Kunst und Religion in der Moderne

Thesen zum Verhältnis von ästhetischer und religiöser Erfahrung

Wilhelm Gräb (1948-2023)

1.

In der Diagnose der kulturellen Gegenwartslage bestätigt sich heute zunehmend die Vermutung, die Max Weber in seiner „Zwischenbetrachtung“ zur Wirtschaftsethik geäußert hat[1]: a) Die Kunst entfaltet sich unter den Bedingungen des okzidentalen Rationalismus zu einem „Kosmos immer bewusster erfasster selbständiger Eigenwerte“. b) „Sie übernimmt die Funktion einer, gleichviel wie gedeuteten, innerweltlichen Erlösung: vom Alltag und, vor allem, auch von dem zunehmenden Druck des theoretischen und praktischen Rationalismus. Mit diesem Anspruch aber tritt sie in direkte Konkurrenz zur Erlösungsreligion.“

Kunst gilt hier als die in die Immanenz verlagerte, sinnfällige Ausdrucksgestalt der alltagstranszendenten Sinndeutung individuellen Erlebens. Damit substituiert die Kunst die Religion. Sie tut es heute auch mittels der „Ikonen“ der Werbung und dem „Emotional-Design“ der Konsumkultur.[2] Die Phänomene sind jedoch vieldeutig. Was „Kunst“ ist und was „Religion“, lässt sich heute nicht mehr von den Phänomenen her beschreiben. Der Verweis auf die Phänomene provoziert immer die Gegenfrage: Ist das Kunst, ist das Religion? Was Kunst ist und was Religion, lässt sich nur sagen in der Analyse ästhetischer und religiöser Erfahrung.

Darzulegen ist, wie es in der ästhetischen und religiösen Erfahrung zum Aufbau dessen kommt, was als ästhetisches oder religiöses Phänomen, als Kunstwerk oder als das „Heilige“ gelten kann. Nur auf dem Wege einer Analyse ästhetischer und religiöser Erfahrung wird die neuzeitliche Autonomie von Religion und Kunst auch in ihre theoretische Beschreibung eingeholt, wird somit begriffen, was mit der Behauptung solch „selbständiger Eigenwerte“ sinnvollerweise gemeint sein kann. Denn nur im analytischen Rückgang auf die genuinen Konstitutionsbedingungen ästhetischer und religiöser Erfahrung zeigen sich auch deren Erfahrungsgegenstände in der ihnen eigenen ästhetischen oder religiösen Ursprünglichkeit. Wo ohne ein solches analytisches Reduktionsverfahren von „Kunstwerken“ oder dem „Heiligen“ gesprochen wird, wird hingegen immer schon von einer zumeist institutionell, durch Kunstmarkt und Kunstwissenschaft, Kirche und Theologie etablierten Entscheidungsmacht zur Bestimmung dessen, was als Kunst und Religion zu gelten hat, Gebrauch gemacht.[3]

Was ein „Kunstwerk“ oder das „Heilige“ ist, wird - ohne auf ihnen fremde Bestimmungsgrößen zurückzugreifen - beschreibbar in der Bestimmung der Erfahrung, in der das „Kunstwerk“ oder das „Heilige“ sich in produktiven Akten rezeptiver Wahrnehmung konstituieren.

„Erfahrung“ wird dabei verstanden als die durch einen rohen Widerstand erzeugte bewusste Wirkung aufs Subjekt, die zu dessen selbstkontrolliertem Verhalten beiträgt. (Wer sich an einer Kochplatte die Hand verbrennt, lässt im weiteren Umgang mit ihr besondere Vorsicht walten: er hat eine durch rohen Hitzewiderstand erzeugte „Erfahrung“ gemacht, aus der eine selbstkontrollierte Verhaltensgewohnheit erwächst.) Worauf die Subjektivität in solch widerständiger Begegnung stößt, gehört zu ihrer Realitätserfahrung. Was ihr so zum Material ihrer organischen und intellektuellen Funktion wird, ist unleugbar für sie „da“, ist ihre eigene Erfahrung, macht ihre Erfahrenheit aus und gehört somit zu den evidenten Gegebenheiten ihres Selbst- und Weltumganges.

Die Analyse ästhetischer und religiöser Erfahrung führt auf die Erfahrungssubjektivität zurück. In ihr hat sie das solcher Erfahrung konstitutive Bezugssystem. Denn Subjektivität ist als ein System sich aufeinander beziehender Tätigkeiten zu denken. An deren durch widerständige Anstöße ausgelöstem Zusammenspiel ist zu zeigen, wie ästhetische und religiöse Erfahrungen zustandekommen, wie sie sich bilden, was sie rein als solche spezifische ausmacht, wie ästhetische und religiöse Erfahrung miteinander verbunden sind, wodurch sie sich voneinander unterscheiden, wie sie am Aufbau dessen beteiligt sind, was als ein „Kunstwerk“ oder als das „Heilige“ angesehen werden kann.

2.

Ästhetische Erfahrung ist, dass ein Gegenstand „interesselos“ gefällt. Solche Erfahrung kann durch natürliche wie künstliche Gegenstände ausgelöst werden.

Ein Gegenstand gefällt auf interesselose Weise. D.h., es geht nicht um die objektive Erkenntnis seiner Existenz. Es geht auch nicht darum, ihn um seiner Annehmlichkeit willen zu begehren. Und es geht auch nicht darum, ihn um der Erreichung anderweitiger Zwecke willen sich dienlich zu machen. Er gefällt - wie Kant immer noch zutreffend gezeigt hat -, weil er diese Empfindung in dem von ihm sinnlich affizierten Subjekt hervorruft und dieses in Ansehung des Gegenstandes so urteilt, dass er „schön“ sei.[4] Damit es zu solch einem ästhetischen Urteil kommt, spielt eine sinnlich affizierte Wahrnehmung mit dem intellektuellen Vermögen des Subjekts dergestalt zusammen, dass die besondere Wahrnehmung nicht unter einen sie objektiv bestimmenden Begriff gebracht wird, sondern dieses Urteil rein das glückende Zusammenspiel des Erkenntnisvermögens im Subjekt reflektiert. Es ist das Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Vorstellungskraft, von Besonderem und Allgemeinem, von kontingenter Affektion und Totalitätsanschauung, das sich in der Empfindung des Wohlgefallens an einem Gegenstand reflektiert und zur Anwendung der ästhetischen Bewertungskategorie des „Schönen“ führt. So kommt das rein Ästhetische einer Erfahrung zustande, was nicht heißt, dass ästhetische Erfahrung nur als rein ästhetische vorkommt oder vorkommen muß. Das ist selten der Fall. Zumeist liegt eine Verknüpfung mit praktischen Interessen und Funktionen vor.[5] Die ästhetische Erfahrung kommt jedoch vermöge dieser Reflexion auf den subjektiven Empfindungszustand des Gefallens zustande. Im Urteil, wonach ein Gegenstand gefällt, wirft dieses gleichsam das Glücken des freien Zusammenspiels von sinnlicher Wahrnehmung und virtueller Einbildung auf den Gegenstand selber zurück. Es versucht zu beschreiben, was ihm da gefällt: das Zusammenspiel der Farben und Formen, die Struktur der Materialien usw. In einer besonderen Wahrnehmung scheint zugleich die Totalität einer ideellen Anschauung auf. Das ist das Eigentümliche der ästhetischen Erfahrung, dass sie diese Wahrnehmung des Besonderen im Zusammenspiel mit einer allgemeinen Anschauung, mit einer so im Besonderen der Wahrnehmung gerade nicht gegebenen, aber durch sie provozierten Idee ist. Der Akzent liegt dabei auf dem Charakter des Zusammenspiels, somit auf dem Nicht-Festgestelltsein, der Nicht-Ableitbarkeit des einen durch das andere, der Idee durch die Wahrnehmung und umgekehrt. Die glückende Erfahrung des Zusammenspiels eines virtuellen Gedankens mit einer sinnlichen Wahrnehmung bewirkt, dass ein Gegenstand Gefallen findet. Die sinnliche Wahrnehmung sieht sich auf eine mögliche Idee gebracht. Etwas erscheint so, wie es gedacht sein könnte.

Dieses Zusammenspiel verdankt sich der durch äußeren Anstoß aufgefächerten Tätigkeit der Subjektivität, damit den Bedingungen, unter denen Gegenstände überhaupt wahrgenommen werden. Obwohl das ästhetische Urteil bloß die subjektive Empfindung im Glücken dieses Zusammenspiels reflektiert, macht es deshalb doch eine allgemeingültige Aussage über seinen Gegenstand. Es enthält die Anmutung, dass er jedem, sofern er sich nur auf diese besondere Erfahrung mit ihm einlässt, gefallen wird.

3.

Kunstwerke sind solche Gegenstände ästhetischer Erfahrung, die in der Absicht gemacht sind, ästhetische Erfahrung auszulösen.

Kunst ist durch ihre Methode zur Hervorbringung von Gegenständen ästhetischer Erfahrung definiert. Sie will solche Erfahrung hervorbringen.

Ästhetische Erfahrung beruht jedoch gerade - wie gesagt - auf einem freien, somit nicht planbaren Zusammenspiel von sinnlicher Wahrnehmung und ideeller Einbildung. In die Kunst als Methode ist deshalb die Paradoxie eingebaut, dass sie absichtsvoll macht, was sich absichtsvoll gar nicht machen lässt. Schon darin zeigt sich ein religiöser Kommunikation verwandtes Strukturmerkmal. Die Theologie hat diesen Sachverhalt in der Geistlehre chiffriert. Die Kunst setzt diese Paradoxie so in den Entwurf ihrer Werke um, dass sie auf bewußte Weise Rahmenbedingungen schafft, die ein freies Spiel nicht aufeinander rückführbarer ideeller und materieller Prozesse ermöglichen. (Eine Leinwand, Farben, die konzeptionelle Idee einer die Farben tragende, in Kreuzform mit dem Kopf nach unten hängenden menschlichen Gestalt - und dann die Erfahrung, dass durch den Wahrnehmungseindruck die Suche nach einem seine Idee freisetzenden Bild entsteht [Abb. 1]. Es ist dies eine Erfahrung, die unter den mit der Entstehung des Bildes gegebenen Rahmenbedingungen steht und dennoch so, wie sie vom Betrachter gemacht wird, daraus nicht ableitbar ist.)

Die Rahmenbedingungen, also das, was als ideelle Anschauung, als Konzept und als materieller Stoff zur Ausführung der Idee gegeben sein muß, lassen sich methodisch entwerfen. Das Kunstwerk selbst, das im glückenden Zusammenspiel dieser Faktoren gelingt, ist aus dem methodischen Verfahren jedoch nicht rational ableitbar. Der Kunsterfahrung selber wohnt diese Kontingenz inne. Sie geschieht oder sie geschieht nicht. Was Kunst zu Kunst macht, liegt somit - ihrer methodisch-absichtsvollen Herstellung unbeschadet - in den Konstitutionsbedingungen ästhetischer Erfahrung.

Thomas Lehnerer hat die Methode der Kunst deshalb als eine Methode der Freiheit beschrieben.[6] Auch die Produktion eines Kunstwerkes stellt ebenso wie dessen Rezeption in der ästhetischen Erfahrung einen Prozess dar, der bestimmbaren Konstitutionsbedingungen unterliegt und dennoch kontingent offen bleibt. Im Unterschied zum Rezeptionsvorgang der ästhetischen Erfahrung setzt das Kunstschaffen diesen Sachverhalt in rational gesteuerte Produktionsverfahren um. In ästhetischer Produktion wie in ästhetischer Rezeption handelt es sich gleichwohl um das unableitbare Resultat eines frei kombinatorischen Spiels gegebener sinnlicher Elemente mit dem nicht gegebenen Allgemeinen der Einbildungskraft. Was es in solchen ästhetischen Produktions- und Rezeptionsprozessen zu erfahren gibt, erschließt sich deshalb nur denjenigen - auf oft kaum, oder nur schwer sagbare Weise -, die sich auf diese Prozesse einlassen.

4.

Kunstwerke ermöglichen als provokante Gegenstände ästhetischer Erfahrung eine gegenüber der theoretischen und praktischen Einstellung eigene Weise des menschlichen Selbst- und Weltumgangs. Sie bieten eine umfassende Weltinterpretation, der man sich zugleich existentiell verbunden wissen kann. Ob dies einem Kunstwerk gelingt, kann nicht objektiv festgestellt, auch nicht argumentativ erzwungen werden. Es zu sehen, ist Sache jedes einzelnen.

Die Begegnung mit Kunst in der ästhetischen Erfahrung ist das andere zur objektiven Wirklichkeitskenntnis und zur vernünftig-moralischen Wirklichkeitsgestaltung, das Andere auch zur bloß sinnlich-angenehmen, die Lust an Gegenständen weckenden Reizung unseres Wahrnehmungs­vermögens. Kunstwerke erschließen sich nicht durch ihren funktionalen Bezug auf das alltägliche Wirklichkeitsverhältnis, obwohl sie dieses mit ihren eigenen Rahmenbedingungen immer schon voraussetzen. Sie vermitteln vielmehr die Erfahrung, dass alles auch ganz anders sein könnte, eine Erfahrung, die freilich ihrerseits immer schon Einstellungs- und Verhaltensgewohnheiten voraussetzt. Die Begegnung mit Kunst ist gesteigerte Kontingenzerfahrung. Das macht deren immer auch verunsichernde Wirkung auf das Alltagsbewusstsein aus. Was die Begegnung mit „Kunst“ zu erfahren gibt, lässt sich nicht bestimmen durch Zuordnung zu den gegenstandskonstitutiven Begriffen unseres sprachlichen Universums. Wo eine ästhetische Erfahrung provoziert wird, wird vielmehr ein prinzipiell unabschließbarer Reflexionsprozess ausgelöst; sie führt auf die Suche nach der Bestimmung eines Allgemeinen der Anschauung, das mit den Besonderheiten der Farben und Formen, der Töne und Materialien, die da wahrzunehmen sind, nicht schon gegeben ist und nun dennoch auf zwanglose Weise mit ihnen zusammenspielen will. Wo eine ästhetische Erfahrung durch Werke der Kunst provoziert wird, wird der Sinn für den Vorrang der Möglichkeit vor der Wirklichkeit geweckt.

5.

Das Bezugssystem für die Konstitution ästhetischer Erfahrung ist die leibhafte Reflexionssubjektivität. Unter den soziokulturellen Bedingungen der Moderne ist dies zum Bewußtsein der ästhetischen Erfahrung selber geworden.

Die methodisch-absichtsvoll durch Kunst provozierte ästhetische Erfahrung hat jeden anderweitigen Referenzrahmen verloren. Was es in solcher Erfahrung zu erfahren gibt, erschließt sich weder von ideellen Voraussetzungen her, noch solchen der gegenständlich gegebenen natürlichen Außenwelt. Für das Verständnis vormoderner Kunst war dies bestimmend. Sie hat ideelle Gehalte, solche vor allem der religiös-kodifizierten Weltsicht zur sinnlich-sichtbaren Darstellung gebracht, oder sie hat Tatsachen der natürlichen und geschichtlichen Außenwelt in ihrer bildlichen Darstellung wiedererkennbar gemacht. In der Welt des Geistes, der Natur und der Geschichte lagen die Bezugssysteme für die ästhetische Erfahrung. Was es da zu erfahren gab, konnte in den Bezügen religiösen Wissens, der Kenntnis natürlicher oder geschichtlicher Vorgänge gedeutet werden. Ästhetische Erfahrung war immer von ihr externen Erfahrungsbezügen her gedeutete Erfahrung. Ebenso erfüllte sie eine die Veranschaulichung, das Wiedererkennen ermöglichende Funktion für die inhaltlichen Bezüge religiöser Erfahrung, die Bezüge von Naturerfahrung und Geschichtserfahrung.

Das ist unter den Bedingungen der gesellschaftlichen Moderne, unter denen sich die Kunst von diesen externen Bezugssystemen befreit hat und um der Behauptung ihres „Eigenwertes“ willen befreien mußte, anders geworden. Kunstwerke sind nicht mehr in ihrer Funktion der Symbolisierung des Ideellen und der Abbildung des Materiellen zu verstehen. Auch die Frage ihres Verhältnisses zur Religion kann nicht mehr mit Bezug auf etwaige Symbolisierungs- oder Repräsentationsleistungen diskutiert werden. Die Kunst erfüllt diese nicht mehr. Und wenn sie es tut, dann in einer Weise, die die eigene Autonomie durch den kritisch-konstruktiven Umgang mit den religiösen Symbolbeständen repräsentiert. Das Bezugssystem für die Konstitution ästhetischer Erfahrung ist insgesamt ein anderes geworden.

Es ist nicht so, dass es gar kein Bezugssystem mehr gäbe oder geben müßte. Gerade die moderne, auf ihre Autonomie bedachte Kunst, kann ihre Werke nicht für sich selber stehen lassen. Was ein Kunstwerk ist, ist strittig. Und viele Werke, die den Anspruch erheben, Kunst zu sein, zeichnen sich gerade auf sehr verwechselbare Weise in die Alltagswelt und deren Gebrauchszusammenhänge ein.

Auch das methodisch-absichtsvoll produzierte Kunstwerk wird zu einem solchen erst in der ästhetischen Erfahrung. Was solche Erfahrung machen lässt, ist jedoch die Reflexionssubjektivität. In ihr spielt dieses Spiel der Freiheit, das auf nicht planbare Weise sinnliche Affektionen unter ein nicht gegebenes ideelles Ganzes ihre Anschauung bringt, im Besonderen einen allgemeinen Sinn entdeckt, ohne ihn doch auf die mit unserem natürlichen Weltverhältnis gegebenen Begriffe bringen zu können. In diesem Sinne gilt nun die Reflexionssubjektivität als das Bezugssystem der ästhetischen Erfahrung.[7] Sie macht Werke zu „Kunstwerken“. Sie ist die Bedingung ihrer Möglichkeit.

Die Fragen, „was soll das?“, „ist das Kunst?“ gehören deshalb zu Werken moderner Kunst immer mit hinzu. Sofern man sie nicht durch die Deklaration der Kunstproduzenten oder durch Erfolgsziffern auf dem Kunstmarkt entschieden sein lassen möchte, fällt ihre Beantwortung unentlastbar in die Subjektivität derer, die sie stellen. Im anschauendreflektierenden Sich-Einlassen auf ein Kunstwerk kann allein herauskommen, ob und wie das Besondere der gegebenen sinnlichen Wahrnehmung mit einem nicht gegebenen Allgemeinen der intellektuellen Begriffsproduktion zusammenspielt. Kein Wiedererkennen von auch anderweitig anschaulich Gegebenem ist möglich. Kein Begriff steht zur Verfügung, unter den sich, wie vieles andere, auch diese Erfahrung subsumieren ließe. Der Begriff, die Idee des Kunstwerkes, dasjenige also, was macht, dass es zwanglos gefällt, - und auch das schrecklich und häßlich Anzusehende kann ja gefallen, weil in ihm die Idee dessen, was möglich ist, zur Erscheinung kommt, - muss immer erst gefunden werden. Moderne Kunst ist Reflexionskunst. Ein Kunstwerk ist nun umso gelungener, je weiter es die Suche nach dem, was es glücken lässt, es zum Erscheinen seiner Idee werden lässt, aus dem Horizont des eingespielten Alltagsbewusstseins heraustreibt. Je weniger es solche Suchbewegungen provoziert, sondern bloß als die Abbildung von Vorausgewusstem erscheint, desto eher handelt es sich um Kitsch oder sogenanntes Kunsthandwerk.

6.

Die Reflexionssubjektivität als Konstitutionsort ästhetischer Erfahrung spricht sich im ästhetischen Urteil aus. Ihre Sätze sind Sätze der reflektierenden Urteilskraft. Ästhetische Diskurse sind Kommentierungen ästhetischer Erfahrung.

In der Begegnung mit moderner Kunst findet keine Symbolisierung von Vorausgewusstem und kein Wiedererkennen von schon Bekanntem statt. Der alltägliche, zweckrational und funktional gesteuerte Weltumgang wird unterbrochen. Sinnlich affizierte Wahrnehmungen werden in eine Reflexionsbewegung hineingetrieben, in der es die Bedeutung des Wahrgenommenen immer erst herauszufinden gilt. Etwas gefällt, aber warum? Was ist es, das ein Kunstwerk gelungen sein lässt? Wie ist die Anschauung zu beschreiben, in der die wahrgenommene Besonderheit mit der Idee des Kunstwerks zu einem glückenden Ganzen zusammenspielt?

In diesen Fragen liegt das Problem rein ästhetischer Diskurse. Rein ästhetische Urteile sagen von der ästhetischen Erfahrung immer nur das inhaltlich Unbestimmte aus, dass ihr Gegenstand gefällt, dass er „schön“ sei. „Schön“ eben in diesem rein formalen Sinn des Zusammenstimmens von sinnlicher Affektion und virtueller Idee, wonach auch das Hässliche „schön“ sein kann. Sofern der Diskurs über ästhetische Erfahrung über solch rein formale Qualifizierungen hinausgeht, sofern zu sagen versucht wird, was ein „Kunstwerk“ bedeutet, was es sagt, wird entweder die Beziehung von Kunstwerken zu anderen Kunstwerken kommentiert, wird also ein kunstwissenschaftlicher bzw. kunsthistorischer Diskurs aufgemacht, oder es werden Deutungsmuster aus anderen Diskursuniversen, wie etwa denen der Alltagserfahrung, existentieller Erfahrung oder religiöser Überlieferung reinvestiert.

Die autonome Kunst provoziert zugleich ihre permanente Kommentierung, eben weil sie - konstitutiert in den Empfindungszuständen der Reflexionssubjektivität -, nicht zugleich sagt, was sie bedeutet. Die Rückkoppelung an die Bezugssysteme der Welt der Ideen und der natürlich-geschichtlichen Erfahrungswelt findet deshalb auf dem Wege der Kommentierung ästhetischer Erfahrung statt. Solche Kommentierung bleibt der ästhetischen Erfahrung selber jedoch immer äußerlich. Diese kann sich ihr deshalb zu Recht auch verweigern.

7.

Was für die Kunst gilt, gilt unter den soziokulturellen Bedingungen der Moderne gleichermaßen für die Religion. Die Frage danach, was Religion ist, verlangt den Rekurs auf die Konstitutionsbedingungen religiöser Erfahrung.

Die Frage nach dem, was Religion ist, ist nicht weniger strittig wie die nach dem, was Kunst ist. Kunst und Religion haben im Prozess gesellschaftlicher Modernisierung ihren metaphysischen, moralischen, politischen Funktionszusammenhang, damit einhergehend ihren institutionellen Geltungsschutz weitgehend verloren. Auch die Religion ist selbständig geworden. Sie ist nicht mehr von Gnaden dessen, was die positiven Religionen, hierzulande die Kirchen vor allem, dafür gelten lassen. Sie verdankt sich nicht mehr autoritativen Setzungen, im gläubigen Gehorsam zu übernehmenden Offenbarungslehren. Sie ist nicht mehr identisch mit statutarischem Kirchenglauben. Theologie und Kirche haben sie nicht mehr in ihrer Gewalt. Ihnen kommt keine Definitionsmacht darüber mehr zu, was Religion ist und wo sie legitimerweise vorkommt und wo nicht. Und dass man Religion braucht, um die Welt zu verstehen oder um ein ordentlicher Staatsbürger zu werden, will nicht mehr unmittelbar einleuchten.

Die Religion geht ihre eigenen Wege. Weder an der Zustimmungsbereitschaft zur kirchlichen Lehre, noch an Kultfrequenzziffern kann sie festgemacht werden. Auch wo die Theologie ein Offenbarungswissen zu entfalten beansprucht, gilt dies als bloße Behauptung. Das Offenbarungswissen muß zum Gehalt der eigenen Selbstthematisierung werden können. Ebenso strittig bleibt der Verweis auf die Begegnung mit dem „Heiligen“, auf übermächtiges Betroffensein von Göttlichem, solange es nicht seine Plausibilität findet in der je eigenen religiösen Erfahrung, also in der Erschlossenheit des eigenen Selbst in der Beziehung zu Gott.

8.

Religiöse Erfahrung ist Selbstdeutung endlicher Freiheitserfahrung im Horizont der Idee des Unbedingten, das Sich-Gegründetwissen des Individuums in Gott. Der Konstitutionsort religiöser Erfahrung ist die leibhaft gebundene Reflexionssubjektivität.

Deshalb werden Kunst und Religion in den geistes- und sozialgeschichtlichen Veränderungen der Moderne substituierbar. Es ist kein Dienstverhältnis mehr der einen für die andere. Weder braucht die Kunst die Religion als Referenzrahmen für die Bestimmung ihrer ideellen Gehalte, noch braucht die Religion die Kunst zur Bebilderung ihres heilsgeschichtlichen Offenbarungswissens. Religion und Kunst sind gleichermaßen frei geworden von den ihnen fremden Funktionen metaphysischer Weltdeutung und ethischer Weltgestaltung. Auf der Ebene dieser objektiven ideellen Gehalte, für die sie in Anspruch genommen wurden, brauchen sie deshalb auch einander nicht mehr. Religion und Kunst sind jeweils zu sich selber befreit, unter Abstoßung ihrer sie fremdbestimmenden metaphysischen und moralischen Funktionen.

Die Befreiung auch der Religion zu sich selber zu erkennen, heißt sie aufzusuchen, nicht in dem, was objektiv von ihr da ist, in dogmatischen Vorstellungsgehalten, wie sie von Kirchen und anderen religiösen Gruppierungen vertreten werden, in der Teilnahme an religiösen Veranstaltungen, in Bekenntnissen und Lehrgebäuden. In all dem ist die Religion nie rein bei sich, sondern immer schon veräußert an die theoretischen und praktischen Bestände des menschlichen Selbst- und Weltumgangs, für die sie heute nicht mehr unmittelbar gebraucht wird. Rein bei sich ist die Religion nur in der sich als Gottesbewusstsein auslegenden Selbstdeutung endlicher Freiheit.

Der Konstitutionsort religiöser Erfahrung ist ebenfalls die leibhaft gebundene Reflexionssubjektivität. In ihr kommt die Kunst mit der Religion zusammen. Dennoch werden sie nicht eins.

9.

Identität und Differenz von ästhetischer und religiöser Erfahrung sind über die Funktionsweisen der leibhaft gebundenen Reflexionssubjektivität, von der her sie sich gleichermaßen aufbauen, auszumachen. Ästhetische Erfahrung spricht sich als immanente Glückserfahrung aus, religiöse Erfahrung als transzendentale Ursprungserfahrung. In ästhetischer Erfahrung kommt dem Individuum die Welt endlich entgegen. In religiöser Erfahrung weiß es sich unendlich von ihr unterschieden. Auch die religiöse Erfahrung kann jedoch in der Begegnung mit Werken der Kunst gemacht werden. Ihnen kann es in glückender Weltinterpretation gelingen, unsere ersten Zwecke in sich zu versammeln.

Ästhetische und religiöse Erfahrung gehen darin zusammen, dass in ihrem Zustandekommen die intellektuelle und die organische Funktion der Subjektivität, Verstand und Sinnlichkeit, Wahrnehmung und virtuelle Einbildungskraft nicht zur objektiven Erkenntnis und auch nicht zur ethisch-vernünftigen Gestaltung der Wirklichkeit zusammenwirken. Wo es zur ästhetischen und wo es zur religiösen Erfahrung kommt, spielt sich vielmehr - in Anbetracht unseres theoretischen und praktischen Realitätsbewusstseins - ein zweckloses Zusammenspiel der in der Struktur der Subjektivität liegenden Erkenntnisfunktionen ab. Es ist das Zusammenspiel der Erkenntnisfunktionen rein als solches, unabhängig von der Erfüllung kognitiver oder praktischer Bestimmungsleistungen, das in ästhetischer und religiöser Erfahrung zur Präsenz des Bewusstseins kommt. In ihm wird die Subjektivität ihrer transzendenten Einheit gewahr. Deshalb schatten sich ästhetische und religiöse Erfahrung in einem Gefühl bzw. Empfindungszustand ab. Sie bestimmen nicht die objektive Welt der Gegenstände. Sie reflektieren das unmittelbare Sich-selbst-Gewahrwerden der individuellen Subjektivität im durch äußeren Anstoß ausgelösten, aber zugleich freien Zusammenspiel ihrer Funktionen bzw. Tätigkeiten.

Ästhetische Erfahrung reflektiert in besonderen Wahrnehmungen das allgemeine Gefühl des freien Zusammenstimmens und -klingens von Selbst und Welt. Religiöse Erfahrung reflektiert in besonderen Wahrnehmungen das allgemeine Gefühl ursprünglicher Ermöglichung des Selbst in seinem Verhältnis zur Welt. Was ästhetische und religiöse Erfahrung voneinander unterscheidet, ist nicht ihr sinnlich-ideeller Gehalt, sondern das Woraufhin der Deutung, die ihm in der Reflexion des Subjekts zuteilwird.

10.

Damit es zur Konstitution ästhetischer und/oder religiöser Erfahrung kommt, muß eine durch sinnliche Wahrnehmung provozierte Gemütsgestimmtheit mit einer ästhetischen oder religiösen Deutungs- bzw. Bewertungskategorie zusammenkommen.

Die vorzügliche ästhetische Gestimmtheit ist die des Gefallens. Den sie auslösenden Gegenständen wird die ästhetische Deutungs- und Bewertungskategorie des Schönen, des Erhabenen, des Gewaltigen, Erschütternden beigelegt. Sie verlangt allgemeine Zustimmung, erlangt diese aber nur dann, wenn auch die entsprechende Gemütsgestimmtheit sich subjektiv einstellt.

Die vorzügliche religiöse Gestimmtheit ist die des Erbaulichen. Den sie auslösenden Motiven wird die religiöse Deutungs- und Bewertungskategorie des Heiligen oder Numinosen beigelegt. Auch sie verlangt allgemeine Zustimmung, erlangt diese aber ebenfalls nur dann, wenn die entsprechende Gemütsgestimmtheit sich subjektiv einstellt.

Der Allgemeinheitsanspruch ästhetischer und religiöser Urteile ist immer nur von subjektiver Verbindlichkeit. Dennoch konstituiert sich in ihnen eine auch intersubjektiv mitteilbare ästhetische und religiöse Erfahrung. Die Empfindungszustände, auf die die ästhetischen oder religiösen Deutungskategorien angewandt werden, sind immer vorsprachlicher Natur. Sie sind nur subjektiv zugänglich, individuell, nicht mitteilbar. Erst die Anwendung der Deutungskategorien lässt ästhetische und religiöse Erfahrung als allgemeine, mitteilbare Erfahrungen zustande kommen. Insofern kann man auch sagen: was als ästhetische oder religiöse Erfahrung gilt, ist wesentlich das Resultat ästhetischer und religiöser Kommunikation, des Austauschs entsprechender Wahrnehmungs- und Deutungsmuster.

Solche Kommunikation vollzieht sich in der Verwendung von Zeichen, die vorsprachliche Empfindungszustände als ästhetische oder religiöse überhaupt erst bestimmbar machen. Die Folgerung ist, dass nur wer solchen Zeichengebrauch lernt, auch seine eigenen religiösen und ästhetischen Erfahrungen zu identifizieren in der Lage ist. Ohne Einübung in den das ästhetische und religiöse Urteil ermöglichenden Zeichengebrauch sind vielleicht die entsprechenden Empfindungen auch da, bleiben aber in vorsprachlicher Unbestimmtheit.

Sie bleiben dann flüchtig. Sie sind da, oder sie sind nicht da.

Weithin dürfte es heute genau bei dieser flüchtigen Unbestimmtheit bleiben. Ebenso dürfte, weil der entsprechende Zeichengebrauch nicht gelernt ist, somit die reflektierende Bestimmung der Empfindungszustände nicht zustande kommt, auch die Differenz zwischen dem Ästhetischen und dem Religiösen unbestimmt bleiben. Handelt es sich um das Empfinden eines glückenden Zusammenspiels meines allgemeinen Möglichkeitssinns mit einer besonderen Wahrnehmung, oder geht mir dankbar auf, dass überhaupt etwas ist und dieses mein besonderes Dasein sich in seinem allgemeinen Sinn erschließt? Erst in der Anwendung entsprechender Deutungskategorien gelangen ästhetische und religiöse Empfindungen zu bestimmbarer Klarheit über sich selbst. Dann konstituiert sich das, was ein Kunstwerk oder die Realität Gottes ist.

11.

Ästhetische und religiöse Erfahrung kommen zur Bestimmung immer erst in der Kommunikation ästhetischer und religiöser Deutungs- bzw. Bewertungskategorien. Im Kunstwerk hat ästhetische Erfahrung jedoch einen Gegenstand, dem es spezifisch ist, Empfindungszustände methodisch-absichtsvoll zu generieren. Kunstwerke stellen einen produktiven Umgang mit dem paradoxen Sachverhalt der Machbarkeit dessen dar, was sich prinzipiell nicht machen lässt. Sie zeigen das Spiel der Freiheit und somit wie das Glück wachsen kann. Sofern religiöse Erfahrung zu sich darstellender Mitteilung kommt, tut sie das deshalb immer auch mit der Methode der Kunst. „Kunst ist die Sprache der Religion“ (Friedrich Schleiermacher).[8]

Auch die Symbolisierung religiöser Erfahrung arbeitet mit dem ästhetischen Verfahren, das der Produktion von Kunstwerken eigentümlich ist. Von daher ist Schleiermachers Rede zu verstehen, dass die Kunst die Sprache der Religion sei. Diese Rede meint, dass die Religion, wo sie die sinnliche Wahrnehmung von Tönen, Gebärden, Formen und Farben zu sprechenden Zeichen für spezifische Gemütsgestimmtheiten gestaltet, sich der Methode der Kunst, also des freien Zusammenspiels sinnlicher Elemente mit dem Allgemeinen der ideellen Begriffsbildung absichtsvoll bedient.

Es geht religiöser Mitteilung schließlich nicht um objektive Feststellung hinsichtlich dessen, was in der Welt und mit dieser überhaupt der Fall ist, nicht um Welterklärung und auch nicht um allgemein-vernünftige Weltgestaltung. Es geht ihr um die Erregung von Gemütsgestimmtheiten. Und die Methode zur Erregung von Gemütsgestimmtheiten ist die Methode der Kunst. Sofern in religiöser Rede und religiösem Gesang, in bildlichen Darstellungen im Raum der Kirche, in der geschmackvollen Gestaltung von Kulträumen, in der liturgischen Inszenierung der Kultfeiern etwas die Gemütszustände Erregendes liegt, ist es ihrer kunstvollen Gestaltung geschuldet.

Dass Kunst die Sprache der Religion sei, ist nicht im Sinne der alten ideellen Kunst zu verstehen. Diese betrieb zugleich die Symbolisierung einer gehaltvollen religiösen Semantik. Sie setzte den Kosmos religiösen Wissens, den Inhalt der religiösen Vorstellungskomplexe, wie z.B. die szenischen Ereignisfolgen der jüdisch-christlichen Heilsgeschichte in ihre bildlichen Darstellungen um.

Dass Kunst die Sprache der Religion sei, meint unter den Bedingungen der Autonomie von Kunst  und Religion nur den formellen Aspekt der erregenden Symbolisierung subjektiver Gemütszustände. Es meint nicht, dass Kunst auch in den Dienst der Mitteilung religiöser Semantik träte. Kunst vermittelt keine inhaltlich religiöse Deutung christlicher Erfahrung. Sie sagt nichts inhaltlich Bestimmtes über diese aus. Sie spricht auch für Religion eben nur insofern, als diese mit der ästhetischen Erfahrung den analogen Konstitutionszusammenhang hat: die nicht objektiv bestimmbare, abgründige Einheit der Erfahrungssubjektivität.

Weil Kunst die Religion nur in formeller Hinsicht zum Sprechen bringt, nur als Erregung subjektiver Gemütszustände, verdankt sich die Semantik religiöser Kommunikation immer der Eigenständigkeit der religiösen Selbstthematisierung des Individuums. Wer religiös Gehaltvolles, inhaltlich Bestimmtes aus Kunstwerken vernimmt, nimmt immer solche dem religiösen Urteil entspringenden Deutungszuschreibung vor. In der Regel unterlegt er dem Gefallen, das er an Kunstwerken findet, einen Kommentar in Gestalt einer religiösen Rede. Solche Rede wird sich zumeist der Kunst der Rede bedienen. Sie hat um der Angemessenheit an ihren ästhetischen Gegenstand willen die Tendenz, poetisch zu werden. Der semantische Gehalt solcher Rede verdankt sich jedoch nicht der Kunstbetrachtung selber, sondern der Anwendung überlieferter religiöser Deutungskategorien auf Empfindungszustände, wie sie freilich auch und gerade durch Kunstwerke provoziert sein können. Das spezifisch Religiöse wird nicht schon im künstlerischen Symbolisierungsvorgang kenntlich, sondern erst in der Semantik, mit der dieser belegt wird.

12.

Autonome Kunst kann Religion zur Sprache bringen, ohne etwas Bestimmtes über diese mitzuteilen. Das Religiöse der modernen Kunst liegt nicht in der Symbolisierung religiöser Ideen oder dogmatischer Gehalte, nicht in der Bebilderung religiöser Vorstellungen. Das der autonomen Kunst selber innewohnende religiöse Moment tritt als Unterbrechung des kulturellen, auch und gerade des konsum-kulturellen Alltagsbewusstseins hervor. In einem Kunstwerk spricht Religion sich aus, sofern dieses nicht allein gefällt, sondern in Distanz bringt; es Distanz zum eingespielten symbolischen Universum provoziert, die Suche nach Sinn verlangt. Kunst lässt Distanzerfahrungen machen, die Individuen auch zu religiösen, die ursprüngliche Ermöglichung ihrer Freiheit thematisierenden Selbstdeutungen anregen können.

Das Religiöse, das moderne Reflexionskunst selber zur Sprache bringt, liegt nicht in bestimmten, etwa der christlichen Überlieferung zugehörenden Vorstellungsgehalten. Es liegt selbst dann nicht darin, wenn sie diese im Entwurf ihrer Bildwelten zitiert oder assoziiert. Das Religiöse liegt in der Erfahrung der Aufstörung des Alltagsbewusstseins und damit des Zerbrechens der funktionalen, zweckbestimmten Zuordnung unserer Realitätsvorstellungen, in denen wir uns normalerweise bewegen. Kunstwerke provozieren die Erfahrung, dass alles auch anders sein könnte. Kunstwerke führen in Kontingenzerfahrungen. Als gesteigerte Kontingenzerfahrung ist die Begegnung mit Kunst religiöse Erfahrung. Sie kann eine die Suche nach Sinn aufs Neue auslösende religiöse Erfahrung auch für das in konventionelle Vorstellungssyndrome eingespielte kirchlich-religiöse Bewusstsein sein. Diese genuin religiöse Provokation der Kunst wird vom konventionell formierten religiösen Bewusstsein gemeinhin allerdings nicht als solche wahrgenommen. Die Erwartung an die Sprache der Religion ist ja eher die, dass sie Komplexität reduziert und Kontingenz bewältigen hilft - durch sinndeutende Vergewisserung im Absoluten. Solche Vergewisserung erbringt moderne Reflexionskunst nicht. Sie stürzt den Betrachter zunächst in die Suche nach jener allgemeinen Bedeutung, die dem Besonderen, das sinnlich wahrzunehmen ist, zukommt, aber nicht mit ihm gegeben ist. Sie liefert den Begriff nicht mit und hat die Brücken zu einer im allgemeinen Bewußtsein vorgegebenen Welt von Ideen und Gegenständen abgebrochen.

So steht die Kunst der Funktion, die die Religion vermeintlich für die Gesellschaft und das Individuum zu erfüllen hat, gerade entgegen. Statt Kontingenz zu bewältigen, steigert sie diese. Dennoch, dieser Gegensatz ist bloßer, von der konventionellen Religionsauffassung selber erzeugter Schein. Recht verstanden wohnt der religiösen Erfahrung selber das Moment der Aufstörung des Alltagsbewusstseins inne; bringt sie in Distanz zur Welt; ist ihr die Empfindung des Erbaulichen gerade im Erhobensein über das Alltägliche eigen. Religiöse Erfahrung kann durch ästhetische Provokation zu der ihr eigenen Wahrheit gebracht werden, wie umgekehrt die ästhetische Erfahrung durch ihre religiöse Deutung vor einer Vergegenständlichung ihrer Gehalte bewahrt werden kann.

13.

Moderne Reflexionskunst ist offen für eine Vielfalt von Deutungen, religiöse wie nichtreligiöse. Sie liefert die Semantik ihrer Deutungen nicht selber schon mit. Deshalb werden diese in der Form mitlaufender Kommentierungen erbracht.

Die religiöse Deutung moderner Reflexionskunst ist nie zwingend. Sie liegt ja nicht schon im Werk selber beschlossen. Die ästhetische Erfahrung, die es auslöst, ist genuin die Suche nach einem Allgemeinen der Bedeutung, nach einem Begriff, der zum Verstehen des Kunstwerks erforderlich scheint, der aber gerade nicht greifbar ist, sondern in der Reflexionsbewegung ästhetischer Erfahrung, die zwischen sinnlicher Wahrnehmung und ideeller Einbildung spielt, immer wieder entgleitet.

Jede Deutung dieser Erfahrung, die über das rein Ästhetische des Gefallens am glückenden Zusammenspiel hinausgeht, macht von Konnotationen Gebrauch, die anderen Diskursuniversen entstammen: politischen, moralischen, religiösen.

In der religiösen Deutung veranlasst etwa die Erfahrung des glückenden Zusammenspiels zur Rede vom erscheinenden Gott. Oder es werden die als gelungen empfundenen Zeichen der Zerrissenheit, des Zerbrechens, des Sich-nicht-Fügenwollens in die deutende Rede vom leidenden, gekreuzigten Christus überführt. Solche Deutungen treten immer als Kommentare auf. Sie verlangen die Gegenzeichnung in der je eigenen Erfahrung. Diese kann auch verweigert werden. Es kann der Gegenkommentar provoziert werden, oder es kann an das Schweigen als der gegenüber dem Kunstwerk einzig angemessenen Haltung appelliert werden. Da unter vielen Kunstwerken geschrieben steht: ohne Titel, appellieren sie selber an diese Haltung des Schweigens.

14.

Kennzeichnend für die sozio-kulturelle Gegenwartslage sind sowohl die Verlagerung religiöser Erfahrung in die Kunst und - was nicht dasselbe ist, sondern von der Kunst selber kritisch reflektiert wird - in das „Emotional-Design“ der Konsumkultur, wie auch der ästhetische Umgang mit den überkommenen religiösen Deutungspotentialen der Christentumskultur. D.h., sie können Verbindlichkeit für Individuen vor allem dann gewinnen, wenn sie von diesen als ebenso gehaltvolle wie subjektiv plausible Artikulationen ihrer Selbstdeutung gelesen werden.

Der Zwang zur Häresie, von dem Peter L. Berger spricht[9], zur permanenten Abweichung von den durch Überlieferung geheiligten und institutionell sanktionierten religiösen Symbolgehalten, meint den ästhetischen Umgang mit ihnen. In den Umgang mit den Beständen religiöser Deutungskultur tritt, - da sie für die durch ihre Funktionen bestimmte gesellschaftliche Existenz nicht mehr notwendig sind -, das ästhetische Moment des Frei-Spielerischen ein. Ihre Übernahme wird eine Frage subjektiver Wahl, plausibilisierender Aneignung. Die Zustimmungsbereitschaft zu überlieferten religiösen Gehalten wird davon gesteuert, welche Kombination von Deutungsmustern als Sinnorientierung für die eigene Selbstdeutung zwanglos einleuchtet.

Anders als im Modus ästhetischer Verflüssigung, ohne den Reiz des Neuen, das überraschende Spiel mit überlieferten Deutungsmustern, ohne die sie verfremdende Reinszenierung, ohne den unmittelbar ansprechenden Plausibilitätserweis der Deutungsangebote im Kontext individueller Selbstthematisierung gewinnt die kirchliche Religionskultur heute keine über das Berufstheologentum und die von ihm erzogene Kerngemeinde hinausgehende Aufmerksamkeit mehr.

Auch Gottesdienst und Predigt müssten deshalb zu „offenen Kunstwerken“ werden, die sich im Vollzug der subjektiven Aneignung ihres Sinngehaltes vollenden. Als „offene Kunstwerke“ setzen sie ihre Überführung ins Leben frei, sie bringen, christliche gesprochen, auf den Weg selbsttätigen Glaubens, in die Nachfolge. Das Religiöse, das in solcher ästhetischen Erfahrung liegt, das sie selber vermittelt, verdankt sich nicht erst den biblisch-christlichen Motiven, auch wenn diese einen unverzichtbaren Beitrag zur Deutung und Bewertung des religiösen Gehalts solcher Erfahrung leisten. Das Religiöse liegt bereits in der eigentümlichen Vertiefung des subjektiven Vorgangs der Aneignung, zu dem die ästhetische Textinszenierung herausfordert. Religiös verbietet sich die Verdinglichung der Inszenierung der in der Bibel erzählten Gottesgeschichte, als sei sie schon die Sache selbst, ohne sich in die Deutung unserer Lebensgeschichten zu vermitteln. Ist ästhetische Erfahrung die Wirkung im Subjekt, die durch sie ausgelöst wird, so macht die Religion eben diesen Sachverhalt ausdrücklich. Die Religion kann die ästhetische Erfahrung somit vor dem Abgleiten in die Verdinglichung bewahren, indem sie unsere Bestimmung zur Freiheit ihrer Aneignung im Lebensvollzug erkennt und vermittelt.

Anmerkungen


[1]    M. Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I (1920), Tübingen 91988, S. 555.

[2]    Vgl. N. Bolz/D. Bosshart: Kult-Marketing. Die neuen Götter des Marktes. Düsseldorf 1995.

[3]    Dass die zeitgenössische Ästhetik kein objektivierendes Vertrauen auf „Werke“ mehr haben kann, sondern analysieren muß, was in der ästhetischen Erfahrung geschieht, hat überzeugend gezeigt: Rüdiger Bubner: Ästhetische Erfahrung. Frankfurt/M. 1989.

[4]    I. Kant: Kritik der Urteilskraft (Werkausgabe, hrsg. von Wilhelm Weischedel), Frankfurt/M. 1968. Vgl. zum Folgenden §§ 5-17.

[5]    Vgl. dazu P. Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (franz. 1979). Frankfurt/M 7/1994.

[6]    Th. Lehnerer: Methode der Kunst. Würzburg 1994.

[7]    Vgl. A. Gehlen: Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei. Frankfurt/M. u. Bonn 21965. Gehlen hat gesagt, „dass Kunst heute Reflexionskunst ist, die Reflexion lebt im Medium der Zweideutigkeit, und die radikalste würde darin bestehen, dass ein Kunstwerk den Zweifel erweckt, ob es überhaupt eines ist“ (S. 271). Deshalb kommt Gehlen zu der Feststellung: „Innerhalb des allgemeinen Bezugssystems neuerer Kunst: der reflektierten Subjektivität, lokalisiert sich die abstrakte Malerei an bestimmter Stelle: an deren Verunsicherung“ (S. 218).

[8]    Genau lautet die Formulierung Schleiermachers, auf den ich mich mit der hier skizzierten Religionstheorie insbesondere beziehe, so: „Wenn demnach das Bilden der Fantasie in und mit seinem Heraustreten Kunst ist, und der Vernunftgehalt in dem eigentümlichen Erkennen Religion, so verhält sich Kunst zur Religion wie Sprache zum Wissen.“ In: ders.: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre (Werke, Auswahl in vier Bänden, hrsg. von Otto Braun, Bd. II), Neudruck der 2. Auflage Leipzig 1913, Aalen 1967. S. 314 f., § 228. Zu Schleiermachers Kunsttheorie vgl. Th. Lehnerer: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers. Stuttgart 1987. W. Jaeschke/H. Holzhey (Hrsg.): Früher Idealismus und Frühromantik. Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik. Hamburg 1990.

[9]    P. L. Berger: The Heretical Imperative. Contemporary Possibilities of Religious Affirmation, deutsch: Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft. Freiburg 1992.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/141/wg5.htm
© Wilhelm Gräb, 2023