Idiome des Widerstands

So erlebte ich die Documenta 14. Ein Dokument

Andras Mertin


Der folgende Text wurde auf der Tagung Die documenta 14 - Ein Blick zurück nach vorn" der Ev. Akademie Hofgeismar vom 8.-10. Juni 2018 gehalten. Weil er exemplarisch deutlich macht, welchen Schwierigkeiten sich noch jede Documenta der letzten Jahrzehnte ausgesetzt war, schalten wir ihn den Stellungnahmen und Beobachtungen zur Documenta fifteen vor. Der Text wurde nur marginal überarbeitet.


Meine sehr geehrten Damen und Herren,
als mich Eveline Valtink, Kerstin Vogt und Volker Schäfer im Frühjahr 2018 um einen konkreten Titel für meinen heutigen Impuls fragten, antwortete ich Ihnen per Mail, ich würde den Vortrag gerne nennen:

Subjektive Wahrnehmungen der ‚Dispositive parrhesiastischer Affektivität‘
Notizen von der Documenta 14.

Umgehend kam eine Antwort, die lautete: Das geht nicht! Bitte mach einen zweiten Aufschlag. Da half es auch nicht, dass ich darauf verwies, dass es sich doch um ein wörtliches Zitat aus dem South-Magazin, dem Vorbereitungsheft der Documenta 14, handele und es merkwürdig sei, wenn man auf einer rückblickenden Tagung über die Documenta im Vortrags-Titel nicht einmal deren Texte zitieren könne. Schließlich könne man doch im Magazin South lesen:

"Die Arbeit von Künstler_innen besteht heutzutage hierin: Dispositive parrhesiastischer Affektivität herzustellen, die in der Lage sind, der Ikonizität und den festen Werten zu widerstehen, das heißt den semiotischen Dispositiven, die an der Macht sind und den kinematischen Avatar und das verschuldete Subjekt produzieren."[1]

Aber, ich fand keine Gnade bei den Veranstaltern und so habe ich nun meinen Impulstitel umformuliert und zugleich etwas anders ausgerichtet. Ich nenne ihn, wie auch im Programm ausgedruckt:

Idiome des Widerstands. So erlebte ich die Documenta 14.

Und das ist ein etwas anderer Akzent. Wäre es beim ursprünglichen Titel geblieben, wäre ich der Frage nachgegangen, ob ich auf der Documenta 14 den von ihrem Kuratorenteam beschworenen Dispositiven parrhesiastischer Affektivität wirklich begegnet bin, ob sich also unter all den Artefakten, die ich während meiner etwa 25 Tage umfassenden Erkundungen der Documenta 14 mit verschiedenen Menschen und Gruppen gesehen habe, tatsächlich mit solchen Werken konfrontiert wurde, die die Subjekte in die Lage versetzen, den semiotischen Dispositiven, den festen Werten zu widerstehen und sie vielleicht sogar zu transformieren. Und da wäre meine Antwort nicht zuletzt im Blick auf die Reaktionen der vielen Menschen, mit denen ich auf der Documenta 14 unterwegs war, außerordentlich skeptisch gewesen. Solch wirkungsmächtige Kunst haben wir nicht entdeckt. So aber, unter der neuen Überschrift, frage ich nach dem, was sich mir und denen, die zusammen mit mir auf der Documenta 14 waren, während der vielen gemeinsamen Spaziergänge als Erkenntnis erschlossen hat, was also auch in fünf oder zehn Jahren noch meinen / unseren Eindruck von dieser Documenta 14 bestimmen wird. Und das werden ganz sicher nicht die Dispositive parrhesiastischer Affektivität sein, sondern die im jetzigen Titel benannten „Idiome des Widerstands“.

Ich glaube, dass die Documenta 14 eine bessere mediale Resonanz gehabt hätte, wenn dieses Motiv, das Adam Szymczyk ja sehr am Herzen lag, wie er mehrfach selbst bekundet hat, stärker hervorgehoben und vor allem erläutert worden wäre – mit anderen Worten – wenn die Vermittlung schon vorab besser gelungen wäre.

Die Idiome (die Spracheigentümlichkeiten, die Regiolekte und Soziolekte) des Widerstands, die ich rückblickend für mich als bedeutsames Thema dieser Documenta 14 wahrnehme, lassen sich meines Erachtens gut mit dem verbinden, was der französische Philosoph und Kunsttheoretiker Jacques Rancière mit der Frage „Ist Kunst widerständig?“[2] ausdrückt. Im Prozedere sind Adam Szymczyk und Jacques Rancière vermutlich äußerst kontrovers, vor allem in der Frage: Wann und wodurch ist Kunst widerständig? Dennoch sehe ich zumindest gemeinsame Fragestellungen. Was Adam Szymczyk mit Jacques Rancière verbindet ist m.E. die Frage: Was kann das sein, die Ästhetik des Widerstands?[3] Ihre Antworten darauf fallen freilich sehr unterschiedlich aus.


Der Erwartungshorizont

Aber zunächst möchte ich noch einen Schritt zurücktreten, sozusagen an den Anfang gehen. Als hermeneutisch ausgebildeter Theologe bin ich es gewohnt, sowohl vorab wie rückblickend nach dem Erwartungshorizont zu fragen, damit ich überhaupt bestimmen kann, was mich überraschte, was mich enttäuschte und was mir positive Erkenntnisse bescherte. Zu leicht ist man ansonsten in seinem Urteil vom begleitenden Raunen des feuilletonistischen Zeitgeistes beeinflusst.

Der Erwartungshorizont bildet sich zunächst und vor allem aus den bisher besuchten Documenta-Veranstaltungen bzw. für die, die zum ersten Mal kommen, aus dem Mythos oder man kann auch sagen dem Narrativ Documenta.

Anders als es die jeweiligen Documenta-Leitungen beteuern müssen, ist die Documenta natürlich nicht jedes Mal neu, sondern ordnet sich ein in die Geschichte dieser Ausstellung seit 1955.

Meine eigene Haltung zur Documenta bestimmt sich also durch jene Erfahrungen, die ich seit 1982 auf dieser Ausstellung hatte. Jeder hat seinen persönlichen Mythos, sein persönliches Narrativ Documenta. Das ist das Auffällige im Gespräch mit den Leuten, mit denen man auf einer Documenta unterwegs ist.

Es gibt Menschen, die waren 15 Jahre lang kontinuierlich Besucher der Documenta und sind dann aufgrund einer einzigen enttäuschenden Erfahrung 10 Jahre lang nicht mehr hingegangen. Ich saß 2017 auf einem der Liegestühle am Rande des Friedrichsplatzes neben einem Kasselaner, der alle seine Gäste konsequent zur Documenta schleppt, sie selbst aber seit 10 Jahren nicht mehr betreten hat, weil er sich einmal maßlos über sie geärgert hatte. Das ist Leidenschaft.

Es gibt aber auch Enthusiasten, die jede Documenta besuchen, weil die Documenta gegenüber all den anderen konkurrenten Veranstaltungen weiterhin etwas ganz Eigenes hat. Und es gibt Kultur-Touristen, die sich tatsächlich noch am Feuilleton orientieren und irgendwann nachlesen, ob man nun dagewesen sein muss oder nicht.

Mit der Zeit entwickeln sich bestimmte individuelle und kollektive Riten. Dass vor (und während) jeder Documenta, die ich bewusst wahrgenommen habe, vom Feuilleton das mögliche Scheitern der Ausstellung verkündigt wird, gehört zu diesen Riten.

„Ich möchte lieber nicht.
Über die Herrschaft der Experten und das Verschwinden der Künstler“.

Wann stand das noch einmal in der ZEIT? 2017 – 2012 – 2007 – 2002? Nein, es war der 26. September 1997 und stammt aus der Feder von Ulrich Greiner.[4] Man muss deshalb nicht alles glauben, was im Vorfeld und während einer Documenta geschrieben wird, sondern man darf sich Freiraum für eigene Erfahrungen lassen. Und auch das gehört zum Erfahrungsraum Documenta: dass Feuilletonisten mit der Documenta alt werden und deshalb die jeweils kommende Documenta nur als Fortschreibung der vertrauten Logik begreifen können.

Der Erwartungshorizont bildet sich zum zweiten aus den Lektüren jener Texte, die die Kuratorinnen und Kuratoren uns zur Vorbereitung ans Herz legen. Diese Lektüren sind in den letzten 15 Jahren etwas ausgeufert, aber 2017 war es eine wirklich erschreckende Erfahrung. Ich meine nicht, dass die Texte schlecht oder nicht durchdacht gewesen wären. Ich meine vielmehr die Erfahrung, in welcher Distanz diese Texte zur Lebenswelt der normalen Documenta-Besucher standen. Da gab es kaum mehr Schnittstellen zum allgemeinen Kunstpublikum als Adressaten der Ausstellung.[5]

Hätte ich nur die vorbereitenden Texte gelesen, hätte ich die Documenta nicht besucht – eine Konsequenz, die viele meiner Freunde aus der Kunstszene tatsächlich gezogen haben. Aber diese Schlussfolgerung war, wie ich rückblickend meine, ein Fehler. Es gibt eben Differenzen zwischen Entwürfen bzw. Skizzen und ihrer Realisierung.

Den Erwartungshorizont bestimmt darüber hinaus mehr, als vielleicht mancher Kasselaner glauben mag, das Geraune, das man vorab aus der städtischen „Kasseler Szene“ zur jeweils kommenden Documenta hört. Dieses Rauschen bildet sich aus den durchgesickerten Informationen der beteiligten Guides (d12), Worldly Companions (d13) oder eben Choristen (d14).

Es speist sich aus den Informationen über die Inbesitznahme städtischer Immobilien durch die Documenta. Und diese Informationen verbreiten sich sehr schnell in der Szene. Die Gerüchte müssen nicht stimmen, sie sind oft nur Hörensagen, aber sie bestimmen einen Teil der Atmosphäre.

Den Erwartungshorizont bestimmen natürlich auch die Vorab-Berichte und vor allem die ersten Kommentare der überregionalen Feuilletons und der lokalen Kunsthistoriker. Aber man überschätzt das leicht und auch das deutsche Feuilleton und die lokalen Kunsthistoriker überschätzen sich leicht. Sicher, die vernichtenden Urteile von Hanno Rauterberg[6] und seinen Kollegen[7] sind auch meinungsbildend, aber wenn sie publiziert werden, ist die Entscheidung, ob man zur Documenta fährt, bei vielen schon gefallen. Nur wer noch zögert, ob er wirklich nach Kassel fahren soll, wird davon beeinflusst. Ansonsten ist man eher gespannt darauf, ob das eigene Urteil mit dem der Kunstkritiker der großen Feuilletons übereinstimmt. Da Kunst nach einem berühmten Diktum von Bazon Brock zur Documenta IX, Gemeindebildung durch Differenzerzeugung ist, jede Gemeinde – nicht nur die kirchlichen – aber auch von ihren Unheilspropheten lebt, gehört die zugespitzte feuilletonistische Kritik zum notwendigen Erwartungshorizont. Nur ein vorab publiziertes affirmatives Lob der Documenta ließe das Schlimmste befürchten: Eine Bundesgartenschau der Kunst.

Wenn man nicht zum ersten Mal eine Documenta besucht, weiß man, dass all diese Faktoren mit der Realität der jeweiligen Documenta nur bedingt etwas zu tun haben. Aber sie bilden den Horizont, vor dem sich Enttäuschungen, Erfahrungen oder auch Glücksgefühle entwickeln. Ohne diesen Mythenrahmen, ohne dieses Narrativ Documenta kämen keine 800.000 Besucher aus aller Welt, um sich ausgerechnet in Kassel Kunst anzuschauen. Das heißt aber auch: an diesem Mythos muss man arbeiten.


Vorbereitung

Die Documenta 14 machte es einem allerdings außerordentlich schwer, sich konkret auf das vorzubereiten, was dann realisiert wurde. Das lag zum einen an der bereits erwähnten sehr dichten Sprache der Kuratorinnen und Kuratoren und jener Texte, auf die sie sich beriefen. Man musste schon über Jahre philosophische und soziologische Texte studiert haben, um den Verweisen, die in den einzelnen verwendeten Begriffen steckten, nachgehen zu können. Es ist irgendwie merkwürdig, dass das Vermittlungsprogramm der Documenta für die Besucherinnen und Besucher immer erst mit dem ersten Tag der Documenta beginnt (den kommerzialisierten Führungen) und nicht schon in den vorbereitenden Texten zum Tragen kommt.[8]

Diese Problematik offenbart sich auch in anderen Details. Zu den Vorbereitungen der letzten Do­cu­menta-Veranstaltungen (aber auch der Biennale in Venedig und anderen, sich über mehrere Örtlichkeiten erstreckende Kunstveranstaltungen) gehörte immer das Herunterladen einer App auf das Smartphone, die es einem ermöglichte, nicht nur vorab einen groben Überblick zu bekommen, sondern die einen vor Ort auch per GPS durch die Stadt navigierte. Angesichts der zahlreichen Veranstaltungsorte ist das auch notwendig. Eine derartige App gab es dieses Mal nicht und erst nach und nach erschloss sich, warum das so war: Weil wir der Spaziergangs-Wissenschaft folgen sollten, weil wir flanieren, entdecken, erkennen und nicht gesteuert werden sollten. Aber wie in schlechtester Pädagogik wurde man darüber nicht in Kenntnis gesetzt, nicht aufgeklärt, sondern sozusagen hineingestuppst. Was bei der Hunde-Erziehung nicht funktioniert, sollte man erst recht nicht mit Menschen machen.

Zu den verstörenden Details gehörte auch, dass man zumindest in der ersten Woche der Documenta einen Orientierungsplan in die Hand gedrückt bekam, der einem Schnittmusterbogen ähnlicher war als einem Stadtplan. Das ist vermutlich ebenfalls erzieherisch gedacht gewesen und ist im Ergebnis nur ignorant gegenüber den Menschen, mit denen man es zu tun hat. Nicht umsonst wurde das schnell geändert.


Persönliche Motivation

Während der Vorbereitung hatte mich dann aber doch etwas an den Texten von Adam Szymczyk bewegt / interessiert / motiviert, dass ich aus den Statements vorheriger Documenta-Leitungen so noch nicht kannte, nämlich eine geradezu unbefangene Lektüre und Zitation von Texten der he­bräischen Bibel. Wer sich noch an die Idiosynkrasie von Carolyn Christov-Bakargiev gegenüber dem Thema Religion während der Documenta13 erinnert,[9] konnte dieses Mal durchaus überrascht sein. Im vierten Heft des Magazins South schreibt Szymczyk,

[Wir richten] unsere Aufmerksamkeit lieber auf Sprachen – fast ausgestorbene oder vergessene, unterdrückte oder aus dem Nichts erschaffene. Denn diese werden dem, worum es hier geht und was wir einlösen wollen, viel besser gerecht als das hinlänglich bekannte Vokabular der Kunst-Events …

Das sind für einen Theologen in einer Zeit, in der wir selbst um die richtigen Worte für eine Bibel in gerechter Sprache[10] ringen, vertraute Sätze: wie kann man das fast ausgestorbene oder vergessene, unterdrückte oder aus dem Nichts Erschaffene zu Wort kommen lassen? Wie kann Gerechtigkeit Sprache werden und wir kann Sprache gerecht sein? Dazu zitiert Szymczyk aus einem Gedicht des mexikanischen Dichters Ulises Carrion:

Nicht dass es der neuen Kunst an Leidenschaften mangelt.
All ihr Blut fließt aus der Wunde, die die Sprache den Menschen zugefügt hat.
Und es ist ebenso die Freude daran, fähig zu sein,
etwas mit allem, mit jedem, mit fast nichts, mit nichts auszudrücken.

Adam Szymczyk folgert aus diesem Gedicht:

Mit fast nichts, mit nichts haben wir uns entschieden, … ‚die Wunde, die die Sprache den Menschen zugefügt hat‘ genauer anzusehen. Diese Wunde beschäftigte uns beim Schreiben und Lesen ... Die Gegenwart dieser Wunde im Leben der Leute ist das, worum es in der Documenta 14 eigentlich geht. Immer wieder mussten wir an diese Sprache als Wunde denken …[11]

Man kann darüber streiten, wie Szymczyk das später umgesetzt hat, aber für den Moment fand ich den Gedanken faszinierend, dass Szymczyk „die Wunde, die die Sprache den Menschen zufügt“ untersuchen und bearbeiten will. Und genau in diesem Zusammenhang kommt Szymczyk auf die hebräische Bibel zu sprechen:

„Erinnern wir uns an diese Zeilen aus dem Buch Hesekiel. ‚Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, iß, was du vor dir hast! Iß diese Schriftrolle und gehe hin und rede zum Hause Israel! Da tat ich meinen Mund auf, und er gab mir die Rolle zu essen.‘
     Im Psalter werden die Worte Gottes ‚süßer als Honig‘ genannt: ‚Sie sind köstlicher als Gold und viel feines Gold. Sie sind süßer als Honig und Honigseim.‘
     Also kann Sprache – da man mit ihr geboren wird, oder sie wiederfindet, oder eine neue schafft, eine Art Lexikon – ein Nährmittel sein, Hunger dagegen eine Art von Widerstand.“[12]

Tatsächlich kann genau das, also das Interesse an möglichen „Idiomen des Widerstands“, an den verschiedenen Formen der Sprache, an den Regiolekten und den Soziolekten und an der Sprachverweigerung, ein Schlüssel für die Documenta 14 sein.

Und nicht zufällig haben auch die schärfsten Kritiker dieser Documenta positiv immer auf jene Kunstwerke verwiesen, die den Idiomen des Widerstands, also verschiedenen Formen und Traditionen von Sprache und ihren Verletzungen sowie ihren Verästelungen nachgingen.

Wenn also Hanno Rauterberg in seinem inzwischen schon legendär-berüchtigten ZEIT-Artikel über den „Tempel der Selbstgerechtigkeit“ [13] schreibt:

Natürlich gibt es auch Momente des Eigensinns, ob bei Roee Rosens wunderbar absurder Ode an den Staubsauger oder auf Romuald Karmakars Ausflug in die Welt archaischer Chorgesänge

… dann greift er nicht zufällig zwei für die Frage der Idiome des Widerstands zentrale Werke heraus und bestätigt so eigentlich das Konzept von Adam Szymczyk – zumindest im Blick auf den Umgang mit Sprache(n) in der Kunst. Rauterberg hätte sich eben nur mehr Beispiele dieser Art gewünscht. Aber vielleicht hat er nur nicht genau genug hingeschaut.

Was ich inzwischen nicht mehr hören kann, um auch das zu sagen, ist die ständig mit den gleichen Formeln wiederholte Kritik der letzten Documenta. Meines Erachtens schafft sie zuerst einen Popanz einer ideologischen Konstruktion, um diesem dann sein Nicht-Gelingen nachzuweisen.

Stattdessen wäre es besser, zunächst einmal zu schauen, ob sich nicht in den und mit den präsentierten Werken ein eigener Mythos dieser Documenta erarbeiten bzw. re-konstruieren lässt. Konkret müsste also gefragt werden:

Was erzählen jene Werke, die einen ansprechen, die einen zum Verweilen zwingen und wie lassen sie sich zu einem übergeordneten Narrativ verbinden?

Die Kritik vieler Kollegen an der Documenta finde ich billig. Die Kuratorenschelte a la Stefan Heidenreich – ich finde sie platt. „Schafft die Kuratoren ab“ – fordert er. Dabei versteht er Kuratorentätigkeit überhaupt nicht. Nein, Kuratoren sind keine Diktatoren, keine Autokraten, sondern Inspirierte, Interessierte, Inszenierer - Moderatoren, Vermittler, Übersetzer. Das kann mal gelingen und kann mal schief gehen. Das weiß jeder.


Intermezzo

Vor einem Monat war ich auf einer Tagung, bei der Museumsdirektoren, Kunstprofessorinnen, Kuratorinnen, also Kunstexpertinnen und Experten, einen Rückblick auf die Documenta 14 warfen und nach den Konsequenzen für das Betriebssystem Kunst fragten. Ihnen gegenüber saßen etwa 40 Kunst-Unterrichtende, die fast alle mit ihren Schülerinnen und Schülern auf der d14 gewesen waren. Die Expertinnen und Experten analysierten, und das ist auch ihre Aufgabe, das Programm der Documenta 14, ordneten es ein in deren Geschichte, verbanden Programmatik mit ausgewählten Exponaten und kamen dann vorwiegend zu sehr kritischen Urteilen.

Durchaus konträr war die Tendenz bei den Kunstunterrichtenden. Diese waren mit ihren Schülerinnen und Schülern auf der Documenta 14, erkundeten die Werke, diskutierten mit Choristen – brauchten sich aber kaum darum zu kümmern, was Adam Szymczyk ihnen programmatisch mit all dem mitteilen wollte. Sie mussten sich vielmehr ganz kon­­kret eine Kunstwelt erobern. Und sie waren mit dem, worauf sie stießen, weitgehend zufrieden – bei aller Kritik im Detail. Sie stritten sich mit ihrem Choristen, sie lernten aber so auch andere Perspektiven kennen. Und nach den zwei Tagen Documenta 14 reisten sie zufrieden wieder ab – so erzählten es mir mehrere der Unterrichtenden. Diese beiden Perspektiven muss man unterscheiden.

  • Also einerseits die Frage, ob die verkündete ‚Dogmatik‘ der Documenta 14 mit den gezeigten Werken in Übereinstimmung steht und ob diese ‚Dogmatik‘ zureichend durchdacht ist und repräsentativ für den Zustand unserer Welt und des Betriebssystems Kunst.
  • Andererseits die Frage, was die Documenta denen gebracht hat, die sich jenseits der Dogmatik der d14 mit Kunst auseinandersetzen wollten. Sie fragen nach dem ästhetischen Regime der Kunst, nicht nach dem ethischen.

Mich interessiert im Folgenden vor allem das Zweite, die Perspektive der Rezipienten, des Publikums der Documenta 14.


Idiome des Widerstands

Im Folgenden möchte ich deshalb einen Spaziergang über die d14 unter dem Aspekt ihrer als gelungen erscheinenden Momente im Sinne der Idiome des Widerstands unternehmen. Einer meiner akademischen Lehrer sagte einmal, die wahre Sünde im Paradies wäre nicht gewesen, zur verbotenen Frucht zu greifen, sondern all die phantastischen Möglichkeiten drum herum nicht wahrgenommen zu haben. Daran will ich mich halten.

Ich meine, dass diese Documenta besser als ihr Ruf war. Nicht unbedingt in Bezug auf das Gesamt-Konzept ihrer Kuratoren, wohl aber in einzelnen herausragenden Werken. Aber selbst das Konzept der Kuratoren ist, wenn man mal den Schutt des kulturalisierten Anti-Neoliberalismus beiseitelässt, und es unter dem Stichwort der Sprachen (der verborgenen und verbotenen, der unerhörten und ungesehenen Sprachen) re-konfiguriert, produktiv. Gerade dort, wo es um Stimmen und Narrationen ging (seien es orthodoxe Hymnen, Oden an Staubsauger, poetische Tische, unaussprechbare Tänze unter dem Wasserfall oder der mehrfach vorzufindende Paragone von Literatur und Bildender Kunst) war die Documenta 14 außerordentlich gut – vielleicht sogar besser als ihre Vorgänger. Ich will gerne eingestehen, dass dies eventuell aus Sicht der Kuratoren eher ein Kollateralereignis war, aber dennoch lässt sich die Documenta so lesen.

Und deshalb will ich einen Spaziergang zu einigen mir stimmig erscheinenden Kunstwerken unternehmen – wir sind ja auf der Imagination einer Documenta unter dem Aspekt der Spaziergangs-Wissenschaft. Ganz im Sinne des 1. Briefes an die Thessalonicher: "Den Geist löscht nicht aus. Prophetische Rede verachtet nicht. Prüft aber alles und das Gute behaltet." Die Documenta 14 war prophetische Rede – man muss nur genau hinhören. Gehen wir also los.

Ort 1

Wenn man dem Vorschlag der Documenta-Leitung für den Parcours folgte, stieß man zunächst auf den vormaligen U-Bahnhof unter dem Hauptbahnhof. Die Wieder-Entdeckung und Freilegung dieses Ortes gehört sicher zu den gelungenen Aktionen der d14. Wenn man Häuser, Straßen, Plätze, aber auch den Untergrund als Einschreibung in den Körper einer Stadt versteht, als komplexes Markierungssystem, das sich im Verlauf der Jahre und Jahrhunderte entwickelt, dann kann man fragen: Was ist mit den früher sprechenden Orten einer Stadt, was also ist mit den Orten die nun scheinbar dauerhaft verstummt sind? Die schon gar nicht mehr bewussten Wunden im Körper der Stadt, die, wenn man sie so betrachtet wie ein Pathologe der Serie CSI New York sie betrachtet, sehr aussagekräftig werden. Und welche Aussagen trifft ein Ort, der zum Verstummen gebracht worden ist, wenn man ihn wieder zum Sprechen bringt? Ein solcher Ort, ein Lost Place, war diese ehemalige U-Bahn-Station, wahrlich ein Idiom – eine Besonderheit und eine Eigenart der Stadt Kassel.

Hier „sind es weniger die Arbeiten der Künstler als die morbiden Reize einer verlassenen subterranen Verkehrsarchitektur, die den ästhetischen Eindruck bestimmen: tote Rolltreppen, leere Fahrpläne, gekappte Gleise. Dazu abgetakelte Plakate, die einen plötzlichen Bedeutungsswing erhalten: Das ZDF warb da mal unter dem Motto ‚Zweisein im Zweiten‘ offensichtlich für eine Liebesschmonzette …, deren Titel im Kontext der nach 40 Jahren aufgegebenen Untergrundstation fast schon einer Zusammenfassung der spätestens mit dem Ende des Nachkriegs-Wirtschaftsbooms einsetzenden Verwerfungen im Fortschrittsglaubens gleichkommt: ‚Ums Paradies betrogen‘ hieß die TV-Sendung. Just so könnte die gesamte Inszenierung heißen.“[14] 

So beschrieb das Kunstforum International die Situation der ersten Station und charakterisierte sie als „exemplarisch für die gesamte Kasseler Ausstellung“.

Als Einzelarbeit interessant war an diesem Ort die Video-Installation "The Course of Empire" von Michel Auder. Die Simultanität der Bilder auf den 14 Monitoren forderte als geradezu babylonisch sprachvielfältige Sinnmaschine die Besucher heraus, ihre eigenen Lesarten zu entwickeln: Was verbindet die flämische Malerei mit Tillman Riemenschneider und Jeff Koons und was diesen mit Frida Kahlo?

Ort 2

Folgte man dem vorgeschlagenen Parcours, kam man als Nächstes zur so genannten Neuen Neuen Galerie. Auch die Vorstellung dieses Ortes kann im Sinne der Idiome des Widerstands als gelungen gelten, denn auch er ist vor allem in seinem städtebaulichen Kontext ein aussagekräftiger Ort, eine sprechende Wunde im Körper der Stadt. Seine brutalistische Banalität kontrastierte und harmonierte durchaus mit den präsentierten Kunstwerken. Denn auch manche der dort ausgestellten Werke waren auf den ersten Blick vom Bann der Banalität geschlagen, aber andere erwiesen sich als durchaus sprechend.

Bemerkenswert fand ich u.a. die große Projektionsfläche von Theo Eshetu (die freilich besser hätte präsentiert werden können. Wenn die documenta-Macher etwas nicht beherrscht haben, dann war es Szenografie. Aber das hat sie vermutlich schlichtweg nicht interessiert.) Nur kostete es viel Zeit, sich auf die dort präsentierte geradezu babylonische Sprachenvielfalt einzulassen.

Zumindest erwähnenswert finde ich unter dem Aspekt der Einschreibung in den Körper der Stadt und ihrer Geschichte die Arbeit von Ahlam Shibli, die sich vor allem für die Menschen interessierte, die rund um das Ausstellungsgebäude leben - was man von vielen anderen Ausstellenden nicht behaupten kann. Gegen ihre Fotoarbeiten ist eingewandt worden, dass sie keiner aktuellen Kunstform genügen. Als ob das ein Kriterium in der Kunst des 21. Jahrhunderts wäre. Mich interessiert, was dieser Bilder nicht nur erzählten, sondern auch Erzählungen in Gang setzen. 

Ort 3

Ich wende mich nun gleich dem Königsplatz zu. Hier erfolgte die folgenreichste Einschreibung in das öffentliche Bewusstsein wie auch den Körper der Stadt Kassel. Das Kunstwerk selbst, so muss man sagen, ist im Augenblick in seiner Bedeutung und Komplexität erst ansatzweise erschlossen, die bisher vorgetragenen Argumente sind weitgehend assoziativ und interessegeleitet. Ich erinnere an dieser Stelle noch einmal an das schon vorgestellte Zitat von Adam Szymczyk aus dem South-Magazin:

[Wir richten] unsere Aufmerksamkeit lieber auf Sprachen – fast ausgestorbene oder vergessene, unterdrückte oder aus dem Nichts erschaffene. Denn diese werden dem, worum es hier geht und was wir einlösen wollen, viel besser gerecht als das hinlänglich bekannte Vokabular der Kunst-Events …

Wenn man sich unter diesem Gesichtspunkt dem Obelisken von Olu Oguibe nähert, dann wird schnell deutlich, wie präzise das Kunstwerk in die Programmatik der „Idiome des Widerstands“ passt. Welche visuellen, architektonischen, kunst- und kulturgeschichtlichen Sprachen – jenseits der explizit auf dem Kunstwerk verwendeten – kommen zur Anwendung? Wovon sprechen sie? Inwiefern sind die Lesarten, die weiße Westeuropäer von diesem Artefakt entwickeln, andere als die, die Flüchtlinge und Menschen anderer geographischer Herkunft entwickeln?  Ist der vierfach zitierte Satz nur Illustration eines herrschenden religiösen Diskurses, ist er – da in klassischer Grabinschrift festgehalten – bereits „fast ausgestorben“ oder sogar „unterdrückt“ oder „vergessen“? Und wie verhilft man dem darin zum Ausdruck kommenden Idiom des Widerstands zur Geltung? Die Gegner dieses Kunstwerks wissen nur zu genau, was dieses Artefakt ihnen sagt, sie wollen es nur nicht hören:

Regelmäßig wettern solche am heftigsten gegen die Anarchie der neuen Kunst, mit der es meist gar nicht so weit her ist, die durch grobe Fehler auf dem simpelsten Informationsniveau der Unkenntnis des Verhassten sich überführen; unansprechbar sind sie auch darin, dass sie, was abzulehnen sie vorweg entschlossen sind, gar nicht erst erfahren mögen. (Theodor W. Adorno)

Ort 4

Spazieren wir weiter zum Fridericianum. Zu seiner Funktion auf der d14 ist schon viel geschrieben worden und es wird ja auch morgen noch thematisch werden. Dem brauche ich heute nicht vorzugreifen. Ich will lieber nach den Kunstpositionen fragen, die für mich und meine Begleiter sprechend waren – positiv wie negativ.

In negativer Hinsicht war das sicher das Zelt von Emily Jacir, das eine höchst einseitige Stellungnahme im Krieg zwischen Juden und Arabern in Palästina war. Ich kann mir denken, dass dieses Objekt im Museum in Athen anders wahrgenommen wird, als es in Kassel hätte wahrgenommen werden müssen. Das zentrale Stichwort lautet hier: Mohammed Amin al-Husseini, der Großmufti von Jerusalem und NS-Kollaborateur, der den Antisemitismus unter Arabern salonfähig machte. Ich sehe nicht, wie man das ausgerechnet in Deutschland mit seiner besonderen Geschichte un-thematisiert lassen kann.[15]

Positiv hervorheben will ich die freilich schon ältere Arbeit „The Crossroad Where Oedipus Killed Laius“ von George Hadjimichalis, der mit seinem poetischen Tisch eine wunderbare, die Phantasie anregende und Sprache freisetzende Arbeit ablieferte. Das ist ein Werk, das viel mehr Aufmerksamkeit verdient. Dieses Werk gehört in einem weiteren Sinne zum Paragone von Literatur und Bildender Kunst. Was kann Bildende Kunst, was der literarische Mythos nicht kann? Welche Sprache steht ihr zur Verfügung, über die das Sprechen nicht verfügt?

Ort 5

Das Kunstwerk von Khvay Samnang im Ottoneum zeigte einen Mann im Areng-Tal in Kambodscha, der an einem Wasserfall einen überaus merkwürdigen Tanz aufführt. Zum Thema der Idiome des Widerstands passt diese Arbeit, weil sie der Sprache der Volksgruppe der Chong nachgeht, die mit ihren Tänzen eine komplexe Kartografie des Geländes vornehmen und so ihren Lebensraum umreißen und Gebietsansprüche dokumentieren: „als ein auf elemen­tarer Verkörperung beruhendes System, das auf Geschichten von Ahnen und mündlichen Erzählungen gründet. Der spirituelle Raum des Areng-Tales wird durch die Personifizierung dieser Geschichten bestimmt und mittels Körper dargestellt.“ Wie kann diese Sprache mit der Schriftsprache der Herrschenden in Konkurrenz treten? Für die Herrschenden ist die Körpersprache der Chong eine fremde Sprache. Wie kann man sie verstehen und ihre Rechte wahren? Was auf den ersten Blick wie eine Geo-Reportage wirkt, ist es aber nicht. Die Brechung bildet der Tänzer, der eben nicht wie in einer Reportage ein Eingeborener ist, sondern ein Künstler, der eine ihm fremde Körpersprache erst lernen muss.

Ort 6

Die Documenta-Halle ist vermutlich von allen Orten am schwierigsten zum Sprechen zu bringen (und hatte dieses Mal sogar Kunstwerke, die man komplett übersehen konnte, etwa die Partitur an der Decke der Halle). Beeindruckt hat mich die Indigo-Arbeit von Aboubakar Fofana, weil sie so unterschiedliche Faktoren miteinander ins Spiel brachte: die Erinnerung an die klassische Indigo-Malerei eines Jan Vermeer, an den Kampf der Chemie-Giganten, das natürliche Indigo zu ersetzen (sozusagen eine natürliche Sprache durch eine künstliche zu ersetzen), an die Kunst, Indigo aus den passenden Pflanzen herzustellen und nicht zuletzt die Erinnerung an die Mobiles von Calder, die die blauen Kleider an der Decke hervorriefen. So kamen Kunst und Kulturgeschichte zusammen, wurden beredt.

Ort 7

Spazieren wir nun runter zum Westflügel der Orangerie und kommen damit zu jener Arbeit, die Hanno Rauterberg in seinem Verriss der Documenta 14 als eines der wenigen herausragenden Kunstwerke charakterisiert hat. Unter dem Aspekt der Sprache(n) ist diese Arbeit natürlich besonders interessant und einzigartig – auch wenn sich dies den Besucher*innen vielleicht nicht sofort vor Ort, sondern erst in der ästhetischen Nacharbeit erschließt. Romuald Karmakar zeigte unter dem Titel Byzantion zwei orthodoxe Chöre, die nacheinander den gleichen, aber nicht denselben Marien-Hymnus singen:  Agni Par­the­ne. Man musste schon genau hinhören und vergleichen, um die Differenzen wahrzunehmen.

Der Hymnus wurde unmittelbar nach seiner Entstehung so berühmt, dass zahlreiche orthodoxe Klöster ihn übernahmen, dabei aber variierten und der ortsüblichen Tradition des Kirchengesangs anpassten. Sie wiederholten also nicht einfach die Sprache des Ursprungs als allein verbindliche und damit normative, sondern modellierten sie und kontextualisierten sie.

Die Wikipedia verzeichnet allein 20 unterschiedliche Klangbeispiele aus der ganzen Welt und benennt 24 verschiedene Versionen (von griechisch über russisch und ukrainisch bis spanisch, italienisch und sogar arabisch und koreanisch).

Dem Künstler kommt es nun genau auf diese Dialekte an, auf die Besonderheiten der verschiedenen Sprach- und Klangvariationen, die von der jeweiligen Kultur bzw. Region geprägt sind. Wie sagte Adam Szymczyk:

[Wir richten] unsere Aufmerksamkeit lieber auf Sprachen – fast ausgestorbene oder vergessene, unterdrückte oder aus dem Nichts erschaffene.

Sprache kann etwas sein, das uns verbindet und zugleich unsere lokale Identität ausdrückt – es gab auf dieser documenta kaum ein besseres Beispiel dafür.

Ort 8

Das Palais Bellevue, das als nächstes auf meinem Parcours steht, hat sicher das eigensinnigste Kunstwerk dieser Documenta beherbergt. Die Rede ist vom Dust-Channel von Roee Rosen, ein Meisterwerk der Ironie und politisch engagiert zugleich. Seine Ode auf den beutellosen Staubsauger Dyson Sieben, den er mit dem individuellen Ekel vor dem Dreck und dem Fremden, aber auch mit dem politischen Säuberungswillen des Ministerpräsidenten Netanyahu in Verbindung brachte, war brillant. Es war eine subtile Reflexion über Töne, Klänge, Gesten und vor allem Sprache, darüber, was wir meinen und implizieren, wenn wir von reinigen und säubern sprechen. Exzellent fand ich die Arbeit deshalb, weil sie im Vergleich zu so vielen anderen Arbeiten auf dieser documenta so beredt darüber Auskunft gab, wie Idiome zustande kommen und woran sie sich entzünden.

Ort 9

Die Neue Galerie, normalerweise neben dem Fridericianum ein Zentrum der Documenta, enttäuschte mich dieses Mal. Zu moralisch, zu belehrend, zu dicht gehängt, zu wenig ästhetisch. Ich muss aber zugeben, dass viele meiner Begleiter*innen auf dieser documenta das ganz anders empfunden haben und diesen Ort mit Gewinn besucht haben. Unter dem Aspekt der Sprache und der Widerständigkeit gab es hier sicher einiges zu entdecken – freilich nicht die laut schreienden Werke der politischen Agitatoren unter den Künstler*innen.[16]

Bedenkenswert fand ich die Idee von R. H. Quaytman, einfach einmal die These aufzustellen, auf der Rückseite des berühmten Angelus Novus von Paul Klee befinde sich eine Grafik mit dem Bild des deutschen Nationalheroen Martin Luther aus dem 19. Jahrhundert. Was bedeutet das für die Wahrnehmung des Bildes? Bedenkt man, dass Klees Angelus Novus als sprechendes Bild auf der documenta 12 im Zentrum des Fridericianums gehangen hat, dann ist das ein schöner Gegenmythos.

Ort 10

Mein letzter Besuchsort ist das Hessische Landesmuseum. Dort waren einige interessante Arbeiten platziert, die um das Thema Sprache und Form kreisten. Wenn man das einmal begriffen hatte, konnte man von oben nach unten durch das Treppenhaus laufen und bekam immer mehr Einsichten. Hervorheben will ich die Arbeit von Nairy Baghramian mit dem Titel "The iron table (Homage to Jane Bowles), über die ich lange und wiederholt mit meinen Begleitern diskutiert habe. Die Arbeit überzeugte nicht nur wegen der Übersetzung der gleichnamigen Kurzerzählung von Jane Bowles in die Sprache der Kunst, sondern auch durch die gelungene Platzierung im Landesmuseum. Auf der einen Seite sah man eine klassizistische Fassade, auf der anderen eine orientalisierende Fassade.

Mit den Torwachen vor dem Landesmuseum ist der Documenta 14 sicher ein spektakulärer Eyecatcher gelungen – nicht nur, wenn man sich von Bad Wilhelmshöhe der Stadt näherte. Ibrahim Mahamas Jutesäcke über den historischen Torwachen irritierten den Blick und fokussierten die Aufmerksamkeit neu: "Mit seinen monumentalen Installationen aus groben Jutesäcken rückt Ibrahim Mahama die Warenströme und Produktionsbedingungen in seinem Heimatland Ghana ins Zentrum der Aufmerksamkeit."  Vor Ort freilich wussten nur die wenigsten Documenta-Besucher*innen um den historischen Kontext, sie reagierten vielmehr vor allem auf die Oberfläche, die von der Umgebung gravierend abweicht. Es sind vor allem Markierungen von Alterität, die Ibrahim Mahama hier einträgt.

Am Beispiel dieses Ortes und der durch das Kunstwerk provozierten Diskussion ließe sich noch einmal gut differenzieren, was die Intention des Künstlers (intentio auctoris), was Gehalt des Kunstwerks (intentio operis), was die Intention der Documenta-Macher (intenio curatoris) und was ästhetische Erfahrung und Rezeption der Betrachter (intentio lectoris) ausmacht. Das muss aus Zeitgründen hier unterbleiben.


Conclusio

Jeder Besucher, jede Besucherin musste für sich die Frage beantworten: Unter welchem Regime nähere ich mich der Kunst der Documenta 14 in Kassel?

  • Vertraue ich auf das ästhetische Regime der Kunst, welches die Dinge der Kunst nicht nach den Regeln ihrer Produktion, sondern nach ihrer Zugehörigkeit zu einem besonderen Sensorium und zu einem spezifischen Erfahrungsmodus qualifiziert?
  • Oder setze ich auf ein poetisches bzw. repräsentierendes Regime der Kunst, welches eine eigene sinnliche Sphäre der mimetischen Aktivitäten bestimmt, also Spiegelungen der Gesellschaft darstellt?
  • Oder bevorzugt ich ein ethisches Regime, indem die Tätigkeiten, die wir die Künste nennen, nicht als autonome verstanden werden, sondern der intendierten Veränderung der Welt dienen?[17]

Es spricht viel dafür, dass die Kuratoren der documenta die Kunst unter eine ethische Kuratel setzen wollten und dies auch den Besucher*innen vorschlugen. Dem kann man folgen, muss es aber nicht. Es gehört zu den Eigenarten der Kunst, dass sie auch dann noch ästhetisch wirkt und wahrgenommen werden kann, wenn sie unter ganz anderen Aspekten produziert und eingesetzt wurde.

Friedrich Schiller hat dies in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen am Beispiel der Juno-Statue deutlich gemacht.[18] Und Jacques Rancière hat das unter der Fragestellung „Ist Kunst widerständig“ für die Annäherung an die Kunst der Gegenwart produktiv gemacht.[19]

So wie wir Hegel folgend die Götterstatuen der Vergangenheit schlichtweg ästhetisch und nicht mehr religiös betrachten[20], so können wir auch die politische Kunst der Documenta ästhetisch und eben nicht ethisch oder repräsentativ betrachten.

In dieser Perspektive ergibt sich eine Lesart der documenta, die durchaus Motive ihrer Kuratoren aufgreift, sie sich aber ästhetisch frei aneignet und zur individuellen Mythologie (Harald Szeemann) umarbeitet. Der Besucher schafft sich so Wahrnehmungsräume, die er mit persönlichen Gegenständen und Erinnerungsstücken zeichenhaft und symbolträchtig ausstattet. Eine derart „individuelle Mythologie“ sind die „Idiome des Widerstands“, meine persönliche Wahrnehmung einer in diesem Sinne gelungenen Documenta 14.


Epilog: Ich war ein Fremdling und ihr habt mich nicht aufgenommen

Freilich, und damit komme ich zu meinem unvermeidlichen Epilog, muss die Documenta nicht notwendig in Kassel fortgesetzt werden. Zu den irritierenden Phänomenen gehört es ja, dass fast alle lokalen Größen mit dem Faktum kokettieren, dass die Kasseler aufatmen, wenn eine Documenta endlich vorbei ist und sie wieder fünf Jahre Ruhe haben. Wenn aber die Documenta wirklich so lästig ist, dann kann ich mir andere Orte in Deutschland vorstellen, die die Tradition dieser Veranstaltung gerne ohne dieses abwertende Geplänkel fortsetzen würden. Orte, die zudem über eine Presselandschaft verfügen, deren Lokalredaktion die Ausstellung und einzelne Werke nicht populistisch herabsetzen, sondern – auch wenn sie keine Kulturredakteure sind – sie zu vermitteln suchen, sie fördern und erläutern. Die also die journalistische Tradition, die Dirk Schwarze in Kassel und darüber hinaus repräsentierte, fortsetzen. Kassel war einmal – im wörtlichen Sinn - ein not-wendiger (ein die kulturelle Not der Bundesrepublik Deutschland wendender) Standort der Documenta. Das gilt in der Gegenwart nicht mehr. Heute ist Kassel nur noch der traditionelle Documen­ta-Standort. Und die Stadt und seine Bürger sind dabei, diese Tradition fahrlässig aufs Spiel zu setzen.

Das unerträgliche Geschehen rund um den Obelisken von Olu Oguibe, dieses öffentliche Kommunikationsdesaster aller Beteiligten, offenbart, dass Kassel und seine Bewohner offenbar nicht viel gelernt haben aus der Geschichte der Documenta und ihrer Botschaft. Bilderstreit führt aber immer auch zu Klärungen von Positionen. Insofern war dieser Kasseler Skulpturenstreit schon erhellend.

Und deshalb lautet mein Schluss: Der Mythos, das Narrativ Documenta wird sicher weiter bestehen, ob das aber zwingend mit der Stadt Kassel verbunden sein muss, darüber bin ich mir nicht in letzter Zeit mehr so sicher.

Anmerkungen


[1]    Bahtsetzis, Sotirios (2016): Von der logokularen Anthropotechnik zu posthumanen Dispositiven. Überlegungen zu einem Manifest des postdiskursiven Zeitalters. In: Quinn Latimer und Adam Szymczyk (Hg.): South as a state of mind #4. Das Magazin der Documenta 14. Köln.

[2]    Rancière, Jacques (2008): Ist Kunst widerständig? Berlin: Merve-Verl (Internationaler Merve-Diskurs, 310).

[3]    Weiss, Peter (1983): Die Ästhetik des Widerstands. Roman. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

[4]    Greiner, Ulrich (1997): Ich möchte lieber nicht Über die Herrschaft der Experten und das Verschwinden der Künstler. Ein letzter Rundgang auf der Documenta. In: Die Zeit. https://www.zeit.de/1997/40/Ich_moechte_lieber_nicht.

[5]    Das sah der Documenta-Leiter leider anders: „Denn South as a State of Mind ist nicht nur für „Leute, die gerne Romane lesen“, sondern für alle und für jeden.“ Da hat er ein merkwürdiges Verständnis und kaum Kenntnis von den Menschen. Man muss schon lange in der Kunst-Blase leben, um zu glauben, dass deren Ghettospräche jedem verständlich wäre.

[6]    Rauterberg, Hanno (2017): Im Tempel der Selbstgerechtigkeit. Warum die Documenta in Kassel krachend scheitert. Und Münster die bessere Kunst zeigt. In: Die Zeit (25).

[7]    Heidenreich, Stefan (2017): Schafft die Kuratoren ab! In: Die Zeit (26). Online verfügbar unter http://www.zeit.de/2017/26/ausstellungen-kuratoren-kuenstler-macht/komplettansicht.

[8]    In diesem Sinne meinte Susanne Gaensheimer, die Direktorin der Kunstsammlung NRW, die Ausstellung sei zwar „intensiv und tiefgründig“, kritisierte aber die mangende Vermittlung. Die Documenta habe sich „sehr verschlossen“ gegeben. „Sie erforderte extrem viel Eigeninitiative vom Besucher. Nur wenn man sich sehr viel Zeit nahm und sehr viel las, entfaltete sich dieser tolle gedankliche Kosmos.“ http://www.ostsee-zeitung.de/Nachrichten/Kultur/Zwiespaeltige-Documenta-Bilanz-Wie-man-Kunst-vernutzt

[10]   Bail, Ulrike; Crüsemann, Frank; Crüsemann, Marlene; Domay, Erhard; Ebach, Jürgen; Janssen, Claudia et al. (Hg.) (2007): Bibel in gerechter Sprache: Gütersloher Verlagshaus.

[11]   Editorial des Heftes 4 des South Magazins; http://www.Documenta14.de/de/south/886_editorial

[12]   Ebd.

[13]   Rauterberg, Hanno (2017): Im Tempel der Selbstgerechtigkeit, a.a.O.

[14]   Kunstforum international: Kopfüber im flachen Wasser, Band 248, 2017, Titel: documenta 14, S. 78

[15]   Analoges ließe sich auch im Blick auf Piotr Uklanskis Arbeit „Real Nazis“ in der Neuen Galerie sagen, die dieses Kapitel der fortgesetzten Geschichte nazistischer Ideologie unterschlägt.

[16]   Ich meine damit die unsäglichen Schrumpfköpfe und die „Real Nazis“.

[17]   Die Alternativen von ästhetischem, poetischem oder ethischem Regime der Kunst entnehme ich den Überlegungen von Jacques Rancière zur Widerständigkeit von Kunst. Vgl. Mertin, Andreas (2012): Die Politik der Ästhetik. Ein Versuch, von Jacques Rancière zu lernen. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 14, H. 75. https://www.theomag.de/75/am379.htm.

[18]   Schiller, Friedrich (2009): Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

[19]   Rancière, Jacques (2008): Ist Kunst widerständig? a.a.O.

[20]   „Mögen wir die griechischen Götterbilder noch so vortrefflich finden und Gottvater, Christus, Maria noch so würdig und vollendet dargestellt sehen: es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr“. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich; Bassenge, Friedrich (1985): Ästhetik. 4. Aufl. Berlin [u.a.]: Aufbau-Verlag. S. 110.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/138/am761.htm
© Andreas Mertin, 2022