistan. Schon einmal war es ihm gelungen, auf afghanischem Boden zu drehen, zumindest einige Szenen im Grenzgebiet zum Iran, die 1988 in seinen Film "Der Radfahrer" einfließen sollten. Die Geschichte des afghanischen Radrennsportlers im iranischen Exil zeugte von Makhmalbafs unbestechlichem Blick für die wölfischen Seiten seiner Heimat. Sieben Tage und Nächte muß der Radfahrer im Dienst eines skrupellosen Buchmachers im Kreis fahren. Die Wette wird er gewinnen, sein Leben ist verspielt worden. Vom Wahnsinn getrieben, kann der Radfahrer aus dem Teufelskreis von Erschöpfung und Demütigung nicht mehr ausbrechen.

Als Mohsen Makhmalbaf im Januar 2001 für seinen Film "Kandahar" um eine Drehgenehmigung bat, sollte "Der Radfahrer" noch einmal eine Rolle spielen. Doch der Hinweis auf die humanistische Grundlage dieses früh um Afghanistan bemühten Films beschwichtigte die Taliban nicht. Auch in Pakistans Botschaft interessierte sich niemand für Makhmalbafs aufklärerische Absichten. Stattdessen ließ man sich über den internationalen Erfolg seiner Tochter Samira aus. Siebzehnjährig war Samira Makhmalbaf 1997 mit einem Film berühmt geworden, in dem eine iranische Sozialarbeiterin zwei analphabetische Mädchen aus dem häuslichen Gefängnis ihres fanatisch gläubigen Vaters befreit. Bei 2,5 Millionen afghanischen Flüchtlingen im Iran, belehrten Pakistans inoffizielle Taliban-Botschafter den Vater einer als unstatthaft rebellisch eingestuften Tochter, könne er doch genauso gut zu Hause arbeiten. Nicht nur der Radfahrer dreht sich im Kreis, auch die Geschichte.

"Kandahar" spielt zu Zeiten eines noch unangefochten fundamentalistischen Terrorregimes. Ist der Film, der lang vor dem 11. September auf die Lage der Frauen, der Verhungernden und Rechtlosen in Afghanistan hätte aufmerksam machen können, wenn er sofort einen Verleih gefunden hätte, nun zu spät gekommen ? Paradoxerweise erzählt die semidokumentarische Reise nach Kandahar von einer tragischen Verzögerung. Durch viele Hände ist der Brief gegangen, den die Afghanin Nafas im kanadischen Exil von ihrer Schwester aus Kandahar erhält. Der Brief ist die Chronik eines angekündigten Todes. Die jüngere Schwester berichtet vom Arbeits- und Schulverbot für Frauen und Mädchen, von einem Leben, das ihr zu Lebzeiten genommen worden ist. Mit der letzten Sonnenfinsternis des Zwanzigsten Jahrhunderts, schließt die Schwester die Abschiedszeilen, werde sie sich umbringen. Der Tunnelblick der Unglücklichen bestimmt das erste, fast gänzlich schwarze Bild eines Films, der bei aller Trostlosigkeit nichts von der poetischen Gegenmacht des Makhmalbafschen Werks vermissen lässt. Fast scheint es, als säße die Kamera in einem der Brunnen fest, die in vielen iranischen Filmen ausgehoben werden, Symbole einer tiefreichenden Isolierung. Dann erkennt man die Sonnenfinsternis.

Das Verschwinden des Lichts ist der prophetische Ausgangspunkt dieser Reise nach Kandahar.

Nichts sehen zu können wird zur zentralen Metapher eines Films, der von der Bilderlosigkeit eines ganzen Landes erzählt. Kino und Fernsehen, Malerei und Photographie haben die Taliban verboten. Afghanische Frauen haben kein Gesicht, keinen Namen. "Schwarzes Haar", das wird der Ruf sein, dem auch Nafas auf ihrer Reise in die Wüste der Beziehungs- und Blicklosigkeit folgen muss. Ihr eigener Name ist ein Fanal - Nafas bedeutet Atmung. Bis an die pakistanische Grenze gelangt die couragierte Journalistin unverhüllt, die Hand mit dem Aufnahmegerät zum Mund erhoben, bald nüchtern beschreibend, bald beschwörend. 1001 Gründe zum Leben will Nafas für die Schwester so festhalten, das Instrument der Zeugenschaft umwandelnd zum Fahrtenschreiber der Phantasie, aber auch zur Black Box der eigenen Ängste. So wenig, wie Nafas sich ohne männliche Begleitung auf den Weg zur Schwester machen kann, so wenig entgeht sie der Burka. Der Moment, in dem ihr Antlitz hinter dem tragbaren Frauengefängnis verschwindet, widersetzt sich der tödlichen Bilderlosigkeit mit den Mitteln eines Nasreddin Hodscha, des muslimischen Till Eulenspiegels. Nafas mag unter der erstickenden Hülle ihre Unverwechselbarkeit einbüßen. Aber die selbsternannten Sittenwächter, die ihre kollektiven Vergewaltigungsphantasien nicht bemänteln können, sie sind es, die in dieser Szene ihr Gesicht verlieren. Makhmalbafs Film mag der Historie hinterherhinken, weil es ein finanzielles Risiko ist, einen iranischen Film ins Kino zu bringen. Doch seine Bilder von der Aussperrung des fremden, des kritischen Blicks sind der wortreichen Fassungslosigkeit des Westens noch immer weit voraus.

Der afghanische Patient, das ist bei Makhmalbaf das verwüstete Land, das er auf dem Totenbett filmt. Aber da sind auch die Zeichen eines aberwitzigen Lebensmutes. Wenn die UNO in "Kandahar" Fallschirme mit Beinprothesen abwirft, setzen die Minenopfer zu einem grotesken Wetthinken an. Lange schweben die nackten, schön geformten Frauenbeine am Himmel, surreale Wiedergutmachungen für amputierte Glieder und Seelen. Der verteufelte Unterleib kehrt als Schmuggelware, als westliche Hilfskonstruktion ins Land zurück. Jenseits der Metapher warten viele auf die Gehhilfe. Kandahar macht auf bewundernswerte Weise deutlich, dass die symbolische Dimension und die grausame Realität in einem von der Welt abgeschnittenem Land aus demselben Holz geschnitzt sind.

Diese Erkenntnis ist mit Samira Makhmalbafs zweitem Film "Schwarze Tafeln" in der Familie verblieben. Mohsen Makhmalbaf hat für seine Tochter an der Grenze zwischen dem Irak und dem Iran eine Geschichte aufgetan, die von seinem unnachahmlichen Gespür für die Ausgrenzung der Allerärmsten spricht. Verfilmt hat Samira Makhmalbaf die Erzählung von der Not des im Irak verfolgten, im Iran kaum geduldeten kurdischen Volkes mit einem ererbten Sinn fürs Absurde und einer ganz eigenen Ernsthaftigkeit. Schwarze Wandtafeln transportieren die iranischen Lehrer auf ihrem Rücken, während sie potentiellen Schülern nachlaufen: Ein jeder ein Engel mit schwarzen Flügeln, gebunden an eine sinnlos gewordene Verkündigung. Im iranischen Teil Kurdistans sind die Dörfer wenig mehr als künftige Gräber, auf irakischer Seite ist der kurdische Besitz dem Erdboden gleichgemacht. Der irakisch-iranische Krieg ist vorbei, doch die kurdischen Kinder tragen noch immer die Last des Konflikts. Vorzeitig gealtert schleppen sie Schmuggelware über die Grenze, schlecht bezahlte Beine, zu müde, um an den klugen Kopf zu glauben, der ihnen aus der Misere heraushelfen könnte. Der idealistische Lehrer Reboir bemüht sich vergebens, sie für das geschriebene Wort begeistern. Wo das Überleben vom Diktat der Steine abhängt, wird seine Wandtafel zur Schiene für das gebrochene Bein eines kleinen Trägers. Sein Kollege Said schließt sich einem Trupp alter Männer an, die zum Sterben in den Irak heimkehren. Die junge Frau, die die Lahmen und Kranken begleitet, hat es ihm angetan. Doch die unterwegs geschlossene Ehe mit der stoischen Halaleh, die nur spricht, um ihr Kind oder ihren Vater zu schelten, wird bald geschieden und kostet Said seine Tafel. "Ich liebe Dich", hat er darauf geschrieben, aber Halaleh will Saids romantische Anwandlung nicht nachbuchstabieren. Das Leben hat sie anderes gelehrt. Am Ende wandert die schwarze Tafel auf ihrem Rücken in den Irak ein. Wie die Bilderlosigkeit in "Kandahar" zieht die Schriftlosigkeit in "Schwarze Tafeln" Ausbeutung und Unverständnis nach sich. Die Botschaft der Liebe bleibt unzugänglich, dennoch ist sie ein subtiles Schmuggelgut. Jemand wird sie lesen, jemand wird die Bilder einer bekriegten Kultur sehen wollen, die Mohsen und Samira Makmalbaf für die Welt bereithalten


Die einzelnen Filmvorstellungen sind zuvor in der ZEIT bzw in der FRANKFURTER RUNDSCHAU erschienen.
© Heike Kühn 2002
Magazin für Theologie und Ästhetik 15/2002
https://www.theomag.de/15/hk3.htm