„Das Heilige und das Nackte“

Eine Rezension

Andreas Mertin

Hofer, Markus (2022): Das Heilige und das Nackte. Eine Kulturgeschichte. Innsbruck: Tyrolia Verlag.

[Pressetext] Heilig ist heilig – und nackt ist nackt. Doch der Versuch, Sexualität aus der Religion und dem religiösen Erleben zu verbannen, scheitert unweigerlich. Zu stark ist die Sexualität als sich Wege bahnende Kraft. Und dabei hat das Moralisieren noch nie viel genützt, sondern macht die Sache erst interessant!

In seinem– durchaus auch humorvollen – Gang durch die Kulturgeschichte erläutert der Autor pointiert und doch fundiert die vielen Gesichter des immerwährenden lustvollen Spannungsverhältnisses zwischen diesen beiden, den Menschen so bestimmenden Bedürfnissen. Von der Venus von Willendorf arbeitet er sich über göttliche Kurtisanen und barbusige Ägypterinnen vor zu der idealisierten Nacktheit der Griechen. Von der Lustfeindlichkeit des Augustinus gelangt er ins gar nicht so finstere Mittelalter der stillenden Marien oder bis in die gar nicht so aufgeschlossene, von Syphilis, Hexenwahn, Reformation und Gegenreformation gepeinigte Neuzeit. Dabei zeigt er deutlich: Je rigider die Sexualmoral einer Gesellschaft, desto nackter werden die Heiligen in der katholischen Bilderwelt, umso mehr blitzt der Busen der büßenden Maria Magdalena oder posed leidend der entblößte Sebastian.

Gab es das Goldene Zeitalter der Unschuld und ist Scham eine gesellschaftliche Erfindung? Welchen Zweck erfüllte Kleidung und war die Tempelprostitution nur ein Mythos? Wie war das mit den unbekleideten Männern des Michelangelo und wie mit der Ekstase der heiligen Theresa? Markus Hofer macht sich auf die Suche nach den nackten Wahrheiten biblischer Stoffe und stöbert in aristokratischen Privatgemächern lustvolle Werke der berühmtesten Künstler auf. Er zeigt, wie sehr die Kunst zur Versinnlichung des Glaubens beigetragen hat und wie die frühere Sehnsucht nach der Schönheit heute oft zum Geschäft mit Sexualität und Selbstdarstellung verkommen ist. [/ Pressetext]


Das Buch von Markus Hofer geht der Kulturgeschichte der wechselhaften Beziehung des Heiligen und des Nackten nach. Es ist ein kompliziertes und doch auch naheliegendes Thema, das freilich auch am Voyeurismus partizipiert, der dem Thema bis heute weiterhin anhaftet. Dabei ist weder klar, was das Heilige eigentlich ist (etwa im Unterschied zum Religiösen), noch was das Nackte ist (im Unterschied zur Akt-Darstellung).

Das Buch gliedert sich in vierzehn Kapitel, von den grundlegenden Motiven der menschlichen Frühzeit, über Nacktheit in alten Kulturen, in den Anfängen des Christentums über das Mittelalter, Renaissance und Barock bis zur Moderne. Damit ist ein (m.E. zu breit angelegtes) weites Feld abgesteckt, das in der Fülle dann schon wieder unübersichtlich wird. Hier wäre es produktiver gewesen, die Schnitte durch die Zeitschichten etwas präziser auf eine Religion und ihre Vorgeschichte zu begrenzen, zumal ein guter Teil des mittelalterlichen und neuzeitlichen Materials aus der christlichen Kunstgeschichte stammt.

Das Buch zeichnet aus, dass es seine visuellen Argumente auch in Farbe präsentiert. Oftmals sparen Verlage ja an der Farbausstattung – das ist hier nicht der Fall. Alle wichtigen Bilder werden gezeigt. Bei der Bewertung des einen oder anderen kann man geteilter Meinung sein, aber das schmälert nicht das Verdienst des Buches, die wichtigsten Bilder in einen Zusammenhang gebracht zu haben.

Was ich vermisst habe, sind Grundlegungen, die andere Forscher wie John Berger oder Georges Bataille schon früher zum Thema geleistet haben. Beide kommen nicht im Buch vor, obwohl Peter Bergers Differenzierung von Akt- und Nackt-Darstellung, die er in seinem klugen kleinen Bändchen „Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt“ bereits 1972 vorgenommen hatte, für das Thema sehr hilfreich gewesen wäre. Auch die Darlegungen des Exzentrikers Georges Bataille in seinem einschlägigen Buch „Der heilige Eros“ (1963 auf Deutsch erschienen) hätten m.E. Berücksichtigung finden müssen.

Was die moderne Kunst betrifft, so gibt es zwar ein Kapitel zum Hl. Sebastian, aber Abbildungen der wichtigen Werke z.B. von Pierre & Gilles zum Thema fehlen. Da gerade hier die aktuellen Konfliktfelder der katholischen Ikonographie liegen, wäre eine eigene Diskussion zu diesen Arbeiten, die inzwischen ja auch in katholischen Kirchen gezeigt worden sind, wichtig gewesen.

Auch die Konzentration auf des explizit Nackte kann man in Frage stellen. Die spannenden Bilder der christlichen Kunstgeschichte sind m.E. jene, bei denen der Akt erst im Kopf des in der Regel männlichen Betrachters entsteht. Also nicht die expliziten, in den erotischen Kitsch abgleitenden Bilder der büßenden Maria Magdalena nach der Erzählung der Legenda Aurea, sondern die ambivalenten Bilder des „Noli me tangere“, bei denen im Johannes-Evangelium der Maria Magdalena als Frau etwas verwehrt wird, was sieben Kapitel später dem ungläubigen Thomas als Mann erlaubt wird. Hier in der Auslegung die Dialektik von Heiligem und Erotischem, von männlichen und weiblichen Gesten zu entwickeln, wäre eine wahre Herausforderung gewesen.

Auch die Sexualisierung einer Geste innerhalb des Themas Noli me tangere, die sich an einem Motiv ausgehend von einer Studie Michelangelos offenbar aufgrund der Nachfrage nach einer expliziteren Version entwickelt hat, würde das Thema „Heiliges und Nacktes“ noch treffender erläutern:

 

Gerät bei Michelangelo und seinen Schülern die Geste des auferstandenen Jesus immer expliziter in Bezug auf die Brüste der Maria Magdalena, so entfaltet sich die Gestik auf einem Gemälde zum gleichen Thema des Caravaggisten Giovanni Battista Caracciolo aus der Zeit um 1620 andersherum. Hier ist es Maria Magdalena, der eine explizite Gestik zugeordnet wird, während Christus dandyhafter dargestellt ist. Für die Betrachter:innen der damaligen Zeit war der Sub-Text durchaus lesbar.

Aber vielleicht gibt es ja einen Folgeband, der dem Akt im Kopf des christlichen Betrachters nachgeht, der nicht nach dem Offensichtlichen, sondern nach dem implizit Expliziten fragt. Es wäre zu wünschen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/136/am751.htm
© Andreas Mertin, 2022