01. April 2022

Liebe Leserinnen und Leser,

1510 erscheint anonym die Schrift „Das Münchner Spiel vom sterbenden Menschen“. Es greift in der Anlage die Rahmung des Buches Hiob auf, nur dass wir uns in viel späterer Zeit befinden, denn wenn Gottvater und der Satan in den Dialog treten, dann setzen sie das neutestamentliche Geschehen bereits voraus. Aber mit der Zeitenwende, mit dem Kommen Gottes auf die Erde haben sich die Verhältnisse nicht gewandelt, nicht verbessert, ganz im Gegenteil. Die Gewalt- und Sündenverhältnisse setzen sich fort. Und das bestätigt auch Gottvater und kündigt Strafen an: Pestilencz, hunger, plattern unnd krieg unnd alles übel ich in zufieg. Mich rewt, das ich den menschen erschaffen hab, seyd er vonn sünden nit wil lassen ab. Das kündet von Zeiten, in denen Pandemien, Katastrophen und Kriege noch ungebrochen als Strafen Gottes interpretiert werden konnten – eine Neigung, die manche Theologen auch heute noch reflexhaft haben. Aber diese Welterklärung steht heute nur noch Fundamentalisten, nicht aber aufgeklärten Menschen zur Verfügung. Die Eingrenzung von Pandemien, die Verhinderung von Kriegen ist eine Aufgabe für die Menschen und die von ihnen gewählten Repräsentant:innen.

Und so muss man sich fragen, wie es kommt, dass wir nicht genügend Vorkehrungen getroffen haben, willkürlich herbeigeführte Kriegshandlungen bereits im Vorfeld zu verhindern. Nun aber stehen wir mitten in einem sich bereits länger abzeichnenden Krieg, der die europäische Nachkriegsordnung in ihren Grundfesten erschüttert.

Für eine Großzahl der Leser:innen wird das eine neue Erfahrung sein, ein Angriffskrieg in Europa, den ein souveräner Staat gegen einen anderen führt, um ihn sich einzuverleiben. Die Hoffnung, dass die Zeit des europäischen Friedens langfristig aufrechterhalten werden könne, hatte ja schon in den Jahren zuvor manche Brüche bekommen, aber so dramatisch wie im Augenblick war es lange nicht. Theo Sommer hat in der ZEIT darauf verwiesen, im Blick auf die zu entwickelnde Ordnung nach diesem Konflikt wäre es gut, noch einmal Immanuel Kants Schrift „Vom ewigen Frieden“ zu lesen, die sich als überraschend aktuell erweist.

Ursprünglich sollte sich diese Ausgabe des Magazins mit dem Lübecker Totentanz und der Ikonographie der Auferstehung Jesu Christi in der christlichen Kunstgeschichte beschäftigen. Aber es ist nicht möglich, in diesen Zeiten nur in der alten Kunst zu stöbern. Deshalb haben wir die aktuelle Ausgabe etwas umgestellt und gehen in verschiedenen Beiträgen auf den Krieg in der Ukraine ein.

Die Rubrik VIEW eröffnet mit einem Text von Mathias Kissel über Hugo Distlers Totentanz als liturgische Musik und Zeugnis der Befindlichkeit. Es ist eine Hinführung zu dem wesentlich umfangreicheren Text seiner Dissertation, die wir ursprünglich an dieser Stelle veröffentlichen wollten, was sich aber vom Umfang her leider nicht realisieren ließ. Dafür kann sie nun vom Server der Universität Paderborn heruntergeladen werden.

Die drei folgenden Texte sind aus Anlass und in Auseinandersetzung mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine entstanden. Andreas Mertin versucht das Unmögliche, nämlich in diesen ethisch zugespitzten Zeiten, einen ästhetischen Blick auf das Geschehen zu werfen, eine alte Debatte über die Ästhetisierung der Politik und die Politisierung des Ästhetischen aufgreifend. Karin Wendt setzt sich mit einen Antikriegssong auseinander, den der Sänger Sting bereits 1985 performt hat und nun unter dem Eindruck des Ukrainekrieges neu interpretiert.

In der Rubrik CAUSERIEN greift Andreas Mertin eine Artikelserie auf, die er vor zwei Jahren anlässlich der Pandemie begonnen hatte und die sich mit der Lehre der leeren Städte beschäftigte, wie man sie per Webcam 2020 in vielen Städten der Welt beobachten konnte. Und er fragt: wie sieht diese Lehre der leeren Städte 2022 im Angesicht eines Angriffskrieges aus? Etwa am Beispiel von Kiew? Das funktioniert so lange, bis die Webcams nach einem Monat abgeschaltet wurden.

Unter RE-VIEW stellt Wolfgang Vögele das Buch Vernichten von Michel Houellebecq vor. Andreas Mertin verweist auf eine Kulturgeschichte des Nackten und des Heiligen und setzt sich in der Rubrik POST mit dem neuesten Videoclip zu Adeles Stück Oh my God auseinander: er handelt vom Apfel, der Schlange, dem Sündenfall und von Stühlen.

Für dieses Heft wünschen wir eine erkenntnisreiche Lektüre!

Andreas Mertin, Wolfgang Vögele und Karin Wendt
sowie Jörg Herrmann und Horst Schwebel


Leserinnen und Leser, die Beiträge zu einzelnen Heften einreichen wollen oder Vorschläge für Heftthemen haben, werden gebeten, sich mit der Redaktion in Verbindung zu setzen.



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