Affentheurlich Naupengeheurliche Geschichtklitterung

Die AfD und die Wahrheit in der Kunst

Andreas Mertin

Im Mai 2022 erreicht die Redaktion eine Pressemitteilung der AfD-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg mit der verwirrenden Überschrift „Statt Katholizismus muss es Woke-ismus heißen“. Eigentlich sollte das „muss“ im Konjunktiv stehen und eine Kritik des Katholizismus beinhalten. Tatsächlich bezieht sich, wie wir gleich sehen werden, die Kritik weder auf „den Katholizismus“, noch auf irgendeine katholische Handlung, sondern schlicht auf eine postkolonialistische Kunstaktion der Stadt Stuttgart, die der AfD nicht gefällt und die sie verhindern möchte. Die Pressemitteilung beginnt mit dem Satz:

Der religionspolitische AfD-Fraktionssprecher Hans-Jürgen Goßner MdL hat das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) aufgefordert, jede Geschichtsklitterung in Stuttgart zu unterlassen.

Das ist gut gebrüllt und man ahnt schon, dass alles davon abhängt, was die AfD denn unter Geschichtsklitterung versteht. Das Wort hat eine 450-jährige Tradition in der deutschen Sprache und zierte einst den Titel eines Werkes von Johann Fischart, das „als eines der ersten großen Werke experimenteller Literatur in deutscher Sprache“ gilt. Man könnte es so gesehen selbst zum Woke-ismus zählen. Dass sich der religionspolitische Sprecher der AfD in seiner Kritik des Katholizismus eines Begriffes eines dezidierten Protestanten, ja eines Calvinisten bedient, hat seinen eigenen Reiz. Mit Geschichtsfälschung, was die Meldung ja insinuiert, hat das Wort zunächst nichts zu tun, eher mit Phantasie und Poesie. Extrem viel Phantasie, aber wenig Poesie charakterisieren nun auch den Protest des religionspolitischen Sprechers:

„Das ZdK hat das Reiterdenkmal von Kaiser Wilhelm I. auf dem Karlsplatz anlässlich Katholikentags rot verhüllt. Grund dafür sei die Reichsgründung, der beginnende Nationalismus und die einsetzende Kolonialisierung, die mit dem Hohenzoller verbunden sei. Die Binsenweisheit, dass heutige moralische Maßstäbe nicht an die Bewertung historischer Persönlichkeiten angelegt werden, haben nicht nur Universitätshistoriker vergessen – siehe die unselige Debatte um die Eberhard-Karls-Universität Tübingen –, sondern auch nun Kleriker. Zu Aufrufen, Klimaziele nachzuschärfen oder am F4F-Klimastreik teilzunehmen, gesellen sich jetzt ahistorische Tilgungen. Zumal gegen einen Mann, ohne den Baden-Württemberg nicht wäre, was und wie es heute ist. Das ist absurd und zeigt, dass der Katholizismus inzwischen Woke-ismus genannt werden müsste.“

Daran ist kein Wort wahr, es ist reinste Geschichtsfälschung. Und das weiß der Sprecher. Zunächst einmal: ja es gibt eine Kunstaktion des Kunstkollektivs „ReCollect“, bei dem eine Statue Kaiser Wilhelms I. temporär mit einem roten Stoff verhüllt wird. Wie man bei der Gruppe leicht recherchieren kann, wurde sie vom Kulturamt der Stadt Stuttgart und nicht vom Zentralkomitee der Deutschen Katholiken zu dieser / einer Kunstaktion aufgefordert. Die Kunst in Deutschland ist autonom und frei. Das garantiert das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, nicht zuletzt abgeleitet aus den Erfahrungen, die man mit den nationalsozialistischen Reglementierungen der Künste hatte. Die Kunstfreiheit ist ein hohes Gut. Das weiß auch der religionspolitische Sprecher der AfD, weshalb er so tut, als handele es sich gar nicht um Kunst, sondern um eine politische Aktion des ZDK. Das aber ist gelogen.

Dass „heutige moralische Maßstäbe nicht an die Bewertung historischer Persönlichkeiten angelegt werden“ sollen, wie er meint, ist freilich keine Binsenweisheit, sondern Unsinn. Würde er das auch für Adolf Hitler, Adolf Eichmann oder König Leopold II. von Belgien in Anschlag bringen? Sind die Nürnberger Prozesse also falsch? Selbstverständlich können und müssen wir humanistische Maßstäbe, die wir in der Neuzeit entwickelt haben, auch zur Bewertung historischer Vorgänge heranziehen. Zudem bestanden die „moralischen Maßstäbe“, die hier angelegt werden, ja durchaus schon zur Zeit Wilhelms I., er hat sie nur brutal unterdrückt. Was der religionspolitische Sprecher hier nahelegt, ist eine Geschichtsschreibung der Sieger. Whatever is, is right.

Die Charakterisierung des ZDK als „Kleriker“ ist wirklich nur aus der Unkenntnis und Religionsverachtung des doch angeblich religionspolitischen Sprechers zu erklären. Selbst Protestanten wissen selbstverständlich, dass das ZDK eine Laienorganisation ist. Etwas formaler artikuliert:

Entsprechend dem Dekret des II. Vatikanischen Konzils über das Apostolat der Laien (Nr. 26) ist das ZdK das von der Deutschen Bischofskonferenz anerkannte Organ, das die Kräfte des Laienapostolats koordiniert und das die apostolische Tätigkeit der Kirche fördern soll.

Denkt ein religionspolitischer Sprecher nicht darüber nach, was er da in die Tasten haut? „Kleriker“ wird hier zudem mit dem religionspolemischen Unterton des 19. Jahrhunderts gebraucht.

Was nun genau „ahistorische Tilgungen“ sein sollen, weiß vermutlich nur der gute Mann selber. Kaiser Wilhelm I. wird ja nun gerade nicht getilgt, sondern ganz besonders ins Zentrum des Interesses gestellt. Würde er nicht mit dem roten Tuch bedeckt, hätte sich im Mai 2022 kein Schwein für ihn interessiert. So aber bekommt er eine Aufmerksamkeit, die gerade durch den Entzug verschärft wird. Als religionspolitischer Sprecher sollte man wissen, dass die Verhängung von zentralen Kunstwerken durch ein besonders gestaltetes Tuch zu den großen liturgischen Ereignissen im Katholizismus gehört.

Das wäre auch mein Einwand gegenüber der Kunstaktion, dass sie zwar den ikonoklastischen Akt dem Postkolonialismus entnimmt, dabei aber nicht bedenkt, dass dieser konkrete Akt der Verhüllung im Katholizismus eine besondere liturgische Geste im Sinne der Hervorhebung darstellt. Künstlerisch, so habe ich das Gefühl, hat die Gruppe ihre Aktion im spezifischen Kontext noch nicht zu Ende gedacht. Auch die Verhüllungen, die Christo oder auch Joseph Kosuth im Rahmen ihrer Aktionen vornehmen, dekonstruieren die verhüllten Gegenstände nicht, sondern fokussieren die Aufmerksamkeit auf sie. Allerdings ist in Stuttgart die Verhüllung nur ein kleiner Teil der Kunstaktion, es kommen Tanz, Performance und Lyrik hinzu, die Aspekte des Denkmals zu Bewusstsein bringen, die durch die reine Heldendarstellung verdrängt werden.  

Dass Baden-Württemberg ohne Kaiser Wilhelm I. (1797-1888) nicht wäre, was und wie es ist, ist natürlich trivial und daher bedeutungslos. Es besagt nichts anderes, als dass Kaiser Wilhelm I. eine Figur der Geschichte ist und diese insofern auch beeinflusst hat. In diesem Sinne könnte man auch für Adolf Hitler Denkmäler aufstellen, denn ohne ihn gäbe es wahrscheinlich Baden-Württemberg nicht, sondern weiterhin je für sich Baden und Württemberg.

Aber eigentlich geht es darum, dass Kaiser Wilhelm I. eingeordnet werden muss in die Vor-Geschichte des deutschen Kolonialismus, wobei es natürlich sinnvoller wäre, sich mit Bismarck und Kaiser Wilhelm II. auseinanderzusetzen. Nur dass deren Denkmale nicht auf dem Stuttgarter Karlsplatz stehen. Unterschlagen wird auch, dass nicht erst die postkolonialen Kritiker sich am Kunstwerk abarbeiten, sondern schon direkt nach dem 2. Weltkrieg der populäre parteilose Stuttgarter Oberbürgermeister Arnulf Klett die Statue als deplatziert ansah.

Jedenfalls hält der religionspolitische Sprecher der AfD die ganze Aktion für absurd. Seiner Meinung nach müsse „der Katholizismus inzwischen Woke-ismus genannt werden“. Woke-sein findet er problematisch. Das überrascht nicht, denn Woke heißt „wach“, Woke-ism wäre also bewusste Wachsamkeit, was man sicher der AfD nicht unterstellen kann. Ironie beiseite, Woke ist ein „im afroamerikanischen Englisch in den 1930er Jahren entstandener Ausdruck, der ein „erwachtes“ Bewusstsein für mangelnde soziale Gerechtigkeit und Rassismus beschreibt.“ Er ordnet sich also ein in die amerikanische Bürgerrechtsbewegung etwa Martin Luther Kings. Nach 2014 bekommt er im Kontext der Black-Lives-Matter-Bewegung noch einmal eine besondere Akzentuierung. Da kann die AfD ja auch nicht mit übereinstimmen.

Der Duden beschreibt Woke als „in hohem Maß politisch wach und engagiert gegen (insbesondere rassistische, sexistische, soziale) Diskriminierung“. Man muss also schon ziemlich weit rechts stehen, um das Engagement gegen Rassismus, Sexismus und soziale Diskriminierung problematisch zu finden. Man könnte nun einwenden, gemeint sei, dass manche Initiativen es mit dem Woke-sein übertreiben. In diesem Sinne hat Barack Obama die Aktivisten davor gewarnt „allzu woke“ zu sein. Aber das bezieht sich nun gerade nicht auf die Kritik an kolonialistischen Politikern und Herrschern und deren Heldenverehrung in Deutschland, sondern kritisierte einen Rigorismus bzw. Überbietungsgestus innerhalb der identitätspolitischen Bewegung.

Dem Katholizismus „Woke-ismus“ vorzuwerfen, heißt letztlich nichts anderes, ihm vorzuwerfen, dass er sich aktuell zu sehr auf Fragestellungen des sexuellen Missbrauchs, des weltweiten Rassismus und der Herstellung gerechter Verhältnisse einlässt. Ein merkwürdiger Vorwurf gegenüber einer Religion und speziell dieser Konfession, die sich doch als weltumfassende begreift.

Die Presseerklärung endet mit den Worten

„Ich erinnere daneben an die Forderung Kardinal Robert Sarahs, die Kirche müsse ‚aufhören, sich selbst als eine Ergänzung des Humanismus zu verstehen‘. Kirchen haben das Wort Gottes zu verkünden und keine politischen Narrative zu setzen.“

Wie ein Blick in die Suchmaschinen zeigt, wird der religionspolitische Sprecher nicht müde, diesen Satz Sarahs zu wiederholen. Sarah geht es aber darum, dem Evangelium nicht den Humanismus vorzuordnen. Humanes Handeln muss im Rahmen des Katholizismus anders begründet werden. Das ist nachvollziehbar. Unterschlagen wird dabei jedes Mal der Folgesatz von Sarah: „Für die Kirche seien solche ‚Realitäten‘ lediglich Folge ihres ‚einzigartigen Schatzes‘, eben des Glaubens an Jesus Christus.“ Also sagt Sarah nicht, keine politischen Narrationen, vielmehr müsse man stärker verdeutlichen, wie sich das Engagement aus dem Evangelium ergibt. Akzentuiert sagt er: „nicht Gesetz und Evangelium“, sondern „das Gesetz im Evangelium“. Dem kann man sich anschließen und genau deshalb dann auch für die Kunstaktion in Stuttgart eintreten. Aber das versteht der religionspolitische Sprecher der AfD im Landtag von Baden-Württemberg nicht – er will es nicht verstehen. Er will nicht einmal die Kunstaktion selbst verstehen.

Zur Kunstaktion

Die Nachrichtenlage rund um die Genese und Ausrichtung der Kunstaktion in Stuttgart ist auf den ersten Blick diffus. Der SWR meldet, dass die Veranstalter des Katholikentages die Aktion ins Leben gerufen haben und betont, dass das Denkmal in Stuttgart 1898 enthüllt wurde und Württemberg damit seine Zugehörigkeit zum Deutschen Reich bekunden wollte. Das ist etwas dürftig. Die Zeitschrift monopol schreibt, „neben dem Kulturamt hatten auch mehrere Veranstalter des anstehenden Katholikentags das Kunstkollektivs ReCollect beauftragt, das Denkmal künstlerisch in einen Kontext zu bringen“. Das kommt der Sache schon näher, aber man würde doch gerne wissen, welche Veranstalter ein Interesse an der Verhüllung hatten. Kirchentage haben ja nicht nur religiöse, sondern auch politische, soziale und andere Veranstalter.

Das Kunstkollektiv ReCollect hat nun im Rahmen eines Fundraisings ihr Projekt und dessen Genese relativ präzise beschrieben. Danach wollte das Amt für Erinnerungskultur des Kulturamts Stuttgart im Rahmen des Kirchentages ein künstlerisches Konzept zur Kontextualisierung des Kaiser Wilhelm I. Denkmales und hat in diesem Zusammenhang die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD Stuttgart) gefragt. Und die wiederum empfahlen oder verwiesen auf ReCollect. Wie dieses selbst schreibt, besteht das neu gegründete interdisziplinäre Kunstkollektiv ReCollect aus Naemi (Tanz), Nosa (Visual Art) und Alicia (Lyrik). Angefragt wurden sie explizit für ein Dekolonialies Projekt. Sie entwarfen dazu ein mehrstufiges Konzept, dessen erste Stufe nun kontrovers diskutiert wird.

In unserem ersten Projekt namens "DenkMal Nach" widmen wir uns der 18 m hohen Statue von Kaiser Wilhelm I. (1797 - 1888), der ein Wegbereiter des deutschen Kolonialismus ist und dessen Statue bis heute unkommentiert auf dem Karlsplatz im Herzen Stuttgarts thront.
   Die Ausbeutung von Menschen und Land, die Plünderung von Bodenschätzen und Relikten, die Entmenschlichung und Zurschaustellung von Männern, Frauen und Kindern in Menschenzoos sind Aspekte, die thematisiert und aufgearbeitet werden müssen.

Das kann man so machen und gehört zur Freiheit der beteiligten Künstler:innen, nur könnte natürlich daran gedacht werden, dass der Großteil der Amtszeit Kaiser Wilhelms I. in jene Phase des Bismarckschen Wirkens fällt, die gerade kein Interesse am Kolonialismus hatte. Erst unter Kaiser Wilhelm II. tritt Deutschland in einen aggressiven Kolonialismus ein, der sich dann mit der Plünderung der Bodenschätze, der Zurschaustellung von Menschen etc. verknüpft. Kaiser Wilhelm I. dagegen verbindet sich eher mit der Nationalstaatsbildung, vielleicht auch mit Nationalismus, weniger aber mit dem Kolonialismus.

Das Kunstkollektiv zieht nun die Konsequenz:

  1. wir können und wollen die Statue nicht einfach wortlos dort stehen lassen!
  2. Man muss sich nur vorstellen, die letzte Völkerschau fand 1928 in Stuttgart statt und ist keine 100 Jahre her.

Dass Kunstwerke bei den identitätspolitischen Aktivisten immer kommentiert werden müssen und nicht für sich stehen können, hatte ich schon mehrfach kritisiert. Man könnte bestreiten, dass es sich bei dem Denkmal um ein Kunstobjekt handelt, aber tragend ist der Gedanke, dass die Rezeption des Werkes durch Worte kontrolliert werden muss. Ich verstehe den Gedanken, durch neue Kunstaktionen mehr Welterkenntnis zu schaffen, teile den Impuls der Kommentierung aber nicht, weil ich ihn selbst als herrschaftsorientierten wahrnehme. Man muss an dieser Stelle nicht die alte Kontroverse zwischen Kant und Hamann pointieren, aber ich möchte doch schon mit Haman die Frage nach der selbstverschuldeten Vormundschaft der postkolonialen Aufklärer stellen. Warum geben sie gerade an dem Punkt dem europäischen Projekt der Kommentierung des Fremden nach, an dem sie es doch eigentlich kritisieren? Ist die Kommentierung schlecht, wenn sie von weißen alten Männern kommt, und gut, wenn sie von anderen kommt? Oder liegt nicht gerade in der Kommentierung das Problem? Aber wie gesagt, das ist eigentlich Philosophiegeschichte.

Verboten wurden die Völkerschauen in Deutschland übrigens von den Nationalsozialisten (freilich aus rassistischen Gründen, weil Schwarze einem Arbeitsverbot unterlagen und das Zurschaustellen auf Völkerschauen Arbeit war, denn die Zur-Schau-Gestellten wurden ja bezahlt), auch darüber könnte man nachdenken. De facto verloren die Völkerschauen schon vorher an Bedeutung, weil sie durch andere mediale Inszenierungen ersetzt wurden: das Kino und später dann das Fernsehen. Diese befriedigten nun das Interesse der Menschen am Exotismus. Böse gesprochen: Terra X im Zweiten Deutschen Fernsehen ist die heutige, medial aufbereitete Form der Völkerschau. Nur empfindet das keiner mehr als Kolonialismus. Darüber kann man auch mal streiten.

Summa sumarum: die Affentheurlich Naupengeheurliche Geschichtklitterung, die die AfD dem Deutschen Katholikentag unterstellt, ist keine. Weder wird Geschichte gefälscht, noch werden ungebührlich moralische Wertmaßstäbe an historische Tatsachen gelegt. Es handelt sich schlicht um eine Aktion freier Kunst, die temporär in den öffentlichen Raum eingreift und versucht, den Besucher:innen des Kirchentages Kunst als Welterkenntnis nahezubringen. Daran ist nichts Verwerfliches. Es kann nur begrüßt werden. Si tacuisses AfD.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/137/am757.htm
© Andreas Mertin, 2022