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Magazin für Theologie und Ästhetik


Reality TV

Terror / Medien: das Offensichtliche, das Verborgene

Uwe Kamman

"Apocalypse live": vor sieben Jahren realisierte Andreas Ammer ein Hörspiel, das nur ein Thema hatte - der Weltuntergang als Medienereignis. Hanns-Joachim Friedrichs ist dort Anchorman, der die heraufziehende Zerstörung der Welt für die "Tagesthemen" kommentiert: "Jetzt hat sie uns verlassen". Ein neues Ammer-Stück heißt "Crashing aeroplanes" - eine Realton-Collage von Flugzeugabstürzen. Der Lieblingsmusiker des Hörspielmacher: F.M. Einheit von den "Einstürzenden Neubauten".

Visionäre Kunst. Es ist so: Unsere Katastrophen sind inzwischen fast alle vermittelt, sind fast ab der ersten Sekunde mediale Ereignisse. Die vorhandenen Bilder, sie vor allem, bestimmen die Wahrnehmung, steuern die Interpretation. Jegliche Analyse kommt erst in der vierten, fünften, sechsten Linie.

Immer "am Ball"?

Vorher scheint immer zu gelten, was dpa (bewusst/unterbewusst?) so ausdrückte: "Am Mittwoch bleiben ARD, ZDF und RTL sowie die Nachrichtensender nach Terror-Attacken auf die USA am Ball". Am Ball - die UEFA als Organisatorin der Champions-League kann sich freuen: Sie ließ ebenso am Ball bleiben.

Zieht man das sprachliche Unglück ab, bleibt als Zwischenergebnis, nach den ersten 60 Stunden: Was wir gesehen und gehört haben, entsprach dem, was die Sender aufbieten können, wenn sie ihre ganze Maschinerie anwerfen, wenn sie ihre Logistik ausreizen, wenn sie ihre Dramaturgie einem einzigen Ereignis anpassen. Das Außergewöhnliche - hier: das zum Schrecklichsten, zum Grauenvollsten gesteigerte Außergewöhnliche, das alle bisherigen Dimensionen sprengt -, es findet gleichwohl sein professionelles Ritual: mit Korrespondentenberichten, Studiogesprächen, Expertenrunden.

Beherrschend ist allerdings die Kraft der Bilder. Die Einordnung, obgleich stets mitgeliefert, gerät in eine Statistenrolle. Selbst dann, wenn sie - wie vielfach gesehen/gehört - klug und klar vorgetragen wird. Doch das Ereignis in seiner offensichtlichen äußeren Gestalt, soweit es also sichtbar ist, dominiert. Und damit ist es gebunden an einen ständig verflochtenen Prozess der Zufälligkeit und der Steuerung.

Gesteuerte Wahrnehmung durch die Terroristen?

Wie weit haben die Terroristen den Prozess der Wahrnehmung gesteuert? Das Wetter musste schön sein, wegen der Sicht. Der Zeitpunkt - morgens um neun - war ideal, um die ganze Welt zum Zeugen der demonstrativen Barbarei zu machen: in Echtzeit. Es war klar, dass nach dem ersten Flugzeugtreffer die ewig bereiten Katastrophenkameras in der Medienstadt sofort zur Stelle sein würden. Der Nachlauf von einer Viertelstunde für das zweite Flugzeug reichte, um eben diese schauerliche Todeskurve live zu übertragen.

Jeder, der aufgeschreckt war durch die ersten Meldungen, konnte/sollte also mitsehen, wie ein Feuerball entstand, gleich neben dem schon himmelhohen Rauchfanal am ersten Turm. Seht her: Unsere Macht, euer Tod. Jetzt oder später, wenn an anderen Stellen Rauch aufsteigen wird. Noch heute spießen Rebellen abgeschlagene Köpfe auf, um jedem Sehenden zu zeigen, welche Macht sie haben. Tod, Terror, Schrecken sind nicht nur furchtbar real für die Opfer, sondern immer auch symbolisch - zur Einschüchterung, zur Abschreckung.

Dieses Todessymbol verband sich in New York mit einem Über-Symbol der amerikanischen Welt: den Doppeltürmen des World Trade Center. Landmarke, mächtige Demonstration eines way of life der westlichen Zivilisation. So technisiert, so stolz, so ausgedehnt im Grundriss, so hoch. Und damit ideal für den Plan, den fehlgeschlagenen ersten Versuch - mit dem Bombenlaster in der Tiefgarage - auf bislang unvorstellbare Weise zum Erfolg zu machen.

Ob die Täter selbst sich aber vorstellten, welche Bilder sie produzieren würden? Es werden diejenigen sein, die am meisten reproduziert werden in diesem Jahrhundert. Schon jetzt, in den ersten beiden Tagen, liefen sie in einer Endlosschleife. Erst in zwei Einstellungen, mit der halbverdeckten Perspektive bei der anfliegenden Maschine.

Dann, nachdem weitere Videos auch den Aufprall der ersten und der zweiten Maschine flächig zeigten, dazu auch den Austritt des Rumpfes, die Entstehung der Feuerwolke, fügten alle Sender dies zur Ikone des Grauens zusammen. Wieder und wieder gezeigt, in den Nachrichten, in den Zusammenfassungen, oft im Abstand von Sekunden.

Die Macht der Bilder - die Blumen des Bösen

Ob die Redaktionen wirklich wussten, was sie da taten? Bei RTL, in der Gesprächsrunde mit Günther Jauch, stand im Vordergrund ein Monitor. Unablässig, wie in der Videokunst, wurden dort die Katastrophenbilder wiederholt, auf dem Schirm eingerahmt von einer hellroten Maske.

Wer von den Machern/Zuschauern wird die Faszination einräumen, die sie herstellten und - wirklich? - immer wieder verlangten? Jeder wird sagen: Es ist grässlich, es ist die offensichtliche Zeugenschaft der Barbarei, es ist sehendes Mitleid, es ist optische Empathie. Und doch: warum diese ewige Wiederholung? Bei den Fensterstürzen war die Empfindsamkeit größer: Darf ich das zeigen? Wo beginnt die reine Spekulation auf die Sensation? Wo ist die Grenze erreicht, wo selbst die Dokumentation zum Augenkitzel wird? Es gibt diese Ahnung. Sonst wäre die Zurückhaltung - gottseidank - nicht so groß gewesen.

Wie schnell diese Grenze erreicht werden kann, zeigte die "Süddeutsche Zeitung". Die Feuilleton-Aufmacherseite beherrschte ein Schwarzweißfoto im extremen Hochformat, mit seitlich stark angeschnittener WTC-Fassade. Davor: ein stürzender Körper. Fast abstrakt, wie in einer merkwürdigen Entleerung des Geschehnisses, von dem doch alle Betrachter wissen.

"Bild" zeigte am Tag danach auf der Rückseite das vielleicht eindrücklichste Foto. Eines, das nicht spekuliert, sondern jedem klar macht - viel berührender als in der Live -Übertragung -, was die noch lebenden Opfer in den Hochhäusern durchlitten. Im unteren Teil das riesige klaffende Loch in der aufgeborstenen Fassade, dazu die Flammen in schon raumhoch lodernden Etagen, den aufsteigenden giftig schwarzen Rauch - und darüber, in den oberen Stockwerken, Menschen, die auf den Fensterbrüstungen stehen, mit Entsetzen schon in der Haltung.

Die Faszination/Entwertung in der Dauerschleife

Bilder, das lässt sich hier ablesen, sind oft nur wenige Millimeter oder nur wenige Millisekunden ihren möglichen Wahrheiten nah oder fern. Und sie entgehen auch nicht dem einfachen Gesetz der Inflation: massiert verwendet, werden sie entwertet - oder stehen auf einmal in einem ganz neuen Zusammenhang. Wie dem des Faszinosums. Oder dem ganz privater Assoziationen. Else Buschheuer, Fernsehmoderatorin, notierte in ihrem Internet-Tagebuch zu den Videos: "Es gibt eins, in dem man genau sieht, wie elegant das Flugzeug in den eisernen Leib des Turmes hineingleitet, leicht schräg, als wolle es im Bauch des Hauses eine Pirouette drehen...wie in Butter...und vollständig verschwindet."

Charles Baudelaire, erster Dichter der Moderne, hat dafür die immer noch prägende Formel gefunden: "Die Blumen des Bösen". Augenzeugen amerikanischer Nukleartests haben oft (mit sofortiger Abscheu gegen sich selbst) von der Schönheit der Atompilze berichtet. Filmaufnahmen lassen ahnen, was sie meinen. Welche moralische Instanz kann das innere Auge zensieren?

Ein Auge, das tausendfach trainiert ist, eingestimmt auf Muster. Als die deutschen Sender Action- und Horrorfilme in schneller Reaktion aus dem Programm nahmen, wussten sie um die Brisanz ihres Materials, eine Brisanz, die sonst leicht geleugnet wird: die Faszination vieler Menschen am Unglück, an ausgespielten Horrorszenarien. Viele Kommentare erinnerten deshalb natürlich sofort an die Hollywood-Kultfilme der großen Untergänge: "Independence Day" etwa als vorheriges Menetekel.

Die universelle Echtzeit der Katastrophe

Haben es die Menschen in fernsehglobaler Einheit so wahrgenommen, den jetzigen Untergang in Echtzeit? Vergleichbares gibt es ja nicht, nicht in der Dimension, nicht in dieser real ablaufenden größten Katastrophe, für uns in den Nachmittagsstunden, als beide Türme schon in Flammen standen und - über die Vorstellung von den im inneren Feuersturm qualvoll sterbenden Menschen hinaus - zu erwarten war, dass die Türme nicht standhalten würden. Dann das In-Sich-Zusammensinken: vor den millionenfachen Augen in der ganzen Welt.

Sind die inzwischen überall gezeigten Reporter-Fotos den bewegten Bildern überlegen, wenn es um das Innehalten, das konzentrierte Betrachten, die gefühlsmäßige Aufnahme, das Interpretieren, das Bewerten geht? Erlauben sie, in ihrer die Zeit einfrierenden Distanz, in ihrer größeren Abstraktheit, eine größere innere Nähe, eine andere Anteilnahme?

Wie wirkten die Bilder, als CNN am Dienstagabend, um Mitternacht, per "Videophone" die Leuchtspuren der Raketen über dem nächtlichen Kabel zeigte, die auflodernde Feuerkuppel im Hintergrund, vordergründig erklärt - weil die Kenntnis nur höchst unvollständig sein konnte - von Nic Robertson? Dass auch in dieser Realzeit-Abbildung erhebliche Symbolkraft steckte, belegte die schnelle Interpretation auf deutscher Seite: ein erster Gegenschlag der Amerikaner wurde vermutet, gegen alle Wahrscheinlichkeit von geographischer Lage und Zeit.

Die Routine der redaktionellen Bearbeitung

Den Fernsehsendern bleibt, das entspricht ihrer Logik, kaum ein anderer Weg, als das Offensichtliche zu transportieren, als live aufzunehmen und zu senden, was sich als Ereignis vollzieht; und dann, wenn die voraussichtliche Klimax erreicht ist, im engen zeitlichen Nachlauf mit der redaktionellen Bearbeitung, mit der professionellen Aufbereitung zu beginnen. Bericht, Einordnung, Erklärung, Hintergrund, Analyse.

Verständlich wäre, wenn bei dieser Dimension, bei dieser bislang größten aller weltweiten Terror-Katastrophen, die Berichterstattung jenseits aller Regeln begonnen hätte - allein schon, weil auch nüchterne Profis nicht ohne Gefühle arbeiten können -, mit einer Aufregung, die dem Apparat sonst inzwischen weitgehend fremd ist.

Doch setzte sich (auch weil die Aktualität sich am laufenden Ereignis definierte) sofort die inzwischen immer perfekter anzuwendende Professionalität durch: Auch im Ausnahmezustand beherrschten - mit natürlichen Schwankungen - alle Macher ihre handwerklichen Regeln. Falsch erschiene es, mit der jetzt noch geringen Distanz, hier einen Graben ziehen zu wollen zwischen der vielfach beschworenen öffentlich-rechtlichen Informationskompetenz und den Fähigkeiten der Privaten. Zu konstatieren ist vielmehr, in erster Linie: Trotz der geringeren eigenen Logistik, eines viel schwächer ausgestatteten Apparates blieben die Privatsender, was die äußeren Abläufe betrifft, in vertretbarer Nähe zum Geschehen.

Präsent und professionell: die Moderatoren

Was die Moderatoren betrifft, so bestimmen Plus und Minus oft die emotionalen Vorlieben. Ob Peter Kloeppel bei RTL nun den "Goldenen Gong" - also die herausgehobene Bewertung der Kollegen - verdient hat oder nicht: Auf jeden Fall traf er - und dies ist wegen der menschlichen Tragödie als Wissens-Hintergrund ganz wichtig - den richtigen Ton.

Aber sicher ist auch, dass Ulrich Wickert, Ulrich Deppendorf und Steffen Seibert, die bei ARD und ZDF unmittelbar nach dem Anschlag die lange, lange Strecke zu "fahren" hatten, mit einer sehr wachen Aufmerksamkeit, mit genau der richtigen Tonlage und mit der aus sicherer Routine kommenden Flexibilität die Zuschauer - die auch immer wieder wegen der zeitlichen Schübe am späten Nachmittag Orientierung brauchten - im sachlich gebotener Form unterrichtet haben.

Dietmar Ossenberg beim ZDF brachte, sofort erkennbar, ein spezielles Fachwissen aus seiner Nahost-Korrespondentenzeit ein; auffällig auch seine engagiert-trockene Art beim Aufbau der Fragen, bei der Überleitung - es stellt sich bei ihm das Gefühl einer hohen Präsenz ein. Jörg Schönenborn, mit der Moderation des ersten "Brennpunkts" betraut - also im Moment der noch größeren Offenheit, was Erklärungen und Hintergründe betraf -, löste diese Aufgabe ohne erkennbare Schwäche.

Bei den USA-Korrespondenten schienen Christiane Meier und Claus Kleber für die ARD genauer in ihren Beobachtungen und vor allem auch in der Formulierung als Eberhard Piltz für das ZDF - bei ihm klangen Redundanzen durch, Unsicherheiten, schwankende Zuordnungen von neu einlaufenden Nachrichten.

Was sich bei der dann einsetzenden Rundum-Berichterstattung (notgedrungen?) fast als Regel durchzog: Dass die Zusammenfassungen in den im Kurz-Rhythmus terminierten Nachrichtenblöcken das wiederholten, was zuvor in der laufenden moderierten Sendung zu den Gegenständen gehörte. Redundanz und schwindender Nachrichtenwert (zum Teil illustriert mit Bildern vom Vortag) gehören zu den Schwachstellen der monothematischen Verengung.

Die Rolle der Experten

Schwer zu bewerten: die Rolle der Fachleute. Dieses Experten-Siegel - hier zunächst bei den abgefragten Bereichen Nahost, Terrorismus, Technik, Islam, Psychologie, Fliegerei - wird in der Regel mit den einschlägigen Forschungsinstituten zusammengekoppelt. Das Publikum muss Vertrauen haben in die Auswahlmechanismen der Redaktionen: Die Voraussetzungen selbst werden in den Studio-Interviews oder in den größeren Gesprächsrunden nicht genannt. Was nach außen zählt, sind dann die Sicherheit im Auftreten, die Argumentationsfähigkeit, die präsentierte Seriosität. Glaubwürdigkeit stellt sich vor allem über die äußere Präsenz her - dies gehört zu den inneren Gesetzmäßigkeiten des Mediums.

Dazu gehört auch: die Studio-Umgebung, die Dekoration, beide werden mit zur Botschaft. Hier ist, in den Regelstrecken, die ARD am besten dran: Ihr Grundblau vermittelt immer noch am meisten Ernsthaftigkeit, eine vertrauenserweckende Sachlichkeit. Das neue ZDF-Design bewies, stärker denn je, alle Nachteile, die ihm schon vorher anhafteten: Es ist zu aufdringlich, spielt ins Halbseidene, ist mit seinem ewigen Moirée-Orange neben dem aufdringlichen Blau eine Seriositäts-Bremse.

Alles, was auch nur in die Nähe von bunt geht, wirkte bei diesem Ereignis noch deplatzierter als sonst. Das müssen sich auch RTL und Sat.1 überlegen, wenn sie jetzt so schnell ihre "Newskompetenz" im Selbstlob preisen. Aber auch das knallige Orange beim ARD- "Brennpunkt" ist völlig unangemessen - und kann angesichts der darin eingespielten Feuerbälle etwas ganz Obszönes bekommen.

Was auch obszön ist, wenn es um Existenzielles geht, das weiß jeder. Deshalb konnten auch die Privaten eigentlich gar nicht anders entscheiden, als auf Werbung zu verzichten (die positive Eigen-Anzeige von Günther Jauch am Schluss seiner Sendung auf die gute Tat war völlig überflüssig).

Störend und ablenkend: die Schlagzeilen-Laufbänder

Umso stärker fallen die Formen auf, welche Informationssendungen zerstören. Noch in die Kategorie obszön fällt das ununterbrochen laufende Börsen-Band bei n-tv (dass Börsen-Fragen - hier wie anderswo - diskutiert wurden, gehört zu den traurigen Konsequenzen des Crash im Börsenzentrum der Welt). In die Kategorie äußerst störend gehört die um sich greifende Unsitte (schlechtes Vorbild: CNN), über Schriftbänder Schlagzeilen in die laufende Sendung zu importieren. Das eine erschlägt das andere, Aufmerksamkeit wird abgezogen, und wirklich aktuelle Meldungen gehören ohnehin sofort auf den Moderatorentisch.

So achtbar also n-tv und auch der Neukömmling N24 sich geschlagen haben: In diesem Punkt sollten sie sich auf die deutsche Dramaturgie besinnen. Die allerdings auch an ungewohnten Stellen aufweicht. Denn selbst bei Maybritt Illners "Berlin Mitte" war auf einmal ein nerviges Schrift-Band zu ertragen: mit nichtiger Schlagzeile.

Richtig war sicher die Entscheidung der ProSiebenSat.1-Gruppe, ihren Nachrichtensender N24 mit seinen Programmen als zentrales Scharnier der Senderfamilie wirken zu lassen. Es ist sinnvoll, eine sich aufbauende fachlich-redaktionelle Kompetenz aufzunehmen und im guten Sinne auf Synergieeffekte zu setzen.

Nochmal zum Stichwort "obszön" in der Ableitung des vielerorts vorhandenen Medienzynismus: Es war die richtige Geste von VIVA (und sicher kein PR-Gag), zunächst auf das laufende Programm zu verzichten und dem jungen Zielpublikum eine Schwarzblende mit knappem Insert zur Begründung zuzumuten (ist es überhaupt eine Zumutung?).

Enthaltsamkeit - und ihre Aufhebung

Doch schon am nachfolgenden Tag liefen wieder Clips zum Schriftband ("Aus Respekt vor den aktuellen Geschehnissen und auf euren Wunsch setzen wir alle Sendungen vorübergehend aus"). Und wer am Freitagmorgen den Musiksender einschaltete - die amerikanische Konkurrenz MTV hatte ohnehin nichts Besonderes im Sinn -, der wurde, wie gewohnt, mit ekelhaften, widerwärtigen Gewaltinszenierungen zugeschüttet. Wer's nicht kennt, hier eine Empfehlung: "Ante up" der der Gruppe "M.O.P." - Aggression und Gewalt pur.

Über die dann sich einstellenden Assoziationen, was amerikanische Pop-Kultur, was den Universalismus dieser westlichen Lebensart betrifft, darüber wurde in den elektronischen Medien in den ersten Analyserunden nicht gesprochen. Obwohl es sicher, wie Peter Scholl-Latour in der "Bild"-Zeitung kommentierte, bei den Wurzeln des Hasses auch um eine Globalisierung geht, die als globale Amerikanisierung verstanden werden kann.

Bei "Friedman" war Scholl-Latour - der (hier immer höchst umstritten) schon vor zwanzig Jahren eine ähnliche These vertreten hat wie der jetzt häufig zitierte Huntington vom "Clash of Cultures" - dann auch im Fernsehen zu Gast. Die Haltung des Moderators war allerdings auf eindeutige und einschlägige Verurteilung zugespitzt; wie auch in der Runde "Vorsicht! Friedman" noch am Tag des Terroranschlags. Versuche der eingeladenen Übersetzerin Arafats und des kenntnisreichen Fernseh-Journalisten Christoph Maria Fröhder, hier - wenn denn schon Erklärungen gefragt waren - in den möglichen Hintergrund einzudringen, schnitt er ab: Weil er einen abstrakten Hass als absolute Ursache sah.

Überlegen in der Analyse: die Zeitungen

Was - über die äußere Anschauung hinaus - die tiefergehenden Analysen betraf, die Einordnungen, die Hintergründe: Da waren die Zeitungen ohnehin dem Fernsehen überlegen. Selbst wenn die FAZ gegen ihre Grundregel die Seite Eins mit einem Foto des Grauens aufmachte, lag der Wert eben doch in der abstrakteren Form des Wortes.

Ohne Bilderzwang (wenn auch natürlich einzelne eindrucksvolle Zeugnisse gezeigt wurden) gelang ihnen, über die Berichterstattung des Äußeren hinaus ein weites Spektrum aufzuzeigen. Auch in der Reflexion dessen, welche Konflikte sich in dem Anschlag spiegeln. Und welche gesellschaftlichen, historischen, philosophischen Perspektiven daran zu reflektieren sind. Die großen Qualitätszeitungen zeigten, auf welch hohem aufklärerischen Niveau, mit welcher Bandbreite und Genauigkeit Journalismus arbeiten kann, auch mit welcher Nachdenklichkeit bei der Kommentierung. Die FAZ fand - mit der abgedruckten Liste der Firmennamen im WTC - ein eindrucksvolles Mittel, um die Abstraktion des Todes aufzuheben: Die Tausenden Opfer kamen uns auf tief berührende Weise nahe.

Dass übrigens auch im Fernsehen, weit über die stets wiederholten Schleifen mit den Bildern der verschiedenen Ausbildungslager und der Person Osama Bin Ladens hinaus, eine ganz spezifische Hintergrund-Aufklärung möglich ist, zeigte ARTE in seinem Themenabend am Donnerstag. Wer dort beispielsweise Keely Purdues Dokumentation "Die Wurzeln des Hasses" (aus dem letzten Jahr) sah, der bekam einen wahrscheinlich ziemlich genauen Einblick in das, was die Antriebskräfte der islamischen Soldaten Gottes sein werden.

Die Bildschichten der Interpretation

Das allerdings sind filmische Zeugnisse, die sich dem engen Zeitraster der aktuellen Berichterstattung entziehen. Aber es ist notwendig, sie zu kennen - allein, um etwas über Mentalitäten zu erfahren. Was beispielsweise die zerstörerische Irrationalität des jetzigen Schutzlandes Bin Ladens angeht, so vermittelt die ARTE/La-Sept-Langzeitbeobachtung "Masoud, der Afghane" (1998) viele Einsichten - aber man muss sich nahezu drei Stunden lang in sie einsehen.

Wichtig wäre es, auch auf diese Bildschichten zurückgreifen zu können, sie als Hilfe zu haben, wenn es um die Interpretation des Unmittelbaren, des Bedrängenden geht. Jeder erinnert sich: Die aktive Instrumentalisierung des Bildmediums durch die amerikanische Armee im Golfkrieg, dieser gewollte Vorschein eines Videospiels - sie führte viele Menschen zunächst in die Irre. Wer, aus innerer Anschauung, aus eigener Vorstellungskraft ergänzen konnte, was die Raketen am Boden auslösten, der war gefeit.

Jetzt haben wir die passiven Bilder eines grausamen Leidens (die allerschlimmsten bleiben uns wahrscheinlich erspart), die gleichwohl auch gewollt waren: Auch sie sind (über das pure Ertragen hinaus) nur zu verstehen, wenn wir sie mit den Abermillionen Schichten unserer so fiktional bestimmten Bildkultur vergleichen.

Dass Moral - bei aller Besinnung, wie sie sich zeigt - teilbar ist, das beweist übrigens "Bild". Die Ausgabe am "Tag danach" prägte die Schlagzeile "Großer Gott, steh uns bei!". Heute sehen wir ein Gesicht. Dazu die Großbuchstaben: "Terror-Bestie - wir wünschen dir ewige Hölle". Drei Tage liegen dazwischen.


Dieser Artikel erschien am 15. September 2001 in epd medien, Nr. 73.

Wir danken Autor und Redaktion für die Genehmigung zum Abdruck
© Uwe Kamman 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 14/2001
https://www.theomag.de/14/uk1.htm

epd medien, Nr. 73, 15. September 2001