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Magazin für Theologie und Ästhetik


Videoclips IX

Das Floß der Medusa oder: Überlegungen zur Rezeption von Videoclips

Andreas Mertin

Zeichenarsenal

Es ist eine auch unter Medienwissenschaftlern umstrittene Frage, wie Videoclips eigentlich wirken, das heißt, wie viel von dem Zeichenarsenal, das Produzenten und Regisseure kunstvoll in die Clips hineinkopieren, von den vor allem jugendlichen Rezipienten eigentlich "verstanden" wird. Denn ganz offensichtlich pflegen zahlreiche Clips der aktuellen Musikszene - wie auch viele andere Werke der populären Kultur der letzten zehn Jahre - eine höchst komplexe Anspielungs- und Zitationskultur, die eine mehr als durchschnittliche Bildung voraussetzt, um sie zu dechiffrieren.

Was von den "Links" des Videoclips zu "Until it sleeps" von Metallica auf die Bilderwelt von Hieronymus Bosch (s. Abb.), Andrea Mantegna, auf die christlich interpretierte Heilsgeschichte wird also im Rezeptionsprozess eigentlich realisiert? Warum all die Mühe, die etwa Madonna sich macht, ihre Clips mit Versatzstücken der Kulturgeschichte anzureichern, wenn doch kaum einer der Jugendlichen den so gelegten Spuren nachzugehen vermag - und dies selbst für kulturgeschichtlich Gebildete noch ziemlich mühsam ist? Meine Vermutung lautet, dass es zunächst weniger auf die Rezeption der dargestellten Inhalte, als vielmehr auf deren Stimmigkeit ankommt.


Wahrnehmungsgänge

Und tatsächlich lässt sich derartiges auch für andere kulturgeschichtliche Werke belegen. Das wurde mir deutlich, als ich das Kapitel "Die Schiffbrüchigen" in Hans Beltings "Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst" las. Dort beschreibt Belting Géricaults "Das Floß der Medusa" und seine Wirkungsgeschichte.

Dieses Bild ist mir seit frühester Jugend vertraut, ich habe es in Hunderten von Reproduktionen, aber auch im Original im Louvre gesehen. Aber erst die Lektüre des Textes von Belting hat mir deutlich gemacht, dass ich mich nie wirklich gefragt habe, was das Bild eigentlich inhaltlich darstellt, was es zu "bedeuten" hat. Ich habe niemals versucht, mir jenen Titel genauer zu erklären, der doch dringend erklärungsbedürftig ist. Handelt es sich bei der Darstellung um eine mythische Erzählung, ein historisches Ereignis, eine bildgewordene Allegorie?

Wahrgenommen habe ich das Kunstwerk zunächst und vor allem als unmittelbar rezipierbare Darstellung, als "zeitentbundene Kunst" (Belting). Dass hier ein konkret benennbares historisches Drama, zudem mit politischer Zielsetzung dargestellt ist, hatte für meine Wahrnehmung offensichtlich keine oder doch nur eine untergeordnete Bedeutung. Aber - wie auch die Wirkungsgeschichte des Bildes bis in die Kunst der Gegenwart und sogar die Populärkultur beweist - steckt in dem Bild und seiner künstlerischen Bearbeitung mehr als das Drama der von ihren Offizieren verratenen und ausgesetzten Menschen.

Bei aller Detailtreue, zu der sich Géricault bei seiner Darstellung verpflichtet sah (er hat in seinem Atelier die komplette Szene nachgebaut und sich dabei von Überlebenden des historischen Dramas beraten lassen), geht das Bild aber weit über die konkreten Ereignisse hinaus, wie Peter Weiss in der "Ästhetik des Widerstands" betont: "Wie vom Blick eines Ertrinkenden war das Floß gesehen, und die Rettung war so entlegen, dass es schien, als müsse sie erst erdacht werden. Eine Täuschung, eine Halluzination konnte diese auftauchende Hilfe sein. Aus der vereinzelten Katastrophe war das Sinnbild eines Lebenszustands geworden".

Wahrgenommen werden kann Géricaults Werk also auch losgelöst vom konkreten Geschehen als eine Art Sinnbild und erst viel später (vielleicht aber auch nie) erschließt sich dem Betrachter in der genaueren Annäherung der historische Kontext, der Bedeutungsgehalt des Werkes bis hin zu seinen politischen Implikationen, das heißt der Kritik an der Monarchie, die ihre Untertanen im Stich lässt. Um aber vom Bild beeindruckt und fasziniert zu sein, ist zunächst der konkrete Anlass offensichtlich gar nicht so wichtig.

Wirkungsästhetik

Vermutlich ist der Wahrnehmungsvorgang gegenüber Videoclips bei manchen Jugendlichen ein ähnlicher. Wie ich anlässlich von Robbie Williams Clip "DJ Rock" und seiner Rezeption in Heft 8 des Magazins für Theologie und Ästhetik geschrieben habe, gehört die analytische Deutungsarbeit nicht zu den Stärken der Jugendlichen. Sie nehmen zwar relativ genau wahr, was sich im Clip abspielt, achten zudem auf den Gesamteindruck, die (Medien-) Wirkung, das "Beeindruckende" und das "Neuartige" des jeweiligen Clips, aber die Mühe einer Dechiffrierung und Deutung machen sie sich zunächst nicht.

Das ist insofern auch folgerichtig, weil Clips natürlich nicht für kulturhermeneutische Deutungsarbeit gemacht sind, auch wenn sie - wie ich hoffe wiederholt gezeigt zu haben - sich hervorragend dafür eignen. Vielmehr wollen sie eine Stimmung erzeugen: "Wie Lyrik, die Bilder oder Wörter aus vielfältigen kulturellen oder mystischen Quellen verwendet, um Resonanz zu erzeugen, verwenden diese Videos ein visuelles Sample aus der Mediengeschichte, um auf das Publikum zu wirken. Je schneller und vielfältiger überlappt das Sample ist, desto tiefer die potentielle Wirkung" (Douglas Rushkoff). Jedes Bild der Geschichte, das sich dazu einsetzen lässt, wird konsequent genutzt und dekontextualisiert verwendet. Dennoch bleibt die dabei notwendig gelegte Spur auf das verwendete Material erhalten. Primäres Interesse aber dürfte die Stimmigkeit, der Gesamteindruck bzw. die Wirkung des aktuellen Produkts sein.

Kultureller Selbstanspruch

Aber die "Stimmigkeit" des Samplings kann nur als ein - wenn auch primärer - Aspekt der dichten Codierung mancher Videoclips angesehen werden. Man wird darüber hinaus berücksichtigen müssen, dass die Selbstansprüche der Produzenten immer weiter steigen. Am Beispiel der Zeichentrickserie "Die Simpsons" verweist der amerikanische Medienkritiker Douglas Rushkoff darauf, dass etwa zwei Drittel der Autoren einen Harvard-Abschluss haben, weshalb die Serie eine der gebildetsten im Fernsehen sei. Neben der auf die Jugendlichen in irgendeiner Form wirkenden Dichtheit des visuellen Produkts, gilt es also auch, den kulturellen Selbstanspruch der Medien-Produzenten in Anschlag zu bringen. Diese verstehen sich schon lange nicht mehr als reine Erfüllungsgehilfen einer konsumorientierten Kulturindustrie, der für den Absatz jedes Bild aus Geschichte und Gegenwart recht ist. Vielmehr entwickeln sie ein eigenes kunstvolles und anspielungsreiches Diskurs-Universum, bei dem weniger der einzelne "Link" als vielmehr die labyrinthartige Verknüpfung das Besondere ist.

Für den Film Matrix lassen sich ohne Schwierigkeiten analoge Beobachtungen machen. Auch hier ist die Verweisstruktur so dicht, dass sie nicht mehr als reines Rätselspiel, das heißt als De-Chiffrierungsangebot an die Rezipienten gelesen werden kann, sondern als eine Art Selbstzweck angesehen werden muss. Nicht die De-Chiffrierung (im Sinne einer Lösung) ist das Ziel, sondern die semantisch-ästhetische Dichte die Botschaft.

Schon die Zeichentrickserie Asterix und Obelix konnte zunächst als ein derartiger - zudem deutlich markierter - kulturhermeneutischer Diskurs gelesen werden. Im Internet finden sich einige Seiten mit kunsthistorischen Entschlüsselungen einzelner Panelen, wozu u.a. auch eine Übernahme von Géricaults "Das Floß der Medusa" gehört. Aber auch hier wird man davon ausgehen können, dass in der Regel der "Link" auf das Werk von Géricault nicht realisiert wird. Offensichtlich machte es den Autoren Spaß, vielfach derartige Konstellationen zu erzeugen. [Vielleicht zielten sie aber auch auf Lehrer als deutungsgewohnte Leser.]

Vielfältige Lesarten

Wie kommt es aber dann, dass derartige populärkulturelle Produkte trotz ihrer strapazierenden Dichte bei den Rezipienten nicht nur wirken, sondern auf Zustimmung stoßen? Vielleicht liegt es daran, dass zunehmend unsere Kultur in ihren einzelnen Produkten Wahrnehmungsangebote für ganz unterschiedliche Wahrnehmungsperspektiven miteinander verknüpft.

Umberto Eco unterscheidet in seinem Aufsatz "Serialität im Universum der Kunst und der Massenmedien" zwei Leser-Ebenen: "Jeder Text setzt einen doppelten Modell-Leser (sozusagen einen naiven und einen 'gewitzten') voraus und konstruiert ihn. Der erste benützt das Werk als eine semantische Maschine und ist ein Gefangener der Strategien des Autors, der ihn Stückchen für Stückchen an einer Reihe von vorhersehbaren Ereignissen und Erwartungen entlang führt. Der zweite wertet das Werk als ästhetisches Produkt, und er freut sich an den eingelagerten Strategien, die einen Modell-Leser der ersten Stufe erschaffen sollen".

Am Beispiel von Madonnas "Like a prayer" habe ich an anderer Stelle die Überlegungen Umberto Ecos aufnehmend drei Leser-Ebenen unterschieden. Neben einer unmittelbar naiven, gibt es eine aufgeklärte und schließlich eine gewitzte Lesart von Videoclips. [Nebenbei: Naiv muss dabei nicht als schlechte oder dumme Lesart gewertet werden, wir alle pflegen - etwa bei Krimis - diese Lesart.] Naiv wäre die "normale" Lektüre eines Clips, bei der die Rezipienten auf die von den Produzenten hergestellte Stimmigkeit reagieren, sich in die vom Clip erzeugte Atmosphäre begeben und zum Teil darin aufgehen. Aufgeklärt wäre eine Lesart, die den von den Produzenten zur Erzeugung der Stimmigkeit verwendeten Materialien nachgeht, den ausgelegten Spuren und den kulturellen Fragmenten nachgeht, sie de- und rekonstruiert. Deutlich ist, dass diese beiden Lesarten "Gefangene der Strategien des Autors" bleiben. Gewitzt wäre schließlich jene Lesart, die die in die Clips eingebauten Medienstrategie noch einmal als eigenen Wert bedenken und genießen.

Es ist deutlich, dass heutige Jugendliche zwischen der ersten und der dritten Lesart changieren. Einerseits reagieren sie auf die Atmosphäre eines Clips, andererseits goutieren sie als mit den Medien aufgewachsene Generation die im Clip zur Geltung gebrachte Medienstrategien, ohne ihnen en Detail nachzugehen, oder sie explizit zu dechiffrieren. Wie beim Floß der Medusa kann man sich in die Stimmung des Bildes begeben und ihr nachspüren und zugleich über die Mittel nachdenken, mit der ihr Urheber diese Stimmigkeit erreicht. Das alles kann ohne Reflexion der zugrundeliegenden Geschichte geschehen. Trotzdem verstehe ich mehr von Géricaults "Meisterwerk", seitdem ich auch um seine historischen Hintergründe weiß.


© Andreas Mertin 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 14/2001
https://www.theomag.de/14/am42.htm