Resonanzen und Konsequenzen

Der Expertenbericht zum Antisemitismus auf der documenta fifteen

Andreas Mertin

Anfang Februar 2023 stellte die von den Trägern der documenta beauftragte Expertenkommission zum Thema „Antisemitismus auf der documenta fifteen“ das Ergebnis ihrer Untersuchung vor.[1] Und man kann sagen, die Expert:innen haben sich viel Mühe gemacht und sind auf 130 Seiten sorgfältig abwägend unter allen möglichen Gesichtspunkten die kritischen Fragen angegangen. Das ist ausdrücklich zu loben. So problematisch ich es finde, wenn man nicht auf die Selbstkorrekturkräfte der Kunst setzt (setzen kann?), so skrupulös erscheint mir doch die Herangehensweise des Gremiums – auch wenn ich nicht alle ihre Schlussfolgerungen teile.

Maximilian Steinbeis hat im Verfassungsblog kritisch nachgefragt, wer denn hier eigentlich was sagt.[2] Offenkundig urteilen hier weder der Staat, noch die Wissenschaft oder die Kultur und schon gar nicht die für die Kunst Verantwortlichen der documenta fifteen. Vielmehr haben die Auftraggeber der documenta ein externes Expertengremium gebeten, für ihre eigene Weiterarbeit ein Gutachten zu erstellen. Ob das mehr abliefern kann als nur die Privatmeinung der beteiligten Gutachter kann man tatsächlich fragen. Inwiefern repräsentieren Vertreter:innen von Kulturinstitutionen eigentlich den Kunstbereich, inwieweit können Friedensforscher:innen über das Grundrecht der Kunstfreiheit Urteile abgeben? Das ist – so viel zeichnet sich schon jetzt ab – auch nach dem Gutachten weiterhin fraglich.

Dennoch ist dieses Expertengutachten eine wichtige Lektüre auch für die, die z.B. in der Kirche Kunst ausstellen. Denn die grundsätzlichen Fragen, die sich hier stellen, tauchen ja auch bei den kirchlichen Ausstellungen auf. Mir wurde erst bei der Lektüre des Expertengutachtens klar, wie oft man auch bei der Arbeit für die Kirche auf grundsätzliche Fragen, ja sogar Grundrechtsfragen gestoßen ist. Wer garantiert die Kunstfreiheit in der Kirche, welche Aufgaben hat der Veranstalter und welche der Kurator? Nun wird das konkrete Thema „Antisemitismus“ bei kirchlichen Ausstellungen seltener auftauchen (auch wann das durchaus vorkommt), aber Fragen der Verletzung religiöser Gefühle wohl schon eher. Vieles läuft in der Kirche, aber auch im Kulturbetrieb eher informell, dennoch ist es sinnvoll, sich einmal mit den verschiedenen Rechten und Interessen auseinanderzusetzen. Dazu leistet das Expertengutachten einen Beitrag.

Executive Summary des Gutachtens

Auf der Ebene der Werke besteht ein Konsens im Gremium, dass vier Werke der documenta fifteen auf antisemitische visuelle Codes verweisen oder Aussagen transportieren, die als antisemitisch interpretiert werden können beziehungsweise interpretiert werden müssen … Eine Interpretation als antisemitisch erscheint jedoch allen Mitgliedern in diesen Fällen ebenfalls gut begründbar.[5] 

Einleitung (Kapitel 1)

Dem Einleitungskapitel konnte ich entnehmen, was mir bis dahin nicht bekannt war, weil ich in den letzten Tagen im September nicht mehr auf der documenta fifteen war, dass nämlich zum Ende hin offene Sympathiebekundungen für die Organisation BDS auftauchten: eine Plakatreihe mit dem Titel  „BDS: Being in Documenta is a Struggle“. Das ist schon ein Skandal, weil die Documenta so zum einseitigen politischen Bekenntnis wird. Inwiefern das durch die vorherigen Proteste provoziert wurde, könnte man fragen, rechtfertigt die Aktion aber nicht. Faktisch bekommen so all jene Recht, die schon im Vorfeld etwas Derartiges unterstellt hatten und es werden jene beschädigt, die über lange Zeit für die Documenta eingetreten sind.

Methodische Grundlagen (Kapitel 2)

Nach der Einleitung liefert das zweite Kapitel des Gutachtens die methodischen Grundlagen der Experten. Hier geht es vor allem um die Frage, was historisch und aktuell als Antisemitismus einzuschätzen ist. Das ist notwendigerweise etwas grob, aber hilft beim Verstehen der Urteilsgrundlagen der Gruppe. Es erfolgt dann der Übergang vom traditionellen Antisemitismus zum „israelbezogenen Antisemitismus“. Er erfolge oft als „Kommunikation über Bande“, indem Stereotype des alten Antisemitismus im Kontext des Nahostkonflikts reaktiviert werden. Grundsätzlich zeige sich dabei, dass dieser Konflikt „zu einem manichäischen Ringen zwischen den Kräften des Guten und des Bösen, unschuldigen Opfern und blutrünstigen Tätern stilisiert“ werde. In der Frage, an welcher der Arbeitsdefinitionen zum Antisemitismus (IHRA oder JDA) sich das Gremium orientiert, hält man sich an eine Minimaldefinition, die von beiden Definitionen gedeckt ist.

Es geht um 1.) tradierte Feindbilder, 2.) Jüdinnen und Juden als Repräsentanten Israels, 3.) Täter-Opfer-Umkehr und schließlich 4.) die Delegitimierung Israels. Insbesondere letzteres ist zwischen den beiden Arbeitsdefinitionen kontrovers, ist aber im Blick auf die Documenta Fifteen ein zentraler Gesichtspunkt. Denn nur wenige der kritisierten Werke sind im traditionellen Sinn mit antisemitischen Chiffren verbunden (vor allem das große Bild von Taring Padi), die Mehrzahl arbeitet im Bereich des israelbezogenen Antisemitismus. Gerade deshalb ist hier eine sorgsame Analyse notwendig, die nach überprüfbaren Kriterien arbeitet. Und in dieser Hinsicht arbeitet das Expertengremium nach meiner Einschätzung vorbildlich.

Analyse ausgewählter Kunstwerke (Kapitel 3)

Das dritte Kapitel dient der Untersuchung der inkriminierten Kunstwerke. Ich hätte es für sinnvoll gefunden, wenn das Expertengremium nicht nur die problematischen Werke auf dieser documenta thematisiert hätte, sondern wenigsten beiläufig auch auf die gelungenen Werke aus palästinensischer Hand eingegangen wäre. Denn so hätte gezeigt werden können, dass es andere Möglichkeiten gibt, in Israel und der Westbank mit Kunst zu arbeiten, Möglichkeiten, die die eigene Haltung nicht preisgeben und dennoch konstruktiv sind. Aber das Gremium hat sich – was ja auch seine Aufgabe war – auf die kritischen Fälle beschränkt.

Positiv überrascht war ich, wie intensiv sich das Gremium auch mit den Argumenten auseinandergesetzt hat, die in diesem Magazin veröffentlicht wurden, ja dass es sich explizit darauf bezieht und es zitiert.[3] Es referiert meine zentralen Einwände, gibt aber zu bedenken, dass in einer gewandelten und säkularisierten Welt die von mir inkriminierten Motive auch eine andere Bedeutung bekommen haben könnten. Das muss ich zugestehen, das könnte sein, nur glaube ich es nicht. Dazu gleich mehr. Aber letztlich hat mich der verfassungsrechtliche Aspekt in dieser Analyse überzeugt. Dass nämlich, wenn verschiedene Deutungen eines Kunstwerks möglich sind, die meinungsfreiheits-liberalste und kunstfreiheits-liberalste in Anschlag zu bringen ist. Dem stimme ich ausdrücklich zu. Meine Aufgabe, meine Sorge in dem in dieser Zeitschrift veröffentlichten Text[4] war auch eher die Frage, ob es überhaupt Anhaltspunkte für eine Lesart der Kunstwerke gibt, die diese als antisemitisch dechiffrieren. Das meine ich zeigen zu können und das bejaht ja auch das Expertengremium. Aufgabe der Expertenkommission aber war es, zu überprüfen, ob es nicht auch andere Lesarten gibt, die zugunsten der Kunstwerke vorgebracht werden können. Und die gibt es und deshalb muss an dieser Stelle die Kunstfreiheit gewahrt werden. Beides ist aber notwendig: die Herausarbeitung der antisemitischen bzw. antizionistischen bzw. antiisraelischen Codes und deren freiheitsliberale Auslegung.

Nur an einer Stelle würde ich dabei doch einen Einwand erheben: Das Expertengremium argumentiert, dass durchschnittliche (deutsche?) Betrachter:innen gar nicht verstehen, was bei Al Hawajri als selbstverständlich vorausgesetzt werde, nämlich der Bezug auf den Fliegerangriff von 1937:

Wahrscheinlich sind sich die meisten Betrachter*innen, die heutzutage Reproduktionen dieses Gemäldes sehen, der historischen Umstände, auf die es sich bezieht – des Nazi-Angriffs auf die baskische Zivilbevölkerung –, gar nicht mehr bewusst. [54]

Das ist aber schlicht eine These, die auch belegt werden müsste. Und sie ist unscharf, weil es ja gerade nicht um die Abbildung von Guernica geht (diese Photoshop-Bearbeitung wurde in Kassel gar nicht gezeigt), sondern um die Wortkombination „Guernica-Gaza“.

Letztlich würde man aber auch die intentio auctoris für sekundär erklären. Denn der Künstler hat sich in einer expliziten(!) Auskunft zu seinem Werk geäußert und die Titelwahl präzise begründet. Und zumindest die palästinensischen Rezeptionen, soweit sie sich im Internet eruieren lassen, sprechen ebenfalls dafür, dass der unmittelbare Bezug auf den deutschen Angriff auf Guernica evident ist. [Dort wird eine Analogie von deutschen Flugzeugen und Flugzeugen der IDF hergestellt.] Das macht es unwahrscheinlich, dass es hier der Bezug auf Picassos Guernica im Vordergrund steht. In seinem Ausstellungskatalog zum Bilderzyklus aus dem Jahr 2012/13 schreibt der Künstler explizit:

„I have chosen this title (scil. Guernica-Gaza) because of the similarities between the war in Gaza in 2008/2009 and the German aggression against Spain in 1937, during which the village of Guernica was destroyed.”[5]

Das ist eindeutig und da ist wenig Interpretationsspielraum. Das ist die Ursprungsintention. Man könnte nun empirisch argumentieren, dass die Betrachter:innen das nicht realisieren, das müsste aber anders als spekulativ entschieden werden. [Sonst würde das Gleiche auch für das große Banner von Taring Padi gelten.] Meines Erachtens zählt hier vorrangig die intentio auctoris. Diese ergänzt der Künstler dann in seinem Katalog folgendermaßen:

“Guernica is one of the most famous works of Picasso that has had a great impact on people who saw the painting in Europe and elsewhere. It is a witness of war and destruction and of the suffering of this village and its inhabitants.”[6]

Die Formulierung „this village and its inhabitants“ schließt es aus, dass sich der Künstler nur auf das Kunstwerk Guernica als allgemeines Symbol und nicht auf Guernica selbst oder als künstlerische Auseinandersetzung mit dem historischen Ereignis bezogen hat.

Darüber hinaus lässt sich zeigen, dass es schon lange vor dem Werkzyklus des Künstlers eine Tradition der Verknüpfung von Guernica und Gaza gibt, die sich explizit auf das historische Ereignis bezieht. In der palästinensischen Rezeption wird immer wieder auf die angebliche Analogie beider historischer Gegebenheiten verwiesen.

Noch eine Randbemerkung: Immer wieder stößt man auf die Behauptung, die sich auch im Expertengutachten findet, wonach Marc Chagall der einzige jüdische Künstler gewesen sei, der auf der ersten Documenta 1955 ausgestellt worden sei. Ich weiß nicht, woraus sich diese Erkenntnis speist, irgendwer muss sie mal in die Welt gesetzt haben. Sie ist aber nachweislich falsch. Wir wissen natürlich über die religiöse Bindung von documenta-Künstler:innen wenig (sie wird ja auch im documenta-Archiv nicht ausgewiesen), aber zumindest Amedeo Modigliani hat ebenfalls an der ersten (und der dritten) Documenta teilgenommen. Und Modigliani ist unbestreitbar ein jüdischer Künstler, der das auch gegenüber seiner Umwelt aktiv bekundet hat. Wenn das die beiden einzigen jüdischen Künstler der documenta I sind, beträgt der prozentuale Anteil jüdischer Künstler bei der ersten Documenta bei insgesamt 148 Teilnehmer:innen demnach 1,36%. Aber was schließt man daraus? Prozentual sind es mehr Künstler als der Anteil jüdischer Bürger:innen auf der ganzen Welt, aber angesichts der Shoah sowie im Blick auf die gesamte Geschichte der Documenta ist es natürlich eine geringe Quote.

Auf der Documenta 1992 waren mindestens 4% (8 von 189) und 2002 sogar 5% (6 von 118) jüdische Künstler:innen und damit erfreulich viele. Ich habe schon wiederholt gesagt, dass die documenta durchaus eine Erfolgsgeschichte jüdischer Kunst ist. Aber aus der konkreten Zahl jüdischer Künstler lässt sich kaum ein moralisches Argument basteln.[7] Letztlich schädigt es sogar die israelische Kunstszene, weil man dann davon ausgeht, diese würden nur aus kulturpolitischen Gründen an der documenta beteiligt und nicht aus Gründen der künstlerischen Qualität.

Zudem müsste man sonst, so wie es identitätspolitische Gruppen in den letzten Jahren ja auch getan haben, nach der statistisch angemessenen Repräsentanz diverser Gruppen, Ethnien und Nationen fragen. Letztlich läuft das auf die Vorstellung hinaus, die documenta sei ein Spiegel der Welt. Bereits 2002 wurde von Okwui Enwezor darauf verwiesen, dass diese regulative Idee eines katoptrischen Universums documenta mit der Wirklichkeit der Kunstausstellung wenig zu tun hat, weil in der langen Geschichte der documenta ganze Erdteile und ganz sicher auch viele Diverse unzureichend beteiligt wurden. Hier hatte der Spiegel documenta einen großen blinden Fleck. Aber letztlich ist dies eine falsche Vorstellung von der Aufgabe einer documenta, sie würde sonst zu einer kulturpolitisch dominierten Veranstaltung. Man kann sich vorstellen, wie dann Bedenkenträger aus der ganzen Welt vorab die Listen durchforsten, um zu kontrollieren, ob auch jede Gruppe der Welt angemessen beteiligt ist. Selbstverständlich dürfen bestimmte Gruppen nicht programmatisch ausgeschlossen werden, aber bestimmte Gruppen programmatisch einbeziehen zu müssen, macht wenig Sinn. Man stelle sich vor, demnächst sitzen die Religionen der Welt zusammen und kontrollieren die Repräsentanz ihrer Religion auf der documenta. Es wäre ein Hohn auf die gesamte Kunstgeschichte seit 1300, die ja auch eine Emanzipationsgeschichte von religiösen Vorgaben ist.

Die Betroffenheitsperspektive (Kapitel 4)

Sehr überzeugend und eindrücklich fand ich, wie das Gutachten auf die Betroffenheitsperspektive Bezug nahm. Das eine ist es ja, wie die ausgestellten Werke kunstwissenschaftlich oder juristisch zu werten sind, etwas völlig anderes ist es, wie sie a) auf jüdische Betrachter:innen wirken müssen und b) wie diese Betrachter:innen die konkrete Diskussion um dieses Thema in Deutschland empfinden müssen. Der Bezug auf die Betroffenen ist deshalb wichtig, weil wir hier ja einen Grundrechtskonflikt vor uns haben, elementare Rechte von Menschen geraten mitein­ander in Konflikt. Und da hilft es natürlich, wenn man das rational abwägt, aber wichtig ist auch, sich zu vergegenwärtigen, wie verletzt ein Teil unserer Bevölkerung durch die Handlungen der Documenta-Kurator:innen sind. Hier ist wirklich ein Schaden entstanden, wurde der Frieden unserer Gesellschaft empfindlich gestört. Als ich selbst meine Analyse der documenta-Kunstwerke im Kasseler Sara-Nussbaum-Zentrum für jüdisches Leben vorgetragen habe und mit den dort Anwesenden diskutierte, war ich außerordentlich überrascht, wie offen die jüdische Gemeinde auch nach 60 Tagen documenta gegenüber den Künstler:innen, aber auch dem Kuratorenteam eingestellt war. Ob ich persönlich in einem vergleichbaren Fall diese Offenheit gehabt hätte? Ich befürchte eher nicht.

In Kassel war eine Neugier und ein offenes Interesse daran zu spüren, was die Künstler:innen umtreibt und wie sich das rhizomatische Prinzip dieser Documenta verstehen lässt. Umso enttäuschter müssen die jüdische Gemeinde Kassel und auch die anderen Juden in Deutschland gewesen sein, als das Kuratorenteam der d15 so rüde, verletzend und israelkritisch in den letzten Tagen agierte. Es war, als wäre eine Maske gefallen und mit dem Rücken zur Wand zeige man sein wahres Gesicht. Ich hoffe, ich irre mich, aber das war verstörend.

Hier ist etwas zerbrochen, ein Vertrauensvorschuss gegenüber der Institution documenta, den ich bei aller berechtigten Sorge Anfang August noch verspürt habe, und der dann brutal seitens des Kuratorenteams und der künstlerischen Beratung zerstört wurde. Man sollte – auch aus der zeitlichen Distanz – noch einmal das Statement des Sara-Nussbaum-Zentrums dazu lesen. Und diese Erschütterung spürt man auch im Expertengutachten. Selbst wenn man die Kunstfreiheit gegen alle Infragestellungen stark machen will, muss man eben doch sehen, was das für Schmerzen auslösen kann. Und gerade Künstler:innen mit ihrem gesteigerten aisthetischen und ästhetischen Vermögen sollten das wahrnehmen und nachvollziehen können. Hito Steyerl hat ja eindrucksvoll gezeigt, dass das möglich ist.

Das kuratorische Konzept der documenta fifteen (Kapitel 5)

Die Auseinandersetzung mit dem kuratorischen Konzept der documenta fifteen überrascht zunächst durch ihren wohlwollenden Ton. Das, was man in der Debatte im letzten Jahr vermisst hat, ist hier zu finden: die Würdigung herausragender Kunstwerke, die Einordnung in die weltweite Veränderung des Kunstgeschehens und der kuratorischen Praxis usw. Wenn wir immer auf diesem Niveau diskutiert hätten, wäre vielleicht manches anders verlaufen. Aber einige Initiativen und Medien wollten ja unbedingt den krawallartigen Konflikt. Man wird jedenfalls dem Expertengremium nicht vorhalten können, sich nicht auf die documenta fifteen eingelassen zu haben. Ganz im Gegenteil, es dokumentiert die Bereitschaft, von der documenta zu lernen. Das ist um Welten von den polemischen Spitzen a la Antisemita entfernt, ein peinlicher Ausrutscher in der deutschen Presselandschaft.[8]

In der konkreten Beschäftigung mit dem Konzept der Kuratoren wird dann aber auch deutlich, dass ein rhizomatisch wucherndes Organisationsprinzip der künstlerischen Leitung diese nicht von ihrer Verantwortung entbindet. Auch wer Verantwortung delegiert, bleibt gegenüber den Auftraggeber:innen verantwortlich. Abgesehen davon, dass in Verantwortungsfragen das neoliberale Subunternehmer-Prinzip grundsätzlich eher peinlich ist. Selbstverständlich kann man Verantwortung delegieren, keine documenta funktioniert ohne diese Teilung von Verantwortlichkeiten. Aber das heißt nicht, dass man nicht dennoch für das Gesamte verantwortlich ist. Das Adam-und-Eva-Prinzip (Nicht ich, sondern die Frau …, nicht ich, sondern die Schlange …) kann hier nicht funktionieren. Man würde den Sinn des Kuratierens auch völlig zerstören, wenn man es derartig aushöhlt.

Gleichzeitig hat das kuratorische Konzept weitere implizite Schwächen, wie das Gutachten zu Recht hervorhebt:

Dieser Trend zur Dezentrierung und Horizontalisierung, der sich auch in ruangrupas Konzept wiederfindet, hat aber eine Reihe von problematischen Implikationen zumindest in der von ruangrupa vertretenen Variante. Denn die Dezentrierung und die Idee von Gemeinschaft kommen nicht ohne eine scharfe Abgrenzung gegenüber einem Anderen und einer generellen Ablehnung des Institutionellen aus …
Vor diesem Hintergrund ist der von ruangrupa zentral gesetzte Begriff des „Gewinnens von Freunden“ („Make friends not art“) gewiss so zu lesen: Teilst Du unsere Werte, so bist Du unser Freund. [93]

Diese Haltung wurde dann vor allem in den letzten Tagen problematisch, als die Werte mancher Künstler:innen eben nicht mehr von allen geteilt werden konnten, weil sie die Konfrontation mit den Kritiker:innen suchten: „BDS: Being in Documenta is a Struggle“.

Rechtliche Rahmenbedingungen (Kapitel 6)

An der Formulierung des Expertengutachtens war mit Christoph Möllers auch ein renommierter Verfassungsrechtler beteiligt, der auch schon das Rechtsgutachten im Auftrag der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien zum Verhältnis von Staat und Kunstfreiheit erstellt hatte.[9] Bei der Lektüre des Gutachtens für die Regierung war schon auffällig, wie wenig eigentlich in diesen Fragen dezidiert juristisch geklärt ist, und auf geradezu informellem Prozedere basiert, andererseits wie bedeutsam die Rahmensetzungen des Grundgesetzes in Sachen Kunst- und Meinungsfreiheit sind. Und in dieser Frage ist zumindest auch das jetzige Expertengutachten klar und eindeutig. Der wichtigste Satz des Kapitels steht gleich am Beginn:

Die in der documenta fifteen aufgetretenen Probleme lassen sich
im Wesentlichen nicht mit Mitteln des Rechts lösen.

Es ist ein Merksatz für alle, die an dieser Debatte beteiligt sind. Die Rufe nach dem starken Staat, nach Eingriffen und Verboten scheitern schlicht an den juristischen Gegebenheiten: dem Grundgesetz. Das beschreibt die zentrale Herausforderung. Es lassen sich zwar rechtliche Rahmenbedingungen untersuchen und formulieren, aber damit ist das zentrale Problem nicht gelöst.

[Die künstlerische Leitung der documenta] hat den Auftrag, nach ihren eigenen Vorstellungen eine Kunstausstellung zu organisieren. Damit ist Handeln auch im Rahmen dieses staatlichen Auftrags von der Kunstfreiheit geschützt. Obwohl dieses Ergebnis grundrechtsdogmatisch eines gewissen Begründungsaufwands bedarf, ist es im Ergebnis doch unbestritten … Soweit sich die künstlerische Leitung auf die Kunstfreiheit berufen kann, ist sie vor staatlichen Zugriffen weitgehend geschützt, also auch vor Entscheidungen der documenta gGmbH. [110]

Dagegen arbeitet die Geschäftsführung, und das ist dann der Ansatzpunkt dieses Gutachtens, nicht künstlerisch. Auch die lautstark agierende Findungskommission, und das finde ich bemerkenswert, übt keine künstlerische Tätigkeit aus, sie ist nur beratend und vermittelnd tätig und damit nicht von der Kunstfreiheit gedeckt.

Im Konfliktfalle, hier also im Fall potentiell als antisemitisch zu deutender Kunstwerke gilt nun eine besondere Regel:

So hat das Bundesverfassungsgericht festgehalten, dass im Fall mehrdeutiger Äußerungen, jedenfalls wenn gegen diese präventiv vorgegangen werden soll, darauf zu achten ist, ob es auch andere Möglichkeiten gibt, eine inkriminierte Äußerung zu deuten, so dass diese rechtlichen Einschränkungen entgehen kann. Bei der Deutung einer Äußerung sind alle plausiblen Bedeutungsalternativen zu prüfen. Mit Blick auf die Kunstfreiheit hat das Gericht eine „kunstspezifische“ Deutung inkriminierter Werke verlangt. [112]

Auch das ist selten in der medialen Diskussion berücksichtigt worden.

Kontroverse Reaktionen hat dagegen die folgende These des Gutachtens hervorgerufen:

Die politische Entscheidung der aktuellen Bundesregierung wie auch ihrer Vorläuferinnen zugunsten einer besonderen Beziehung zum Staat Israel aus historischer Verantwortung stellt keine autoritäre Staatsräson dar, sondern ist das Ergebnis einer demokratisch legitimierten Entscheidung, die für andere staatliche Entscheidungen zumindest als Orientierung in Betracht zu ziehen ist. [113]

Das kann aber nicht bedeuten, dass auf Grund dessen Grundrechte eingeschränkt werden. Es betont nur die Selbstverpflichtung des Staates, hier Stellung zu beziehen. Dagegen hat Maximilian Steinbeis auf dem Verfassungsblog eingewandt, dass hier der Staat vom neutralen Staat zum meinenden Staat werde und dies als problematisch eingeschätzt.[10]

Am Schärfsten ist die Kritik des Gutachtens an der Geschäftsführung. Und das meines Erachtens vollkommen zu Recht und zwar nicht erst im Blick auf diese Documenta. Immer schon haben sich die Geschäftsführer:innen vor allem als Anwälte der Kurator:innen verstanden – bis in den Habitus hinein, wie ich mich aus eigenen Begegnungen erinnere. Als Vertreter:innen des Gemeinwohls sind sie selten aufgetreten, sie haben sich schlicht nicht so verstanden. Auch die Konflikte, die es zwischen der Documenta und den Kirchen gegeben hat, wären in diesem Sinn noch einmal neu zu beleuchten. Die Geschäftsführer:innen haben hier einseitig die Interessen der künstlerischen Leitung vertreten und keinesfalls im Sinne des Gemeinwohls agiert.

Als sehr gut und deutlich finde ich die Abgrenzungen, die das Gutachten in diesem Kapitel gegenüber allen Fantasien vornimmt, direkt in die Kunst einzugreifen. Das muss noch stärker in das öffentliche Bewusstsein – gerade auch der religiösen Vertreter, die Mitspracherechte fordern.

Dem Staat ist es nicht erlaubt, in einer umfassenden Vorab-Kontrolle den Kunstbetrieb auf unangemessene politische Präferenzen hin zu untersuchen … Einen allgemeinen Verdacht gegen die Kunstszene und eine damit verbundene umfassende Kontrolle bleibt dagegen ausgeschlossen. [119]

Konflikte werden sich aber so oder so auch künftig nicht vermeiden lassen, sie sind in der Konstruktion dieser Ausstellung vorgegeben, die letztlich das Recht der Kunstfreiheit wahren muss und gleichzeitig den Diskriminierungsgeboten der Verfassung folgen soll.

Während die private Seite frei sein soll, sich ganz auf den künstlerischen Erfolg der Ausstellung zu fokussieren, müssen Vertreter*innen der öffentlichen Hand ihr Handeln immer auch an nicht-künstlerischen Kriterien ausrichten, wie etwa Geboten der Wirtschaftlichkeit oder der Nichtdiskriminierung. Diese Konstellation zeichnet somit schon Zielkonflikte vor, die regelmäßig Reibungsverluste erzeugen. [121]

Künftig sollten diese Probleme aber vorab insofern besprochen werden, dass zwischen allen Beteiligten verabredet werden muss, wie man im Konfliktfall vorgeht. Das wäre noch kein Eingriff in die Kunst.

Konsequenzen (Kapitel 7)

Nicht so richtig zufriedengestellt haben mich die skizzierten Konsequenzen. Aber das liegt weniger an dem Expertengremium, als vielmehr an der konfliktträchtigen Situation. Hier hätte dem Gremium aber auch ein Mitglied aus dem Kreis der Künstler:innen gutgetan. Was mich beunruhigt ist der Gedanke, dass es künftig immer diese Schere im Kopf gibt, auf welche Kriterien man bei der Auswahl des Programms und der Künstler:innen Rücksicht nehmen muss. Wir haben 2022 und 2023 ja schon gesehen, was das für russische Künstler:innen bedeutet, wir wurden Zeuge, wie fast alle Kunst-Events mit Ansprachen von Wolodymyr Selenskyj eröffnet wurden, der das künstlerische Geschehen zu einem politischen Geschehen machte. In dieser Frage bin ich außerordentlich skeptisch.

Die im Gutachten vorgeschlagene Stärkung der Geschäftsführung gegenüber der Künstlerischen Leitung finde ich ebenso notwendig wie ambivalent. Sie macht nur Sinn, wenn der Geschäftsführung deutlich gemacht wird, dass sie die Vertreterin der Öffentlichkeit und nicht einseitig der künstlerischen Leitung sind. Das ist nun neu zu definieren. Die Vorschläge im Blick auf die Findungskommission finde ich einleuchtend, also ihre faktische Begrenzung auf die Findung.

Gegenüber dem internen Review-System bin ich außerordentlich skeptisch, zumal wenn es auf externe Beratungsgremien hinausläuft. Mit freier, autonomer Kunst hat das nichts mehr zu tun. Unterschwellig kommt so ein künstlerisches Kontrollsystem in die documenta. Und das rechtfertigt sich nicht aus den bisherigen Geschehnissen. Gestärkt werden muss eher der kontroverse Dialog, den viele Vertreter:innen des liberalen Judentums ja auch vorgeschlagen haben. Es muss eine Kultur der Diskussionen zu diesen Themen zwischen den verschiedenen Documenta-Ausstellungen geben, die sensibel auf Entwicklungen in der Kunst und der Gesellschaft reagiert. Wie aber auch das Gutachtens selbst hervorhebt, ist ein allgemeiner Verdacht gegen die Kunstszene und eine damit verbundene umfassende Kontrolle grundsätzlich nicht angesagt.

Anmerkungen

[1]    Expertengremium documenta fifteen (02.02.2023): Abschlussbericht Gremium zur fachwissenschaftlichen Begleitung der documenta fifteen. [Link PDF]

[2]    Vgl. dazu Steinbeis, Maximilian (2023): Der meinende Staat. In: Verfassungsblog.
https://verfassungsblog.de/der-meinende-staat/.

[3]    Mertin, Andreas (2022): ‚Woran erkennt man, dass das Kunstwerk antisemitisch ist?‘. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 24, H. 139. https://www.theomag.de/139/am766.htm.

[4]    Wie auch bei den Vorträgen im Sara Nussbaum Zentrum für jüdisches Leben und beim Deutschen Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit die auf Youtube abrufbar sind.

[5]    Hawajri, Mohammed al (Hg.) (2013): Guernica-Gaza. Ausstellungskatalog. Gaza. S. 3.

[6]    Ebd., S. 3

[7]    Vgl. dazu meine Überlegungen vor allem in These 3 in Mertin, Andreas (2022): Lehren aus der umstrittenen documenta fifteen. In: tà katoptrizómena, Jg. 24, H. 139. https://www.theomag.de/139/am765.htm.

[9]    Vgl. das Rechtsgutachten Möllers, Christoph: Grundrechtliche Grenzen und grundrechtliche Schutzgebote staatlicher Kulturförderung. Ein Rechtsgutachten im Auftrag der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. [Link PDF].

[10]   Steinbeis, Maximilian (2023): Der meinende Staat. In: Verfassungsblog.
https://verfassungsblog.de/der-meinende-staat/.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/142/am785.htm
© Andreas Mertin, 2023