Belichtungen

Mutmaßungen über die Ontologie der Oberflächen
Reflexionen über das Verhältnis von Fotografie und Theologie

Wolfgang Vögele

Das ganze Leben, dieses ganze Schauen.
Leute schauen. Aber was sehen sie?
Don DeLillo

Rätselhaft wirkt wiederum,
warum Protestanten so gern fotografieren.

Gerhard Schmidtchen

Trinkt, o Augen, was die Wimper hält,
Von dem goldnen Überfluss der Welt!
Gottfried Keller

1. Licht

Das Verhältnis von Theologie und Fotografie ist bisher sträflich vernachlässigt worden, dabei hat die Theologie den Fragen nach gemalten Bildern, nach Urbild und Abbild, nach Original und Kopie, jahrhundertelang auf der Bildtheorie und sich intensiv mit dem ontologischen Status der gemalten Bilder, ihrer möglichen Verehrung und Anbetung, auseinandergesetzt. Die Frage, ob Bilder des Erlösers als Gekreuzigter oder Auferstandener wie der Erlöser selbst angebetet werden dürfen, hat mit zur Spaltung des Christentums in Ost- und Westkirche beigetragen. Im Westen repräsentierte die Darstellung des Gekreuzigten oder des Auferstandenen nur den wahren Christus, während die Kirchen im Osten Bild und Urbild gleichsetzten: In der Abbildung erscheint der wahre Christus und als solcher wird er auch angebetet.

Diese theologische Auseinandersetzung wiederholte sich in der Kunstgeschichte mit der Frage nach dem ontologischen Status der Abbildung einer Person. Kann das gemalte, gezeichnete oder fotografierte Porträt die wirkliche Person ersetzen? Durchgesetzt hat sich die Position, dass Abbild nicht das Original ersetzen kann, aber Fotoporträts des Bundespräsidenten in Amts- und Polizeistuben sowie des Papstes in Sakristeien vermitteln noch eine Ahnung von der alten Überzeugung, dass in der gerahmten Fotografie die bildhaft anwesenden obersten Autoritätspersonen mindestens eine Ahnung von den hierarchischen Machtverhältnissen wiedergeben. 

Die Fotografie kommt zu spät als Medium der Kunst hinzu, als dass sie diese philosophischen und bildtheoretischen Auseinandersetzungen noch hätte bereichern können. Die Verhältnisse von Urbild und Abbild sind da schon – vermeintlich? – geklärt, und zwar im Sinne einer hierarchischen Nachordnung von Original und vervielfältigtem Bild. Das repräsentierende fotografierte oder gemalte Porträt ist der wirklichen Person, zumal im Zeitalter der massenhaften Verbreitung von Selfies, keineswegs gleichwertig. Und die Selfies haben auch dafür gesorgt, dass Porträts nicht mehr als Abbilder einer Person gelten[1], sondern dass sie, insbesondere in der Gestalt von Selfies, in der Regel unvollkommene Momentaufnahmen von Personen wiedergeben. Selfies sind nicht auf Dauer angelegt. Ihr Wert erlischt, sobald das nächste Selfie die alten Aufnahmen ersetzt.

Man muss die mögliche Verbindung zwischen Fotografie und Theologie nicht über den ontologischen Status von Bildern ersetzen. Ich setze an bei einer anderen Verknüpfung. Dante Alighieri (ca. 1265-1321), dessen siebenhundertster Todestag in diesem Jahr begangen wird, kannte die Fotografie selbstverständlich noch nicht. Aber bei ihm finden sich Reflexionen über Gott als Licht, und sie lassen sich fruchtbar machen für die Verhältnisbestimmung zwischen Fotografie und Theologie. Die in der Divina Commedia[2] vorausgesetzte und insbesondere im Paradiso entfaltete Theologie ist in ganz erheblichem Maße dadurch bestimmt, dass Gott als die ursprüngliche Lichtquelle, als Sonne verstanden wird. Indem Gott die Welt beleuchtet, wird sie zugleich ins Leben gerufen und am Leben erhalten. Im himmlischen Jenseits verstärken sich diese Lichtwirkungen noch. Im Inferno, wo die Schatten der Seelen wandeln, herrscht Dunkelheit. Je weiter Dante im dritten Teil der Divina Commedia ins Zentrum des Paradieses gelangt, desto heller wird es. Desto mehr wird Dante als Paradiesbesucher von der strahlenden Sonne Gottes geblendet, auf die er nicht mehr schauen kann. Der Blick auf Gott bleibt ihm verwehrt. Im Paradies herrscht ein Übermaß an Licht, und die kirchlichen Hierarchien der Seligkeit werden vollständig durcheinander geworfen: Die großen Theologen wie Augustin und Thomas stehen über den korrupten Päpsten, und die vom Dichter verehrte Beatrice rückt in die Nähe der Gottesmutter Maria. Je mehr göttliches Licht auf das Paradies fällt, desto mehr verwandelt sich die Szene ins Surreale und Traumhafte. Gott ist weder Gegenstand noch Gegenüber, sondern strahlende, blendende Lichtquelle, der mit biblischen Gründen niemand ins Angesicht schauen kann (Ex 33,20).

Diese Lichttheorie Dantes läßt sich mit guten Gründen spekulativ ins Astronomische[3] ausweiten, aber sie bietet auch einen Anknüpfungspunkt für die Fotografie. Nicht umsonst haben bei der Ausstellung „Die Göttliche Komödie. Himmel, Hölle, Fegefeuer aus Sicht afrikanischer Gegenwartskünstler“ 2014 im Frankfurter Museum für Moderne Kunst[4] viele der um Werke gebetenen asiatischen, afrikanischen und amerikanischen Künstler sich des Mediums der Fotografie bedient.  Fotografie ist Wahrnehmung der Welt im Licht, auch wenn das die Darstellung von Schatten keineswegs ausschließt. Folgt man Dantes Licht-Theologie, so könnte man Fotografie auch als lichtbezogene Wahrnehmung von Gottes Schöpfung begreifen, wobei zu Gottes Schöpfung auch ihre mutwillige Zerstörung und ihr Elend gehören würden. Denn die Räume, die Dante durchschritt, die jenseitige Welt von Inferno, Purgatorio und Paradiso, bleiben der Fotografie verwehrt. Das Licht ist für Dante aber auch das, was diese und jene Welt verbindet. Fotografie experimentiert mit Licht, sie steht ontologisch in einem bestimmten Verhältnis zur Zeit (der Augenblick!) und zu den Oberflächen des Gesichts, der Landschaft, der Szene. Diese Verbindungsgedanken wären des Nachverfolgens wert.

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Einen Moment lang will ich beim Begriff der Wahrnehmung bleiben, denn er wird hier nicht im trivialen Sinn des Zur-Kenntnis-Nehmens verstanden, sondern in einem emphatischen Sinn. Das wird schnell deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt wie der österreichische Heimito von Doderer über die kreativen Schreibaufgaben von Schriftstellern gedacht hat: „Denken wie der Tiger springt; schreiben wie der Bogenschütze schießt; wachsam sein und scharf sehen wie ein Raubvogel in den Lüften: das zusammen macht einen Autor.“[5]  Doderer dachte beim Autor vor allem an den Romancier, der bei seinem epischen Erzählen Struktur, Gliederung, Spannungsaufbau und Gleichgewichte im Auge behalten muss. Der Fotograf ähnelt nicht dem Romancier oder Epiker mit seiner enzyklopädischen, umfassenden Perspektiven. Fotografien gleichen als Momentaufnahmen eher den kleinen Gattungen der Literatur, dem Aphorismus oder dem Gedicht. Trotzdem: Der Fotograf braucht wie der Schriftsteller den scharfen Blick, wobei sich der Blick durch den Sucher vom freien Blick der Augen unterscheidet. Um seinen Blick freizustellen und kreativ zu öffnen, muss er nachdenken, anordnen, reflektieren. Und er muss den richtigen Moment abpassen. Insofern gleicht er dem Flaneur, der durch einen Park, eine Altstadt oder ein Quartier streift und sich dabei von seinen zufälligen Beobachtungen leiten läßt, die er dann je nach Vorliebe aufschreibt, zeichnet, fotografiert.

Fotografie ist eine besondere Form der Wahrnehmung der Welt. Es lohnt sich, deren Eigenheiten und Besonderheiten zu beschreiben und den Versuch zu machen, dieser Form mit der Perspektive des Lichtes eine theologische Deutung zu geben. Dieser Aufgabe will ich mich in diesem Essay stellen.

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Demoskopen haben schon früh, in den Siebzigern, bemerkt, dass Fotografieren eine typisch evangelische Tätigkeit ist. Der Soziologe Gerhardt Schmidtchen war verwirrt, als er im Jahr 1973 beobachtete: „Rätselhaft wirkt wiederum, warum Protestanten so gern fotografieren. Sie, die mehr als die Katholiken im Bewußtsein absoluter Vergänglichkeit leben, möchten vielleicht festhalten, was sie leidenschaftlich lieben: das Bild dieser Welt. Denkbar wäre zudem ein übergeordnetes Motiv, dem Grauen der Nichtigkeit entgegenzuwirken, das totaler Weltimmanenz eigen ist.“[6]  Das flüchtige, vorübergehende Bild muss festgehalten werden; mit ihm kämpfen fotografierende Protestanten, aber auch Katholiken und Angehörige anderer Religionen, gegen das fluide, vergängliche Nichts. Es zeigt sich also auch in Schmidtchens Mutmaßungen über evangelische Fotografieleidenschaft ein verborgenes theologisches Motiv: das Festhalten und Archivieren des Vergänglichen, Momenthaften, Todgeweihten. Damit wird in die statisch-kosmische Licht-Theologie Dantes ein zeitliches Motiv eingebracht. Auch diesem Motiv wäre nachzuspüren, wenn auch zu konzedieren ist, dass Schmidtchen in den Siebzigern noch von der Existenz fester konfessioneller Milieus ausgehen konnte, was sich fünfzig Jahre später nahezu vollständig verloren hat.

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Verloren hat sich fünfzig Jahre später jeglicher elitäre Charakter der Fotografie. Via Instagram und anderen soziale Bildmedien ist die Fotografie zum Massenmedium geworden, das fast schon wieder unmodern und überholt wirkt. Die Fotografie ist durch die Digitalisierung und die Integration des Fotoapparates in das Handy schneller und unmittelbarer geworden. Das unterscheidet sie mittlerweile vom gemalten oder gezeichneten Bild, das viel an Vorbereitung, Material und künstlerischen Fertigkeiten und von der Vorbereitung über Skizze, Ausführung, Trocknen und Rahmen des Bildes einfach viel Zeit und Aufwand benötigt. Und das Handy findet sich stets in der Hosentasche der Passanten, es braucht nicht mehr den großen Aufwand einer Plattenkamera vom Ende des 19. Jahrhunderts, die auf ein Stativ gestellt werden muss und Belichtungszeiten von zwanzig, dreißig Sekunden benötigt.

Unmodern wirkt die Fotografie in ihrer Statik und Momenthaftigkeit gegenüber dem immer populärer werdenden Film, der einfach abbildet, was dem ‚Kameramann‘ oder der ‚Kamerafrau‘ vor dem eingeschalteten Handy auffällt. Umgekehrt heißt das: Um eine gute und verblüffende Aufnahme zu machen, muss der Fotograf sehr darauf achten, den richtigen Augenblick (theologisch gesprochen: den Kairos) abzupassen, während der filmende Handynutzer einfach draufhalten kann. Die Kosten von Material, Speicher etc. spielen im digitalen Zeitalter keine Rolle mehr.

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Aus diesen Blitzlichtern (1) ergibt sich folgende Gliederung. Ich setze ein mit Bemerkungen über das Verhältnis von Theologie und Fotografie (2), frage danach nach dem biblischen Verständnis des Bilderverbots (3). Daraus ergibt sich ein Verständnis von Fotos als abgebildeter Geheimnisse (4). Die Suche der Fotografen nach Bildern ist von bestimmten Techniken abhängig (5) sowie von unbedingt notwendiger vorauslaufender Reflexion über Motive und Werkzeuge (6).  Um den besonderen Charakter des Fotografierens besser herauszupräparieren, vergleiche ich Fotografieren und Schreiben (7). Schließlich wird angedeutet, wie die wachsende Kultur des Digitalen das Fotografieren verändert hat: Fotografie verwandelt sich von einer Kunst in ein Alltagsmedium (8). Am Ende fasse ich die theologischen Konsequenzen aus meinen Überlegungen in drei kurzen Punkten zusammen (9).

Es soll noch vorausgeschickt werden, dass dieser Essay nur ein Anfang sein kann, um das Verhältnis von Fotografie zu bedenken. Beim Schreiben wurde mir erschreckend klar, dass jede Frage, die man stellt, um das Verhältnis aufzuklären, mehrere andere Fragen nach sich zieht. Dieser Essay ist also im wahren Sinne des französischen ‚essayer‘ ein Versuch, der andere, zuerst die Leserinnen und Leser hoffentlich in Versuchung bringt, sich selbst mit dem Thema zu beschäftigen. Am Ende einer solchen Wegstrecke könnte dann der Versuch stehen, einen theologischen Essay nicht mehr zu schreiben, sondern mit einer Folge von Bildern zu argumentieren. Aber das bleibt vermutlich einer meiner publizistischen Träume.

2. Theologie und Fotografie

Der Dialog zwischen Theologie und Ästhetik hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten sehr stark intensiviert und sich konzentriert auf bildende Kunst, Musik, Architektur und Literatur[7]. Fotografie hatte als vergleichsweise junge Kunst stets Mühe, sich zwischen den genannten, etablierten ästhetischen Bereichen zu behaupten. Stets wurde ihr ein Zug ins Populäre, Triviale oder Banale unterstellt, und deswegen hat sie die Theologie, nicht einmal die praktische Theologie, nie richtig ernst genommen.

Evangelische Theologie hat sich zur Gesamtheit der Welt stets darin verhalten, dass sie sie als Schöpfung[8] bezeichnet hat. Damit war der Generalbegriff dessen bestimmt, was Gott aus dem Nichts oder dem Tohuwabohu des Anfangs als gute, dynamische Ordnung geschaffen hat. Lange vorbei sind die Zeiten, da biblische Schöpfungstheologie mit naturwissenschaftlichen Weltentstehungstheorien, seien sie astronomischer (Urknall) oder biologischer (Evolution) Provenienz, in Konkurrenz stand. Der Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaften hat ergeben, dass biblische Schöpfungserzählungen und naturwissenschaftliche Theorien auf verschiedenen Ebenen argumentieren. Es macht, trotz versprengter Reste fundamentalistischer Kreationisten, keinen Sinn mehr, diese Auseinandersetzung weiter zu befeuern.

Im Begriff der Schöpfung verhält sich die Theologie zur Welt, und sie nutzt dafür auch weitere Theologumena, dasjenige der Erhaltung der Welt und dasjenige ihrer Erlösung. Aus der Verknüpfung dieser drei Begriffe ergibt sich das Grundgerüst der evangelischen Dogmatik, vom Anfang (Schöpfung) über die Gegenwart (Erhaltung) bis zur Zukunft (Erlösung, Gottes Reich) der Welt. In dieses Grundgerüst werden die Fragen nach dem Ursprung der Sünde, dem Ursprung des Bösen, der Kontingenz und des Unerwarteten eingeschrieben und in wie auch immer gestalteten christologischen Reflexionen beantwortet. So ergibt sich ein Gesamtbild, in dem die Welt von Gott her und auf Gott hin entworfen wird. Die Theologie zeichnet diesen Prozeß der Überwindung des Bösen schöpfungstheologisch, christologisch und eschatologisch nach.

In der Sozialethik hat sich in den letzten Jahrzehnten daneben ein ethisches oder ethisierendes Verständnis von Schöpfung ausgebreitet, das im Kontext der Debatten um globale Klimaveränderungen zu einiger Popularität gelangt ist. Dieses Verständnis drückt sich in der ökumenischen Formel von „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ aus. Diese im Grunde sehr offene Formel ist in der Regel so verstanden worden, dass für die Bewahrung der Schöpfung nicht mehr der den Kosmos und die Welt erhaltende Gott, sondern der Mensch selbst zuständig ist: Er soll, zumindest als Helfer Gottes, sein Scherflein zur Erhaltung der Welt beitragen. Menschen werden damit zu tätigen Mitarbeitern Gottes, der je nach Qualität der Theologie immer weiter in den Hintergrund der Reflexion rückt. Die These vom Kooperator führte bei vielen, insbesondere im Milieu der Erwachsenenbildung und Kirchentage, zu einer Moralisierung des Schöpfungsbegriffs. Schöpfung wurde in der evangelischen Theologie zu einem Begriff, der sozialethisch über- und phänomenologisch unterdeterminiert ist. 

Aber bevor politisch und moralisch gehandelt werden kann, müssen die Verhältnisse der Welt, d.h. der Schöpfung erst einmal wahrgenommen werden. Und in dieser Wahrnehmung findet sich eine Perspektive für die Einordnung der Fotografie in die Theologie. Das Fotografieren selbst und das Nachdenken darüber haben mich überzeugt, dass im Begriff der Wahrnehmung die Brücke zwischen Fotografie und Theologie zu sehen ist. Der englische Romancier D.H. Lawrence schrieb in einem seiner Gedichte über das Verhältnis von Denken und Wahrnehmen:

„Thought is gazing onto the face of life, and reading what can be read,
Thought is pondering of experience and coming to conclusions
(…)
Thought is man in his wholeness, wholly attending.”

In einem Band mit Essays des englischen Kulturkritikers John Berger wird der letzte Vers so übersetzt: „Denken ist ein Mensch, völlig und ganz dem Wahrnehmen hingegeben.“[9] Lawrence hat wohl ein Gedicht über das Denken geschrieben, aber der Herausgeber des Fotografie-Theoretikers Berger zielt auf den letzten Vers, die Verbindung von Wahrnehmung und Denken. Beides verbindet sich zu einer Anthropologie: Das beobachtende Ich erschließt sich die Welt. Denken bedeutet dann nicht mehr die isolierte, weltfremde Tätigkeit eines Subjekts im Elfenbeinturm seines Bewußtseins. Die Verbindung von Wahrnehmung und Denken zielt auf die Verbindung von Subjekt und Welt, auf Anteilnahme, Liebe, Solidarität, auf – theologisch gesprochen – Bewahrung der Schöpfung und Respekt vor ihrer Eigenheit. Es ergibt sich eine relationale Anthropologie. Der Kulturkritiker Berger nutzt diese implizite theologische Dimension in seinen folgenden Überlegungen nicht aus.

Eher zielt er auf das politische Moment des Fotografierens. Am Beispiel einer Fotografie des toten Che Guevara zeigt er implizite Botschaften: Der Kommunismus ist besiegt, leblos tot. Andere Menschen (Sieger? Leichenbeschauer? Bürgerkriegsgewinnler?) stehen ratlos um ihn herum. Interessant für den Betrachter ist nicht die Oberfläche des Bildes, das Dargestellte, sondern das Implizite, was sich darin verbirgt. Das gilt so auch – ein riesiger Sprung - für die Bilder der Influencer von heute: Sie zeigen auf ihren Instagram Accounts Selfies mit neuester Mode und Accessoires. Sie verbreiten mit ihrer Selbstdarstellung die Botschaft: Ich bin lebendig durch das, was ich trage. Bitte beachtet und kauft, was ich euch zeige. Indem ihr Betrachter die von mir empfohlenen Kleiderstücke kauft, eignet ihr euch ein Stück von meiner Beliebtheit, Bekanntheit, von meinem Glamour oder meiner Eleganz an. Unter der Oberfläche der Bilder finden Prozesse der Übertragung von Identität statt.

Berger präpariert dieses Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem genau heraus. Es macht den Kern seiner Theorie der Fotografie aus. „In dem Moment, da die Fotografie etwas Gesehenes aufzeichnet“, schreibt er, „verweist sie immer und unentrinnbar auf etwas Nicht-Gesehenes. Die Fotografie isoliert, bewahrt und präsentiert einen aus einem Kontinuum herausgeschnittenen Augenblick. (…) Die Sprache der Fotografie ist die Sprache der Ereignisse. Aller ihre Bezüge richten sich auf etwas anderes als sie selbst.“[10] Fotografie weist über die Oberfläche, das Gesehene hinaus. Fotografien lassen sich in verschiedene Kontexte implantieren. Mit der steigenden Zahl der Verweise auf das Nicht-Sichtbare, auf den Kontext außerhalb der sichtbaren Fotografie, steigt deren Qualität.

Berger nutzt dieses Gegenüber von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, um Fotografie von der Malerei zu unterscheiden. So völlig trennscharf kommt mir diese Unterscheidung allerdings nicht vor. Denn auch ein (gemaltes) Bild kann den entscheidenden Moment einer Geschichte zeigen, eine Enthauptung, einen Kuss, den Handschlag bei einem Vertrag. Auch in diesem Fall verweist das Bild, egal ob gemalt oder fotografiert, auf Kontexte außerhalb seiner selbst, nämlich auf seine Vorgeschichten und auf sein Nachleben. Die Qualität eines Bildes erhöht sich mit dem Gehalt an Ungesehenem und Angespieltem, auf das er verweist. Der Kuss – ob gemalt oder fotografiert - lässt nach der Liebesgeschichte fragen, die zu ihm hingeführt hat, und nach der Partnerschaft (oder Trennung), die auf ihn folgt. Die Hinrichtungsszene wiederum – ein politisches Beispiel - lässt nach Taten, Prozess und Urteil, ebenso nach den politischen und juristischen Folgen fragen.

Fotografie zielt mit Berger auf das Ungewöhnliche, wobei letzteres in einem sehr abstrakten Sinn zu verstehen ist. Nur das Ungewöhnliche hat eine Geschichte, das Normale, Alltägliche und Gewöhnliche bleibt so selbstverständlich, weil es ja jeder schon so gesehen und erlebt hat. Ein verwelktes Blatt im Herbstsonnenschein spiegelt auch die Geschichte von Wachstum, Blüte und Vergehen, von Frühling und Sommer, aber solche Fotos schlittern – wie auch die berüchtigten Sonnenaufgänge – stets hart am Kitsch vorbei, weil solche Fotos jeder schon kennt und tausendfach gesehen hat.

Berger schreibt: „Eine Fotografie ist gelungen, wenn der gewählte Moment ihrer Aufnahme ein Maß an Wahrheit enthält, das allgemein anwendbar ist, und wenn die Fotografie genauso viel über das mitteilt, was auf ihr fehlt, wie über das, was sie abbildet.“[11] Dabei können die Themen aus ganz verschiedenen Bereichen kommen, seien es Liebe und Erotik, politische Gewalt und Gerechtigkeit, Schönes und Hässliches. In der Fotografie des Herbstblattes fehlt zunächst einmal nichts, das Blatt steht für sich selbst, deswegen langweilt es ja so schnell. Es ist schon tausende Male abgebildet worden, die Kontexte sind längst abgeschritten. Der zu oft gezeigten Fotografie des Herbstblattes ist das Geheimnis abhandengekommen. Wer dennoch Herbstblätter zeigen will, der kann zum Beispiel sehr nahe an sein Objekt herangehen: Damit verliert das Herbstblatt seine Besonderheit, es ist nicht ein Exemplar unter Tausenden, sondern es gewinnt eine faszinierende Besonderheit an Farben, Formen, Texturen. Es gewinnt eine Singularität, die nun ihrerseits wieder Reiz für die Betrachter gewinnt.

Der Bezug solcher Überlegungen zu Religion und Theologie ist nicht sekundär, Berger kommt auf diese Verknüpfung selbst zu sprechen: „Es war eine rationalistische Illusion, dass die Geheimnisse sich verringern würden, wenn man sich der Religion entledigte. Ganz im Gegenteil, die Geheimnisse haben sich vervielfältigt.“[12] Und genau diese Geheimnisse machen Fotografen zum Motiv, wenn sie sich nicht mit der Abbildung des Banalen zufriedengeben.[13] Die Qualität einer Fotografie bemisst sich an der Aura des Geheimnisvollen oder – wem das zu idealistisch oder spirituell ist – des Unerklärbaren, das ein Bild in einer Aura umgibt.

Geheimnisse sind es, die die Welt vieldeutig und undurchschaubar machen. „Es ist nicht nötig, uralte religiöse und magische Vorstellungen auszugraben, die alles Sichtbare für nichts anderes als eine verschlüsselte Botschaft hielten. (…) Philosophisch können wir dem Rätsel ausweichen, aber von ihm wegsehen können wir nicht.“[14] Diesen Blick auf mögliche Geheimnisse zu kultivieren, das ist für Berger Aufgabe der Fotografie. Und diese Aufgabe ist – über Berger hinausgehend - theologisch grundiert.

Wer als Fotograf einen wie immer gearteten Ausschnitt der Wirklichkeit abbildet, der zeigt einen Teil von dem, was größer ist als die Fotografie, einen Teil der Welt, in der er lebt. Der abgebildete Ausschnitt einer Fotografie ist Teil einer größeren Welt, der sich der Fotograf hinter dem Apparat gegenübersieht. Diese Welt, die sich vor dem Objektiv ausbreitet, hat der Fotograf nicht geschaffen. Fotografie ist darum auch die Anerkennung des Umfassenden, dessen, was größer ist als die eigene Subjektivität, des Fotografen zuerst und später der Betrachter.

Das gilt selbst noch für den trivialen und selbstreferentiellen Fall, dass Handynutzer ein narzisstisches und egoistisches Selfie schießen. Fotografie ist die modernisierte Revitalisierung der alten religiösen Praxis, innerhalb der Welt magische Orte, Zeiten und Rituale vom trivialen Alltag abzugrenzen und so in spiritueller und theologischer Tätigkeit heilige, geheimnisvolle Orte ‚herzustellen‘. Die platte religiöse Verzauberung der Welt ist, bedingt durch Prozesse der Entsakralisierung, der Säkularisierung und Technisierung, nicht mehr möglich. Der Fotograf dagegen sucht kompensierend Orte, Räume und Zeiten des Heiligen; er versucht, Geheimnisse hinter dem Offensichtlichen sichtbar zu machen. Er arbeitet darum in bestimmter Weise an einer Heiligung der Welt.

Es gerät, wer sieht und wahrnimmt und fotografisch festhält, auf eine religiöse Spur: Denn wer vom aufgenommenen Ausschnitt der Welt auf ein größeres Ganzes schließt, der kann auch mit guten Gründen über ein ‚Wesen‘ spekulieren, das diese Welt in Gang gesetzt hat. Berger drückt das so aus: „In jedem Akt des Sehens liegt die Erwartung von Sinn. Diese Erwartung ist etwas anderes als der Wunsch nach einer Erklärung. (…) Offenbarungen ergeben sich im Allgemeinen nicht leicht. Die Erscheinungen sind so komplex, dass nur das Suchen, das im Akt des Sehens liegt, Verständnis aus dem ihnen zugrunde liegenden Zusammenhang gewinnen kann.“[15] Der Fotograf sieht das Dauernde (und Geheimnisvolle) im Augenblick, Theologen und Glaubende suchen die Ewigkeit in der Zeit. 

Es ergeben sich aus diesen Reflexionen eine Fülle von Parallelen: Gott, Ewigkeit und Augenblick lassen sich weder in einem Foto noch in Glaubensüberzeugungen festhalten. Trotzdem stiften Fotos und Überzeugungen Sinn, indem sie Geheimnisse sichtbar machen. Das aber ist kein Sinn, der zur Rechthaberei einlädt, er bleibt zerbrechlich und läßt sich keinesfalls in Zwang, Rechthaberei oder bornierten Fundamentalismus umprägen und klerikal-autoritär weitervermitteln.  Er stellt eine komplexe Haltung dar, die unausgesprochene Voraussetzungen und Konsequenzen enthält. Diese widersetzen sich ihrer vollständigen Versprachlichung, denn das Ausgesprochene gerinnt sehr schnell zu den fundamentalistischen Einstellungen, die das freie Denken behindern.

Fotografie ist Ausdruck und Reflexion der Suche nach einem verlorenen Geheimnis und nach Sinn. Der Wunsch, Besonderes zu sehen und fotografisch festzuhalten, entspringt dem Wunsch, dieser chaotischen Welt einen Sinn zu geben und ihr Geheimnis aufzudecken. Wer sieht (und fotografiert), will die Welt entdecken, die nicht er selbst als Fotograf, sondern die ein anderer (oder ein anderes) geschaffen hat. Theologisch ergäbe sich hier ein wichtiger Schritt von einer Theologie, die sich lange Zeit – im wahren Sinne des Wortes – weltfremd auf den Schriftbeweis konzentriert hat, zu einer Theologie des Neu-Entdeckens und des Sehens. Die Theologie der schriftbegründeten Rechtfertigung muss durch eine neu konzipierte Theologie der Schöpfung, die mit Wahrnehmung, Entdeckung und Staunen beginnt, ergänzt werden.

Was aber bleibet, stiften die Fotografen? Die Welt wird nicht als sinnvolle sichtbar, sondern es zeigt sich eine ambivalente Welt, in der sich Spuren von Sinn nachweisen und sehen lassen, aber eben auch Elemente von Chaos, eher sogar eine Übermacht des Chaos. In dieser fotografierten und hoch ambivalenten, nicht ausbalancierten Welt wären die Menschen auf der Suche nach einem Halt, nach einem Ort, an dem sie eine Pause einlegen könnten. Fotografie könnte den Anfang einer Religion des Sehens darstellen, die nicht mehr in Ritualen frommen Spießertums aufgeht. Diese Ordnung hätte etwas Schönes, sie wäre zum Beispiel von einem Sonnenstrahl erleuchtet. Um der Wahrheit willen dürfte das Chaos nicht ausgeblendet sein. Der Glaube, zu dem diese Religion gehört und der sich durchaus aus einer (christlichen) Offenbarung speisen kann, würde in diese ambivalente Welt einen Funken Hoffnung bringen. Hier wird nicht für eine fotografische Religion plädiert, sondern für eine Theologie, die um den Aspekt der (fotografischen) Wahrnehmung der Welt ergänzt wird.

3. Bilderverbot

Aber steht die Theologie seit dem biblischen Bilderverbot nicht allem Bildermachen skeptisch bis feindlich gegenüber?

Man kann das Bilderverbot[16] reformatorisch lesen als Abwertung des Sehens zugunsten des Hörens, Schreibens und Lesens. Man kann nicht verhehlen, dass der Reformation eine Abstoßungsreaktion gegen alles Bildhafte eingeprägt ist. Reformatorische Theologie hat sich stets auf das deutende und interpretierende Wort konzentriert, und das bedingte ein nachhaltiges Misstrauen gegenüber allen Formen von Bildern, zuerst den Ikonen und Heiligenbildern, später der schriftlosen Bilderflut im Zuge der Digitalisierung. Bilder zeigen nur, so lautete der Vorwurf, aber sie regen nicht zum Nachdenken an und lassen sich nicht in Gedanken und Argumente integrieren.

Fotografie allerdings läßt sich nicht auf die Aufgabe der Abbildung reduzieren. Fotografie, so sie anspruchsvoll ist, will etwas zeigen, das über die bloße Abbildung hinausreicht. Und in diesem Bemühen, das nicht immer gelingen muss, aber durchaus gelingen kann, ist eine theologische Dimension zu finden, jenseits von protestantischer Textversessenheit und Wortklauberei. Die alte Wort-Gottes-Theologie konnte sich damit zufriedengeben, dass sie im Verzicht und Ignorieren jeglicher Form von Abbildung (auch der Fotografie) dem Bilderverbot genügte, aber die tiefere Wirklichkeit von der Wahrnehmung des Glaubens in der Schöpfung preisgab. Es könnte sein, dass diese Weltvergessenheit, die sich in dröger Verkniffenheit und klerikal-bürokratischem Moralisieren auszudrücken pflegte und pflegt, durch Fotografie, wenn nicht aufzuheben, so doch mindestens anzupieksen wäre, jenseits der kitschigen Verbindungen zwischen Sonnenuntergängen und Bonhoeffer-Gedichten auf den Postern pietistischer Verlage.

Die Abbildung der Welt in der Fotografie könnte die Glaubenserkenntnis fördern, dass diese Welt auch Schöpfung ist. Der biblische Gott bleibt unsichtbar, aber er redet. Man kann ihn nicht sehen, aber er teilt sich mit. Worte können allerdings Missverständnisse nach sich ziehen; ihnen fehlt die unmittelbare Anmutung von Bildern.

Menschen, die was auch immer wie auch immer abbilden, werden zu staunenden Wahrnehmenden der Schöpfung Gottes. Und hier öffnet sich ein theologischer Weg für die Fotografie. Sie geben Wirklichkeit nur in Annäherungen wieder, was dann seinen guten Sinn hat, wenn es um die Beschreibung des Unbeschreiblichen, nämlich Gottes geht. Worte transportieren auch weniger Information als eine Fotografie, die unmittelbar anspricht, bevor der Prozess des Nachdenkens darüber einsetzt. Das triviale Schlagwort der Marketingfachleute, die die Öde der Bleiwüsten beklagen, lautet: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Genau weil das stimmt, ist ein großer Vorteil von geschriebenen Worten, dass sie ganz anders als Bilder die Vorstellungskraft der Leser beanspruchen. Sie schaffen Distanz vom Beschriebenen und machen den Leser zum Kooperator der Wahrnehmung. Beim Betrachten von Bildern ist das nicht unbedingt notwendig. Das kann aber kein Grund sein, Bilder nicht als Medien theologischer Reflexion zu betrachten.

Es erscheint wichtig, dass das Bilderverbot auch in der Bibel nicht absolut gilt. Es erscheint sehr häufig in der Zuspitzung des Verbotes der Abbildung Gottes. Sich von dem, was in der Wirklichkeit erscheint, Bilder zu machen, ist in das Bilderverbot nicht eingeschlossen, was auch nicht nötig gewesen sein mag, weil zu biblischen Zeiten die technischen Mittel zur Darstellung begrenzt waren. Es war mühsam zu malen oder zu zeichnen, und der Fotoapparat war noch gar nicht erfunden.

Die biblischen Autoren insistierten jedoch auf dem einen blinden Fleck, und das war Gott, der Ursprung aller Dinge und aller Wirklichkeit. Von ihm darf sich niemand ein Bild machen, weil er nicht eingegrenzt, in einen Begriff gefasst, in seiner Lebendigkeit beschränkt werden darf. Gott bleibt im Verborgenen, während alles andere, Vorläufige abgebildet werden kann. Nach christlicher Vorstellung hat sich Gott selbst im Vollzug der Heilsgeschichte ein einziges Mal ‚abgebildet‘, er ist in der Inkarnation zum Menschen geworden, sodass Gotteserkenntnis nur im Medium der Lebens- und Leidensgeschichte Jesu von Nazareth möglich wird. Man kann in der Folge flapsig fragen: Ist Jesus von Nazareth dann eine Fotografie Gottes? Selbstverständlich nicht, auch in seiner Person bleibt ein Geheimnis, eine Differenz, ein Dunkel, das den Unterschied zwischen Ur- und Abbild, zwischen erlebter Wirklichkeit und Fotografie nicht auflöst.

Dieser Unterschied findet sich jedoch auch bei der Betrachtung einer Landschaft, die vor Augen liegt, und der Betrachtung der Fotografie derselben Landschaft. In einer Zeit zunehmender Digitalisierung und der Entstehung einer zweiten, digitalen Lebenswelt, löst sich dieser Unterschied zunehmend auf. Fotografien und digitale Abbildungen werden zunehmend als Ersatz für den Panoramablick auf die Wirklichkeit akzeptiert. Die digital natives scheren sich nicht mehr um Abbildungsverbote. Im Gegenteil: Ihre Wahrnehmung ist von der These bestimmt, dass sie nur das verstehen, was sie auch abgebildet sehen, sei es in einer Fotografie, auf einer Flipchart oder in einer Powerpoint-Präsentation. Worüber man nur reden kann, darüber kann man gleich schweigen. Wirklich ist nur, was abzubilden ist.

Das biblische Bilderverbot wahrt die Nicht-Erkennbarkeit und Nicht-Durchschaubarkeit Gottes. Es zeigt aber auch, dass die Darstellung von Wirklichkeit Grenzen haben kann. Es ist offensichtlich, dass nicht alles fotografiert werden darf, was fotografiert werden kann. Die Fotografie eines Leichnams verletzt die Totenruhe eines Verstorbenen. Es gibt also auch im Bereich der nicht-göttlichen Wirklichkeit Geheimnisse, die gewahrt werden sollten.

Fotografie aber bildet die Welt ab, nicht Gott. Sie zeigt die Schöpfung und nicht den Schöpfer. Damit befindet sie sich nicht einfach im theologisch neutralen Bereich, in dieser Welt im Gegensatz zur ‚letzten‘ Welt. Sondern, nach den Eingangsüberlegungen Bergers über das Geheimnis müsste gelten, dass die Fotografie mindestens etwas vom Geheimnis der Welt sichtbar machen kann. Fotografie, so könnte man schlussfolgern, kann sich in der Sphäre des impliziten oder expliziten Gebets bewegen, sei es als Klage bei der Darstellung von Katastrophen und Leid, sei es als Lobpreis, nämlich des Staunens über die Schönheit der Schöpfung.

4. Abgebildetes Geheimnis

Will man ein gemeinsames Feld finden, auf dem sich Fotografie und Theologie begegnen oder überschneiden, so stellt sich als erstes die Frage, ob man von einem gemeinsamen Wirklichkeitsbegriff ausgehen kann. Derjenige der Theologie ist davon bestimmt, dass die Welt im Licht des offenbarten trinitarischen Gottes gesehen wird. Wenn man solch eine Theologie nicht als manifeste Metaphysik durchkonstruieren will, so spricht man mindestens von religiösen Erfahrungen – oder auch nur von religiösen ‚Gefühlen‘, auf denen dann theologisches Denken aufbaut. In der unüberschaubaren, chaotischen und darum vieldeutigen Wirklichkeit ist, mindestens der subjektiven Gewißheit nach, mehr enthalten als mit bloßem Auge zu erkennen ist. Und diesen Gedanken nimmt Fotografie auf, mindestens nach den Reflexionen über das Geheimnis in den beiden letzten Abschnitten.

Auf den ersten Blick wohnt der Fotografie nur (?) ein Element von biederer, aufzählender Sachlichkeit und Nüchternheit inne, weil sie, was vor das Objektiv kommt, eher abbildet als gestaltet oder interpretiert. Aber diese scheinbare Banalität ist gleich wieder in Frage zu stellen, weil die Fotografie weit über bloße ‚Abbildung‘ hinausgreift. In den kreativeren und anspruchsvolleren Arbeiten ihrer herausragenden Vertreter kommt zum Moment der Abbildung von jemand oder etwas stets noch etwas Überschießendes hinzu, das sich der unmittelbaren Beschreibung und Reflexion entzieht. Man kann abstrakt von einem ‚Geheimnis‘ sprechen, aber dieses Geheimnis muss nicht unbedingt religiös konnotiert sein. Indem eine Fotografie auf ein außerhalb ihrer selbst Liegendes verweist, stiftet sie ein Geheimnis, das theologisch interpretiert werden kann, aber nicht muss. Das ist ein Anknüpfungspunkt für die Theologie.

Wer die Welt wahrnimmt, bestätigt sie. Berger schreibt: „Das Ansehen der Welt ist die umfassendste Bestätigung ihres Da-Seins, die sich denken lässt, und daher bringt das Ansehen der Welt uns ständig unser Verhältnis zu diesem Dasein nahe und stärkt auf diese Weise unsere Beziehung zu diesem Da-Sein und unser eigenes Gefühl des Seins.“[17] Fotografie klärt das eigene Verhältnis zur Welt, zum Dasein, zum Leben in ihr. Mit jedem neuen Bild sagt der Fotograf dessen Betrachtern: Das ist so, wie du es hier sehen kannst, auch wenn es überwunden werden muss, wie der Krieg, die Verwundung, die Zerstörung nach der Katastrophe oder der Tod. Für den Materialisten wird die Fotografie in dieser Darstellungsfunktion zur Anerkennung der (sichtbaren) Welt. Für die Theologie gilt etwas anderes, denn sie sagt: Diese Welt ist weder das letzte noch das einzige, was es gibt, dahinter verbirgt sich eine zweite Wirklichkeit, eine Ewigkeit, Gottes Reich, eine von Verheißungen bestimmte Zukunft. Diese Zukunft ist auch in dieser Gegenwart nur symbolisch und vorläufig darstellbar; sie gewinnt keine materielle, manifeste Gestalt. Die Theologie bestreitet also auf symbolische Weise die materialistische Eindimensionalität der Welt. Das kann sich auch in der Fotografie spiegeln, insofern ein Foto etwas Sichtbares zeigt und auf Unsichtbares verweist. Gerade so kann Fotografie zu einer Theologie der Schöpfung werden.

John Berger, nur um diesen Unterschied der Interpretationen zu markieren, hatte mit seinen Überlegungen etwas völlig Anderes im Sinn. Aber man kann sich diesen Gedanken der Darstellung von Unabbildbarem jenseits der Oberfläche von ihm borgen und ihm eine völlig andere, eindeutig theologische Richtung geben. 

Und etwas zweites wäre von Berger zu lernen. Denn er weist nicht nur auf die verborgenen Dimensionen unter den Oberflächen hin, sondern er betont auch die Ambivalenz der Wirklichkeitserfahrung. Sinn (der Welt) ist nicht das, was ein Mensch durchschaut, nicht das Offenbare, Transparente, Geordnete, sondern Sinn ist stets eine Mischung aus Transparenz, Geheimnis und Zweifel. Berger fasst diesen Gedanken in folgende Worte: „[D]enn wenn wir einem Ereignis Sinn geben, dann ist dieser Sinn ein Respons nicht nur auf das Bekannte, sondern auch auf Unbekanntes: Sinn und Geheimnis sind untrennbar, und keines von beiden kann ohne den Ablauf der Zeit bestehen. Gewissheit kann eine Sache des Augenblicks sein; Zweifel erfordert Dauer; Sinn entsteht aus beidem zusammen. Ein fotografierter Augenblick kann nur insofern Sinn erlangen, als der Betrachter eine Dauer hineinliest, die über ihn hinausführt.“[18] Aus diesem Schlüsselzitat lässt sich ein weiteres Mal die verborgene Nähe zwischen Religion und Fotografie herauslesen. Denn Berger erfasst Sinn[19] als eine Verhältnisbestimmung zwischen Bekanntem und Unbekanntem, Geheimnis und Offenbarung. Der Fotograf im eigentlichen Sinn bei Berger zeigt das Leiden der Menschen und die Sehnsucht nach dessen Überwindung. Genauso besteht in der Theologie und im christlichen Glauben ein Zusammenhang zwischen Kreuzestheologie und der Botschaft von der Auferstehung oder dem Reich Gottes. Fotografie zeigt zugleich Sinn und die Erfahrung fehlenden Sinns[20]. Theologie erkennt das Leiden von Menschen im Leiden Christi an und verschreibt sich zugleich der Hoffnung auf Auferstehung. Man könnte, so meine zugespitzte These, Bergers fotografische Überlegungen für eine Fortführung der theologia crucis fruchtbar machen.

Denn er bleibt weder bei reiner Affirmation noch bei reiner Kritik stehen. Es überzeugt seine dialektische Anordnung von Kontrasten: Dauer – Augenblick, Zweifel – Gewissheit, Sinn – Chaos, Sinn – Geheimnis, Fotograf – Betrachter. Das Betrachten einer Fotografie ähnelt bei Berger einer religiösen Situation, weil die Banalität der Oberflächen erweitert wird auf etwas anderes hin, das sich exakter Beschreibung entzieht. Der Fotograf stellt gerade den Bruch zwischen schrecklicher Wirklichkeit und fehlendem Sinn heraus. Insofern sammelt ein Fotograf Augenblicke der Differenz, um beim Betrachter ein Nachdenken oder -fühlen über Sinn und fehlenden Sinn auszulösen. Starke Bilder setzen sich zusammen aus einer subtilen Mischung aus Offenbarung (Sichtbarmachung) und Geheimnis (Verbergen). Danach ist eine Fotografie eine kleine Offenbarung, ein Hinweis auf die subtilen Widersprüche der Wirklichkeit, die Hoffnung wecken auf etwas anderes, das aber nicht unmittelbar zugänglich ist. Der Fotograf macht etwas sichtbar, was andere Betrachter an der Oberfläche des Motivs (noch) nicht sehen. Der Fotograf will festhalten, was nicht unmittelbar vor Augen liegt, will festhalten, was sonst verborgen bleibt. Will festhalten, was sonst als unwiderruflicher Augenblick verlorengeht. Er will das sonst Unsichtbare festhalten, die Geheimnisse der Welt und der Menschen. Dazu gehört die Schönheit von Landschaften, Dingen und Menschen – aber eben auch das Umgekehrte: Mangel, Leiden, Fehlendes, Zerstörtes.

Genauso ist der christliche Glaube der Versuch, die Gegenwart Gottes in der Welt sichtbar zu machen. Theologie redet über die Offenbarung Gottes in der Wirklichkeit, über die Inkarnation der Geschichte Gottes in der Welt, welche auf den ersten Blick in der faktischen Welt unsichtbar ist und sich nur der Gewissheit des Glaubens erschließt. Der Unterschied besteht in folgendem: Der Fotograf macht sichtbar und er zeigt, was er sieht; der Theologe erschließt sich diesen Offenbarungshorizont durch Reden, Verkündigen und Argumentieren. Der Theologe hofft auf den (heiligen) Geist, der ihm die Überzeugungsfähigkeit vermittelt, Gottes Wirken in der Welt zu sehen. Dafür reicht der Schriftbeweis, die Berufung auf die Bibel nicht aus. Überzeugend kann die Verkündigung nur wirken, wenn sie biblisch grundiert und welthaltig, also erfahrungsgesättigt ist. Biblische Hermeneutik ist nicht zu haben ohne den Rückbezug auf die gegenwärtige Erfahrung der Wirklichkeit. Das kann auf ganz mannigfache Weise geschehen. Die Fotografie könnte also der Theologie dabei helfen, welthaltiger und erfahrungsreicher zu werden.

Prediger können von dieser Hoffnung deutlicher und klarer sprechen als Fotografen. Allerdings stehen Prediger auch stets in der Gefahr, das Wecken von Hoffnungen auf das Reich Gottes in Kitsch und Klischees zu kleiden. Kitsch ist eindeutige Übertreibung, Klischees sind wiederholte eindeutige Übertreibungen. Dem stellt Berger den Gedanken der Vieldeutigkeit von Fotografien gegenüber: „Alle Fotografien sind vieldeutig. Alle Fotografien sind aus dem Zusammenhang gerissen. Wenn das Ereignis ein öffentliches Ereignis ist, so ist dieser Zusammenhang Geschichte. Wenn es persönlich ist, so ist die Kontinuität, die hier unterbrochen wird, eine Lebensgeschichte. Sogar eine reine Landschaftsaufnahme durchbricht einen Zusammenhang – den des Lichts und des Wetters. Diskontinuität bringt immer Vieldeutigkeit hervor.“[21] Fotografie ist deshalb vieldeutig, weil sie die Vieldeutigkeit der Wirklichkeit abbildet und aus ihrem kontinuierlich-temporalen Verlauf herausgerissen wird. Berger konstruiert Vieldeutigkeit aus einem Abbruch dessen, was er den ‚Zusammenhang‘ der Wirklichkeit nennt, aber diese Vieldeutigkeit der Wirklichkeitserfahrung ist m.E. schon und auch in der zusammenhängenden Wirklichkeit enthalten.

Trotzdem hat er darin recht, dass erst Vieldeutigkeit ein Foto interessant macht. Betrachter müssen sich anstrengen und sich aus dem Geheimnis des Dargestellten heraus für eine bestimmte Deutung entscheiden. Der Fotograf erschafft erst in der Auswahl der Abbildung bzw. des Ausschnitts jene Diskontinuität, an der sich der Betrachter deutend abarbeitet. Fotografien haben zu tun mit Auswahl, Augenblick, Diskontinuität, Kairos, Vieldeutigkeit, Geheimnis, Erleuchtung. „Kameras sind Schachteln für den Transport von Erscheinungen.“[22] So sehr sich Berger am Kairos, dem richtigen Augenblick abarbeitet, so nüchtern beschreibt er die Kamera als einen mechanischen Apparat. Fotografieren ist prosaisch und religiös zugleich. Genau das macht Fotografie  in der Gegenwart für die Theologie so interessant, weil die Theologie die Religion nicht mehr als einen separaten Raum von Liturgie, Gottesdienst und abgegrenzten kirchlichen Bezügen begreift, sondern religiöse Vollzüge mitten im Alltag aufsucht.

Berger unterscheidet Fotografie von Malerei und Zeichnung aus ihren unterschiedlichen Verständnissen von Wirklichkeit heraus. Wer zeichnet oder malt, der schafft ein Modell von Wirklichkeit; Fotografie dagegen bildet gesehene Wirklichkeit ab, im Grunde physikalisch nichts anderes als Belichtungsverhältnisse. Malerei, so Berger, benutzt eine bestimmte ‚Sprache‘, die Fotografie kann das nicht, sie muss auf andere Methoden zurückgreifen, um die eigene Interpretation von Wirklichkeit sichtbar zu machen.

Auch ein fotografischer Laie wird kein viel besseres Porträt erstellen als ein Profi, jedenfalls bleibt die Ähnlichkeit zur Person auch in einem geknipsten Porträt schlechter Qualität erhalten. Der Profi ist nur in der Lage, die zur Verfügung stehende Technik viel besser zu nutzen. „Das fotografische Bild entsteht in einem Augenblick durch die Reflektion des Lichts; seine Gestaltung ist nicht durch Erfahrung und Bewusstsein geprägt.“[23] Der Fotograf ist nicht Künstler und Gestalter, vielmehr ist er auswählender Techniker und Sucher, der stets auf den richtigen Augenblick angewiesen ist. Fotografie ist eine Kunst, die nicht aus Kreativität, sondern aus Beobachtung entsteht. Das macht sie zugleich schlichter und komplizierter als andere darstellende Künste. Schlichter ist Fotografie, weil jeder auf den Auslöser drücken kann. Es ist ein Kinderspiel – siehe Instagram –, Fotos zu posten. Komplexer ist Fotografie, weil es viel schwieriger ist als in Malerei oder Zeichnung, eine bestimmte Interpretation von Wirklichkeit in ein Bild hineinzulegen, denn es stehen nur wenige und dann noch sehr einfache Gestaltungsmethoden (Wahl des Ausschnitts, des Motivs, Belichtungssteuerung etc.) zur Verfügung.

Gemeinsam mit dem gemalten oder gezeichneten Bild ist der Fotografie, dass sie stets einen Augenblick, einen Moment zeigt. Berger fragt sich in einem nächsten Schritt, wie es dazu kommt, dass der Augenblick einer festgehaltenen Fotografie eine Geschichte erzählen kann. Nun, sie erzählt eine Geschichte, indem der ausgewählte Moment auf zwei Perspektiven verweist, nämlich zum einen die Vergangenheit, die Voraussetzungen des Bildes, und zum anderen auf seine Zukunft, nämlich die Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Je mehr dieser Voraussetzungen und Konsequenzen im Bild implizit sichtbar werden, desto mehr steigert sich die künstlerische Qualität der Fotografie.

Dieser Qualität entspricht umgekehrt die große Gefahr der Banalisierung von Fotografien. Sie kommt zustande durch Achtlosigkeit, massenhafte Wiederholung, fehlende Reflexion. Die Touristengruppe mit dem Eiffelturm im Hintergrund ist auf unzähligen Instagram Accounts zu sehen, sie ist nur privat interessant, für diejenigen, die die Abgebildeten kennen. Trotzdem kann Fotografie auch mehr und Tieferes einfangen, was deutlich wird am Unterschied zwischen (achtlos geschossenem) Selfie und einem überzeugenden Porträt. Das Geheimnis eines gelungenen Porträts liegt darin, etwas vom Inneren, vom Typischen eines Menschen sichtbar machen zu können. Das Geheimnis einer Landschaft könnte darin liegen, dass sie den Kontext dessen sichtbar macht, in dem Menschen leben. Das, was den Menschen – sei es im Porträt oder im Kontext einer Landschaft – umgibt, ist größer als er selbst und es wird nicht in einer Oberfläche sichtbar, sondern in dem, worauf die Oberflächen verweisen. Das größte Geheimnis bergen darum Fotografien des Sternenhimmels, wobei Sterne, Planeten und Galaxien oft so weit entfernt sind, dass sie die zweifellos vorhandene Fülle ihrer Geheimnisse den fotografierenden Menschen auf der winzigen Erde gar nicht mehr offenbaren können, für sie auch nicht von Belang sind. Trotzdem war für Kant (ohne dass er die Fotografie kannte) der Sternenhimmel ein Grund zum Staunen – und eine Art Gottesbeweis. Fotografisch lässt sich dieser Sternenhimmel nur mit etwas technischem Aufwand darstellen. Gute Astronomie-Fotografen sind staunende Kantianer.

Abgesehen davon bergen auch Landschaften und Menschen Geheimnisse, aber sie sind schwerer darzustellen als die Geheimnisse des Sternenhimmels. Für mich hat dieser fotografische Begriff des Geheimnisses zu tun mit Überraschung, dem richtigen Zeitpunkt (Kairos), dem Staunen und der Überwältigung. Dabei kann die Fotografie weiter führen als das banale Narrativ der Geheimnisaufdeckung im Krimi. Letztere erscheint als reichlich triviale und rationale Suche nach einem der Auflösung eines rätselhaften Verbrechens. Sehr viel spannender ist jedoch die Suche nach Geheimnissen, die im Grunde nicht aufgeklärt werden können: Liebe, Angst, Leiden, Lebens-(Sinn). Letzteres ist an Menschen zurückgebunden und findet sich fotografisch im Porträt, dem Gesicht eines Menschen, der dem Leben einen Sinn abzugewinnen sucht.

5. Techniken der Fotografie

Um dieser Art von Geheimnissen näherzukommen, hat die Fotografie verschiedene Techniken entwickelt. Eine davon besteht darin, näher an Menschen und Dinge heranzugehen und sie in ihrer Vereinzelung, das heißt frei von Kontext und Lebenswelt zu zeigen. Jeder weiß, was ein Baum ist, aber kaum jemand schaut sich die Details des Baumes an (Rinde, Stamm, Blätter etc.). Ein Porträt zeigt die Details des Gesichts eines Menschen, der sonst nur oberflächlich und vorübergehend angeblickt wird. Schönheit und Besonderheit von Menschen und Dingen bleibt viel zu oft unbeachtet. Damit gehen ihre Geheimnisse verloren.

Gute Fotografie ist stets der Unaufmerksamkeit abgerungen. Sie ist ein Kampf um Konzentration und richtet sich gegen Gleichgültigkeit. Fotografie ist ein Instrument, um eigene Aufmerksamkeit zu steuern und zu konzentrieren. Das macht ihren Reiz und Sinn in einer überinformierten, abgelenkten und damit oft gleichgültigen Moderne aus. Viele Menschen klagen darüber, dass sie viel zu oft durch die Welt laufen und außer dem, worauf sie gerade fokussiert sind, gar nichts mehr wahrnehmen.[24] Die umgebende Alltagswelt verbleibt im Gleichgültigen, Unbeachteten. Fokussierung macht als Vorgang der Konzentration Sinn, aber nicht, wenn sich die gelangweilten Menschen statt dessen dem Smartphone, der Glotze oder dem Internet als gleichsam potenzierter Ablenkung zuwenden. Die Fotografie sorgt für Entdeckungen im Raum des Unaufmerksamen. Das Objektiv des Apparates sorgt dafür, dass Aufmerksamkeit gerichtet wird. Der fotografierende Beobachter streift dann nicht mehr mit Scheuklappen durch die Welt, sondern er nimmt wahr, was um ihn herum geschieht. Er interessiert sich für das scheinbar Uninteressante und macht dort spannende Entdeckungen.

Beobachtung braucht Bewegung. Fotografen müssen sich um sich selbst drehen und auch einmal hinter den eigenen Rücken schauen. Andererseits: Niemand kann seine Augen überall haben. Der anhaltende Blick der Suchenden muss ergänzt werden durch völlig berechtigte Akte der Konzentration, um den eigenen Blick auf ein selbstgestelltes Thema zu fixieren.

Es braucht also eine Balance. Der umherschweifende Blick kann überfordert sein, weil er viel zu viel wahrnimmt und darin alle Gründlichkeit (und Konzentration) vergißt. Es geht darum, das rechte Maß zwischen Konzentration und Abschweifung zu finden. Der nachdenkliche Beobachter muss wissen, wann das eine und wann das andere nötig ist. Der Fotoapparat ist ein Lerninstrument der Konzentration, eine Anleitung zur Schulung von Wahrnehmung; er gibt dem Fotografen Möglichkeiten an die Hand, Schneisen in die Unaufmerksamkeit zu schlagen, Lichtungen zu entdecken. Menschen in ihrem Alltag leben in einer Dunstwolke aus Routine und Gleichgültigkeit. In diesen vernebelten Raum hinein kann der Fotoapparat Breschen schlagen.

Manchmal, wenn die Konzentration durch Müdigkeit schon angeschlagen ist, fangen Fotografen an, alles und jedes zu fotografieren, in der Hoffnung, dass wenigstens ein paar gute Ergebnisse dabei herauskommen. Aber das ist selten der Fall. Selbst, was auf den Aufnahmen professioneller Fotografen in den Hochglanzmagazinen so zufällig oder beiläufig wirkt, ist doch keinesfalls unüberlegt gestaltet. Ästhetisch Zufälliges stellt sich nicht von selbst ein, sondern ist Gegenstand sorgfältiger vorheriger Überlegung. Es ist ein Denkfehler zu meinen, der gelungene Zufall im Bild ließe sich auch zufällig abbilden. Zufall auf Fotografien ist hergestellt, vorproduziert, vorbedacht. Daraus folgt, dass Bilder nicht einfach so im richtigen Moment entstehen. Sie brauchen Antrieb, Willen, Intuition, einen intellektuellen Plan. Auch die Darstellung des Absichtslosen ist mit bestimmten Absichten verbunden. Der Fotograf muss sich für das gute Bild anstrengen, Kraft aufwenden, Geduld haben, abwarten. Dazu kann auch das Inszenieren gehören, das Finden von Bühnen und Bühnenbildern, das Beschaffen von Requisiten.

Wenn gesagt wird, dass Fotografien sichtbar machen sollen, was sonst nicht zu sehen ist, dann besteht die Aufgabe nicht darin, auf den Aufnahmen Geister, Dämonen und Engel sichtbar zu machen. Das wäre ein Reflex des überholten, vergangenen metaphysischen Weltbildes. Eher besteht die Aufgabe darin, auf Fotos deutlich zu machen, dass neben Motiv, Vorder- und Hintergrund noch mehr vorhanden ist. Aus dem Foto heraus wird auf anderes verwiesen, mindestens auf den unsichtbaren Kontext, sodass im Auge des Betrachters etwas Umfassenderes, über die Aufnahme Hinausweisendes geschieht. Das Foto muss einen oder mehrere Verweise über sich selbst hinaus in sich tragen. Eigentlich reichen schon Andeutungen, die eine im Bild vorhandene Spannung verstärken. Solche Andeutungen und Verweise geben der Fotografie eine Kraft, die über die bloße Abbildung hinausreicht. Solche Verweise können zeitlich auf Vergangenheit oder Zukunft zielen, auf einen anderen Ort oder andere Personen. In manchen Fotos sind solche Verweise zum Klischee geronnen: das Foto eines Gebäudes bei Nacht, am Himmel die Sterne und der Mond, die Milchstraße. Oder das Foto eines Meeresstrandes oder Bergmassivs bei Sonnenaufgang.

Fotografien lassen sich nach Kriterien des Schönen und Hässlichen bewerten. Solche Gesichtspunkte können intentional schon eine Rolle spielen, wenn der Fotograf auf den Auslöser drückt. Allerdings bleiben diese beiden Kategorien ambivalent. Dem Häßlichen begegnet der Fotograf im Politischen, Dokumentarischen, Anklagenden. Fotografen, die ihre Arbeit politisch verstehen, zeigen die Verhältnisse der Welt, wie sie sind und wie sie sich von dem unterscheiden, wie sie sein sollten. Aber zum Offenlegen von Fakten kommt auch bei politischer Fotografie stets ein Moment des Ästhetischen hinzu. Dieses ergibt sich allein schon durch den Gebrauch von Techniken der Fotografie, die bei allem Willen zur Dokumentation stets eine Ästhetisierung bewirken, in der Regel mit dem Zweck, die Betrachter von Aufnahmen aus bloßen Betrachtern zu politisch bewußten und handelnden Menschen zu machen. Aus den Betrachtern von Öllachen, verendeten Vögeln und den Dampfwolken der Kühltürme von Atomkraftwerken sollen ökologische Aktivisten werden. Aus den Betrachtern der Leichname erschossener Soldaten, von Bombenkratern und Gebäuderuinen sollen Kriegsgegner, wenn nicht sogar Pazifisten werden. Aus den Betrachtern der Aufnahmen diskriminierter Flüchtlinge, verkommener Zimmer mit Doppelstockbetten und ausgehungerten Kindern werden Kämpfer für soziale Gerechtigkeit.

Auf der Seite des Schönen geschieht genau das Umgekehrte: Der Betrachter soll herausgezogen werden aus der Sphäre des Alltags, des Politischen und des Handelns. Die Fotografie zieht den Betrachter aus dem Alltag heraus, hinein in die Sphären des Schöneren, Konfliktfreieren, Friedlicheren hinein. Dabei arbeiten Fotografen viel zu oft mit Klischees: Sonnenaufgänge, Vollmond, Wasserfälle, Strände, blaue Himmel mit Schäfchenwolken, glückliche Menschen, die sich umarmen. All diese Motive sind zu langweiligen Klischees geworden, die ein Betrachter in der Regel sofort durchschaut. Trotzdem versuchen einige Fotografen immer noch, perfektere Aufnahmen eines Sonnenuntergangs vorzulegen. Andere geben sich dem Versuch hin, die Wirkung der Fotografie durch Bildbearbeitung so weit wie möglich zu verstärken: Farben[25], Kontraste, Atmosphäre und Stimmungen– bis an die Grenze des Surrealen. Übersteigerter Kitsch kann sehr ironisch wirken, wenn diese Ironie in der Absicht des Fotografen lag[26]. Besser als die Kategorien des Häßlichen (also des Dokumentierten) und des übertriebenen Schönen (der ironische Kitsch) scheint mir darum die Kategorie des Überraschenden geeignet, die Ästhetik von Fotografien auf den entscheidenden Punkt zu bringen. Der Fotograf bringt in seinen Aufnahmen dann weder prinzipiell Schönes noch prinzipiell Häßliches hervor, sondern er versucht, vorher Ungesehenes plötzlich sichtbar zu machen. Er versucht zu verblüffen. In die Überraschung sind Momente des Verblüffenden und des Zeitlichen eingebaut.

6. Der zielende Fotograf

Es lohnt sich, nach den vorangegangenen Abschnitten über die Vorbereitung des Fotografen für seine Fotografien nachzudenken. Manche Fotografen gehen schnell und sehr willkürlich vor, um dann erst später über die Auswahl guter Fotos zu unterscheiden. Für andere Fotografen ist das Aufnehmen von Bildern eine Form der Meditation. Sie umkreisen ihr Motiv sehr lang, bevor sie den richtigen Bildausschnitt ausgewählt haben.

Gute Fotografen sind an einer überlegten, reflektierten Fotografie interessiert: erst nachdenken, dann auslösen. Wer einfach nur knipst, der gelangt nicht zu überzeugenden Ergebnissen. Ein überlegender Fotograf schaut sich ein Motiv zuerst an, denkt dann über mögliche Perspektiven nach und kommt dann erst zum eigentlichen Fotografieren, möglicherweise sogar erst einen Tag später, wenn die Lichtverhältnisse besser sind und die Vorüberlegungen sich im Schlaf der Nacht gesetzt haben. Fotografien sollen in dieser Vorstellung als Denkarbeit entstehen, nicht als billige Zufallsprodukte. Deswegen ist die Fotografie eine langsame Kunst. Auch wenn es gelegentlich nötig sein mag, Bilderserien einzusetzen, um für ein Motiv genau den richtigen Moment abzupassen, das Ideal bleibt trotzdem eine überlegte, langsame Fotografie. Das allerdings schließt Spontaneität nicht aus, die Suche nach ephemeren Lichtstimmungen, die nur wenige Momente lang eine Landschaft beleuchten und dann wieder verschwunden sind. Wer in solchen Situationen zu lange nachdenkt, dem gehen wichtige Bilder verloren. Gute Fotografien entstehen in einem Wechselspiel von Spontaneität und Reflexion; die Bedeutung der technischen Ausrüstung (Kamera, Objektive, Blitzlichtgerät etc.) tritt darüber zurück.

Erst nach reiflicher Überlegung machen gute Fotografen eine Aufnahme, wenn sie genau wissen, was sie zeigen wollen, wobei das in den seltensten Fällen sofort das ist, was sie am Ende als fertige Aufnahme auf Druckpapier erhalten. Zum richtigen Ausschnitt kommen der richtige Augenblick und die richtige Lichtstimmung. Dieser Typus des Fotografierens setzt der alltäglichen Hektik etwas entgegen.  Fotos werden nach dieser Methode zu durchdachten Kompositionen. Dem Betrachter soll einleuchten, was der Fotograf ihm zeigen will. Je schneller und unüberlegter er Aufnahmen macht, desto eher wird er zum Knipser. Knipsen bedeutet, die Kamera zwischen Augen und Motiv zu halten, viele Aufnahmen zu machen und dann zu hoffen, dass ein gutes Bild herauskommt - was in den seltensten Fällen geschieht. Die schnöde Methode lautet: Ich halte die Kamera einfach ins Licht und hoffe, dass bei der Serie von Aufnahmen eine dabei ist, bei der alles stimmt. Genauso kann man hoffen, dass man ohne Vorbereitung ein Examen besteht. Alles dem Zufall überlassen, heißt, sich dem Reflektieren und Planen zu verweigern.

Das Komponieren von Bildern ist eigentlich von einfachen Vorüberlegungen abhängig. Die einfachste Überlegung lautet: Es braucht ein Motiv, ein Gesicht, eine Blüte, einen Blumentopf, ein Messer, ein lieber Freund, eine Landschaft. Das Motiv soll im Zentrum des Bildes stehen, nicht unbedingt in der Bildmitte, aber es soll dasjenige Element im Bild sein, um dessentwillen der Betrachter darauf schaut. Man kann es sich einfach machen und mit der Kamera so nahe herangehen, dass für Kontext und Hintergrund kein Platz ist. Das Motiv steht dann für sich selbst. Wer Kontext mit einbeziehen will, setzt das Motiv in ein bestimmtes Verhältnis zum Hintergrund, der oft gerne vernachlässigt wird. Aber Motiv und Hintergrund bilden zusammen ein Verhältnis, das die Fotografie beherrscht. Unruhige Hintergründe lenken von Motiven ab. Ähnliches gilt für den Vordergrund, den schlechte Landschaftsfotografen oft leer lassen. Viele Fotos wirken dann als hätte der Fotograf gähnende Leere mit ein wenig Hintergrund aufgenommen. Man benötigt also bei Landschaftsfotografie so etwas wie ein Eingangsmotiv im Vordergrund, mit dessen Hilfe der Betrachter in die Landschaft hineinfinden kann.

Fotografie ist darum anders von der Wirklichkeit abhängig als die Malerei. Dieser Unterschied zwischen Fotografie und Malerei ist schon angedeutet worden; auf ihn ist nun nochmals zurückzukommen.[27] Der Maler komponiert ein Bild: Motiv, Vorder- und Hintergrund, Requisiten, Farben, Konturen etc.. Der Fotograf wählt einen Ausschnitt aus der Welt, die sich vor seinem Auge ausbreitet; dazu muss er den richtigen Zeitpunkt auswählen. Wenn sich im Bild etwas befindet, das er nicht sehen will, ein Strommast in der idyllischen Landschaft oder eine Menschenmenge am Strand oder der Himmel, der ihm zu grau und eintönig ist, so kann er mit Hilfe von Bildprogrammen retuschieren, ergänzen, ersetzen. Es gibt, zum Beispiel in der Mode, Fotografen, die komponieren Bilder bewusst aus Versatzstücken, die nicht zusammenpassen und nur den Zweck haben, oberflächliche Aufmerksamkeit zu erzeugen. Allerdings wirken solche Fotos häufig künstlich und gestellt. Andere Fotografen lehnen die digitale Nachbearbeitung ihrer Bilder mit Ausnahme dessen, was schon früher in der Dunkelkammer möglich war, rigoros ab. Für sie entsteht Fotografie in dem Moment, da sie auf den Auslöser drücken. Achtlose Fotografen verplempern Hunderte von Aufnahmen, weil es ja mit der Digitalisierung praktisch kostenfrei möglich geworden ist. Sie verschwenden keinen Gedanken an Komposition, Aufteilung und Moment des Bildes.

Ein gutes Auge ist Voraussetzung von Fotografie. Ein Fotograf muss zuerst sehen, hinschauen, bevor er fotografiert. Der Fotograf schaut sich um, bevor er auf den Auslöser drückt. Nicht zwingend schaut er die ganze Zeit durch den Sucher, welcher – das darf man nicht unterschätzen – den Blick völlig verändert, nämlich in bestimmtem Maß einengt und kanalisiert. Die Enttäuschung über die schließlich entwickelt und gedruckt auf Papier vorliegenden Fotos im Vergleich zu dem, was das Auge am Anfang durch den Sucher des Apparats gesehen hat, gehört zur Fotografie dazu.

Es gehört zur Naivität und zum Narzissmus des Fotografen, dass er vom eigenen Auge auf den Fotoapparat schließt. Aber in dieser Parallelisierung liegt ein Denkfehler. Deswegen besteht Fotografie auch darin zu lernen, dass der Fotoapparat kein Auge ist. Der Bildsensor ist abhängig von bestimmten technischen Voraussetzungen, und diese erfordern eine bestimmte Methode. Die Fotografie folgt ihren eigenen Gesetzen, und der Fotograf muss diese Gesetze kennen und vor allem respektieren, um Fotos zu machen, die seinen künstlerischen Intentionen entsprechen. Der Fotograf muss lernen, mit den Augen die adäquate Verteilung von Licht und Schatten zu erkennen, die am besten zu den technischen Vorgaben des Bildsensors (oder des analogen Films) passt.

Deswegen machte John Berger einen Unterschied zwischen Sehen und Fotografieren „Das visuelle Wahrnehmungsvermögen des Menschen ist ein weit komplizierterer und selektiverer Vorgang als die fotografische Aufzeichnung. (…) Ganz im Gegensatz zum Auge ist aber die Kamera in der Lage, das Erscheinungsbild des Geschehens zu fixieren. (…) Die Kamera rettet bestimmte Erscheinungsbilder vor der sonst unvermeidlichen Überlagerung durch weitere Erscheinungsbilder.“[28]  Sehen ist ein kontinuierlicher Vorgang, Fotografieren ist Auswahl eines Moments. Sehen ist ein Fluss, den niemand anhalten kann; ein Bild folgt auf das andere. Wer eine Kamera benutzt, stellt diesen Prozess still. Er trifft eine Auswahl.

Berger vergleicht die Fotografie mit der Erinnerung, um den Vergleich zwischen Fotografieren und Sehen zu präzisieren. Erinnerung funktioniert nach seiner Theorie nicht statisch und unzweideutig, sondern vermittels Assoziationen. Wer sich erinnert, schaut nicht in Akten nach; das ist der Bürokratie vorbehalten. Wer sich erinnert, tastet sich über zufällige Bilder, Gesprächsfetzen und ähnliches an die Vergangenheit heran.  Genau diesen Vorgang will Berger auch der Fotografie zuschreiben. Um die Fotografie soll ein „Radialsystem“[29]  von Aspekten gelegt werden, das ihre verschiedenen Bedeutungen und Interpretationen umfaßt. Danach ist die Fotografie wie ein erhellender Blitz zu verstehen, der im Betrachter eine Kette von Assoziationen auslöst – sofern das Foto denn gelungen ist. Solche gelungenen Fotos lösen ein Moment der Überraschung aus (ein kleiner kairós), und diese Überraschung ermöglicht es den reflektierenden Betrachtern, die gewohnten Bahnen zu verlassen und Neues zu entdecken. Dieser Prozess der Deutung einer Fotografie verläuft nicht bei jedem Betrachter gleich, das bemerkt Berger ganz richtig, sondern er setzt sich aus einer kontingenten Kette von Assoziationen zusammen. Eine Fotografie ist wie ein Zündholz, das für einen kurzen Moment scheint, um Denken und Fühlen zu erleuchten.

Darin besteht das Faszinierende an der Fotografie: Der Blick richtet sich nach außen auf die Oberflächen der Welt und schneidet einen Moment aus ihr heraus. Trotzdem liefert die Fotografie kein objektives Bild von Ausschnitten der Welt, weil der Anteil eigenen Gestaltens an der Fotografie als außerordentlich hoch erscheint, auch wenn ihn viele Fotografen gar nicht ausnutzen. Indem er fotografiert, tut der Fotograf etwas, und er tut zugleich nichts. Er gestaltet – und er gestaltet zugleich nicht, er lässt die Welt Welt sein. Er sucht nach Bildern, aber zugleich findet er sie nicht. Das Foto wird nicht komponiert, sondern es drängt sich aus der Welt auf. Es erscheint. Es ist eine kleine Offenbarung, und weil sie das ist, kann sie zur großen, der theologischen Offenbarung in Beziehung gesetzt werden.

Der in der Einleitung erwähnte[30], schreibende Bogenschütze Heimito von Doderers verfolgte ein bestimmtes Ziel. Der Fotograf ist wie ein Bogenschütze, der aber keine Scheibe hat, auf die er zielen könnte. Stattdessen muss er sich Ziel und Motiv suchen. Das bedeutet: Er muss warten können auf den richtigen Moment, auf eine Konstellation, in der sich Zeit und Raum zum interessanten Motiv fügen. Ich kann ein Foto von einer Burg machen, und es wirkt banal, weil es beliebig ist. Aber wenn die Burg unter einem dramatischen Wolkenhimmel kurz vor einem Gewitter daliegt, dann wirkt das Bild ganz anders. Wenn dann noch vor dem Schloss Ungewöhnliches passiert – eine ungewöhnliche Besuchergruppe, ein Streit, ein Spiel – dann gewinnt das Foto an ästhetischer Qualität.

Der Meister solcher Augenblicksfotografie war Henri Cartier-Bresson, der allerdings selten Landschaften, sondern stets Passanten in der Stadt fotografierte. Die Schlussfolgerung besteht darin, dass der Fotograf ein Künstler des Wartens und Findens ist. Der größte Fehler besteht darin, zu schnell, zu beliebig, zu unbedacht Fotos zu knipsen. Und dennoch passiert genau das vielen Fotografen, weil ihnen die Geduld fehlt. Sie würden gerne das Warten überspringen. Es dreht sich um das, was vielen stressgeplagten Menschen nicht richtig gelingen will: Abwarten, Geduld haben, Ausharren, bis der richtige Moment kommt. Der Fotograf drückt auf den Auslöser, und der Bogenschütze lässt die Sehne schnellen. Das ist ein Punkt, in dem sich Bogenschießen und Fotografieren nicht sehr voneinander unterscheiden. Am Anfang kommt es auf die geduldige Haltung des Fotografen an. Seine Konzentration vor dem Druck auf den Auslöser ist das Gegenteil von Ablenkung, Hektik und Zerstreuung.

Solches muss auch der Fotograf lernen. Er nimmt die Welt wahr, indem er auf Ausschnitte von ihr zielt. Der Band mit Essays des Kulturkritikers John Berger enthält ein Gespräch mit dem legendären französischen Fotografen Henri Cartier-Bresson[31]. Der sagte in diesem Gespräch: „Was mich am Fotografieren allein interessiert (…), ist das Ziel, das Zielen.“[32] Berger fragt danach zurück, ob er die zen-buddhistischen Abhandlungen über das Bogenschießen[33] kenne, was der Fotograf verneint. Cartier-Bresson beherrschte wie kein zweiter die Kunst, stets am rechten Ort zu sein, wenn der richtige Zeitpunkt für eine Fotografie gekommen war. Cartier-Bresson sagte: „Doch Berechnung ist nutzlos. Wie Cézanne gesagt hat: ‚Wenn ich anfange zu denken, ist alles verloren.‘ Worauf es bei einem Foto ankommt, ist seine Fülle und seine Schlichtheit.“[34]  Die Vorüberlegungen vor der Fotografie sind danach alles andere als ein mechanischer oder technischer Vorgang. Was Cartier-Bresson hier meint, ist kein Widerspruch zu dem oben zitierten Gedicht von D.H. Lawrence, das der Herausgeber des Berger-Bandes in seiner Einleitung zitiert hatte.[35]

Die folgende Aussage Cartier-Bressons macht deutlich, dass gerade die Fotografie des Zufälligen eine gute reflexive Vorbereitung benötigt: „Ein Foto muss nicht unbedingt eine Lüge sein, aber es ist auch nicht die Wahrheit. Es ist eher ein flüchtiger, subjektiver Eindruck. Was mir an Fotografie gefällt, ist genau der Augenblick, der sich nicht antizipieren lässt, man muss ständig auf dem Quivive sein, um das Unerwartete zu erwischen.“[36] Das Unerwartete hat mit dem zu tun, was sich bei einem Motiv sehr schnell verändern kann, Licht, Schatten, Textur, Gesten und Handlungen der auftauchenden Menschen. Fotografie braucht also Geduld und Warten und den Blitz des richtigen Augenblicks, den Kairos.

In der Momentaufnahme einer Fotografie spiegelt sich auch das Begehren (im Sinne von désir bei Jacques Lacan), die Lebensenergie und das Sinninteresse des Fotografen. Er will – bewusst oder unbewusst – jemanden oder etwas zeigen. Der Fotograf nimmt mit dem Apparat auf, was er unbedingt festgehalten sehen will. Das gilt im Übrigen auch für private Bilder wie Familienfotos, aber es gilt zuerst für künstlerische Aufnahmen, die neue Perspektiven in einer ungewöhnlichen Komposition zeigen wollen: Bilder, die mit Lichtstimmungen experimentieren; Bilder von Menschen;  Porträts, Gesichter, Augen, Wangen, Lippen, Falten; Menschen bei allen möglichen Tätigkeiten, lesend, spazierengehend, im Gespräch mit Freunden. Fotografien sind die Resultante aus dem Begehren des Fotografen, seinen bewussten wie unbewussten Intentionen, und den Zufällen des Augenblicks.

Ein weiteres Mal ist hier die bereits angedeutete Parallele zwischen Theologie und Fotografie anzuführen: Wer Theologie treibt, richtet seine Reflexion auf den Glauben an Gott, also auf das Vertrauen, dass diese Welt geschaffen ist und erlöst werden soll. Wer Fotografie betreibt, richtet sein Begehren auf die sichtbare Welt und ihre Geheimnisse. Und möglicherweise hängt beides miteinander zusammen. Fotografie und Theologie sind beide getrieben von dem Wunsch (dem Begehren), etwas Verborgenes zu zeigen, im einen Fall das Vertrauen (den Glauben) an einen Schöpfer und Erlöser, im anderen die (vielgestaltigen) Geheimnissen von Welt, Dingen und Menschen.

Wer sich dann später die Fotografien anschaut, kann sich alle Zeit der Welt nehmen für etwas, für das der Fotograf möglicherweise lange warten musste. Ein Musikstück nimmt einen bestimmten Zeitraum in Anspruch, es ist mit dem Schlussakkord vorbei. Es muss wiederholt werden (auch digital), um es erneut zu hören. Beim Betrachten eines Fotos wird niemand gedrängt; jeder kann beim Betrachten Phantasie und Gedanken abschweifen lassen. Das Begehren, das dem Fotografieren und dem Betrachten von Fotos zugrunde liegt, ist schillernd, schweifend, vielgestaltig. Genau diese Offenheit macht den Reiz von Fotografie aus.

7. Fotografieren und Schreiben

Auf den ersten Blick stellen Bilder an den Betrachter nicht so hohe Anforderungen wie das Lesen von Büchern auf den Leser. In einem tieferen Sinn gilt der Satz: What you see is what you get. Es gibt Schriftsteller, Theologen und Philosophen darunter, die schreiben komplizierte Texte, aber man hat noch nie gehört, dass Fotografen komplizierte Bilder machen würden. Bilder können zum weiteren Nachdenken anregen, aber die Betrachter können sie auch einfach an sich vorbeirauschen lassen, ohne sich groß Gedanken zu machen. Bilder besitzen etwas Unmittelbares, was das Anschauen bequem und unaufwendig macht. Bilder können reflektiert sein, zum Nachdenken anregen, müssen es aber nicht. Oft wecken Bilder nur billige Emotionen, Ablehnung, eine oberflächliche Art von Star-Verehrung etc. Mit den Emotionen, die sie auslösen, kürzen Bilder oft den Weg zu Orientierung und Verständnis ab. Bilder werden zur Gefahr, wo sie Reflexion, Denken und Verstehen verhindern wollen. Bilder können angenehm, locker, leicht sein, unaufwendig beim Betrachten, aber eben nicht beim ‚Machen‘, beim Verfertigen oder Komponieren.

Das Besondere der Fotografie kann durch den Vergleich mit anderen ästhetischen Formen der Wahrnehmung der Welt noch besser herauspräpariert werden. Hier wird ein Typ von Fotografie vorgestellt, der ein klares Motiv in den Vordergrund stellt und dieses dann einem Hintergrund zuordnet, der von diesem Motiv nicht allzu sehr ablenkt. Das Motiv muss ungewöhnlich sein, der Fotograf muss sich Mühe gegeben haben, die konventionellen Gewohnheiten des Sehens zu überschreiten und neue Blickwinkel auszuloten. Ungewöhnliches triumphiert über Banalität.

Und dasselbe gilt auch für das Schreiben, egal ob es sich um einen Essay, eine Predigt oder ein Gedicht handelt. Ich denke an das Beispiel der Predigt. Prediger, die nicht mehr weiter wissen, begeben sich gerne auf die ausgetretenen Pfade der Sprache Kanaans. Floskel, Klischee und billiger Reim sind in der Sprache das Äquivalent von Gewöhnlichem und Kitschigem in der Fotografie. Und auch das verhält sich parallel, dass beim Erzählen und Fotografieren Vordergrund (Motiv, Kern, Zentrum) und Hintergrund (Nebensächliches, Verschwommenes, Kontext) unterschieden werden müssen.

Aber zwischen Bild und Text bestehen auch Unterschiede: Das Bild ist stets als Ganzes sichtbar, der Betrachter entscheidet über die Reihenfolge der Details, denen er genauere Aufmerksamkeit zuwendet. Bei der Erzählung oder dem Aufsatz kann der Autor den Aufmerksamkeitsstrom des Lesers lenken oder – das Beispiel der falschen Fährte im Krimi – sogar irreführen. Der Text führt Zeile für Zeile wie eine Filmkamera auf ein Detail nach dem anderen. Das Fotografieren ist ein sehr viel statischerer Vorgang, bei dem der Fotograf auf den richtigen Moment warten muss.

Beide, der Fotograf und der Autor, wählen aus. Beide müssen sich Gedanken darüber machen, was sie weglassen. Der Fotograf bildet einen bestimmten Ausschnitt ab, während der schreibende Autor eine Szene auswählt, die er schildert. Vom Kontext dieser Szene suggeriert er vieles nur, ohne es mit Worten genau zu beschreiben. Der Fotograf ist stets auf ein Motiv in der Wirklichkeit angewiesen, wobei er natürlich Motive oder Bilder auch ‚stellen‘ oder ‚inszenieren‘ kann. Der schreibende Autor kann, aber muss nicht Wirklichkeit beschreiben. Er kann auch seiner Phantasie freien Lauf lassen. Der kreative Vorgang ist also nach Absicht und Ausgangssituation je ein anderer.

Der Autor arbeitet mit Worten, und Worte sind kein visuelles Medium. Aber der Autor kann mit Hilfe der Worte Bilder entstehen lassen. Den Worten fehlt es gelegentlich am Konkreten, es bleiben Spielräume übrig für den Leser, der sich beschriebene Bilder selbst ‚ausmalen‘ kann. Das Foto enthält im Vergleich dazu weniger Möglichkeiten zum ‚Ausmalen‘. Trotzdem bildet es in vielen Fällen mehr ab als Worte je sagen können. Es kommt also darauf an, Wort und Bild zu verbinden, gerade unter der Prämisse, dass der spröde, wortaffine Protestantismus sich um viele konkrete Dinge und Personen der alltäglichen Lebenswelt gar nicht mehr schert.

8. Fotografie im digitalen Alltag

Im Grunde ist schon dieser Essay altmodisch und überholt, weil die digitale Entwicklung die Fotografie als künstlerisches Medium längst überholt hat, vor allem durch das Filmen. Die Plattform Youtube hat den Fotoplattformen wie Instagram längst den Rang abgelaufen.

Während des ‚Sturmes‘ eines rechtsradikalen Mobs auf das Kapitol im Washington im Januar 2021 hielten die Demonstranten ihre Handys hoch und filmten, wie sie durch die ungesicherten Türen ins Gebäude eindrangen. Der politische Event gewann auch dadurch seine Macht, dass er online, ohne Zeitverzögerung übertragen wurde. Millionen von Zuschauern verfolgten am Bildschirm, was geschah. Wer Ereignisse ‚mittendrin‘ erlebt, kann mit der Kamera einfach draufhalten, er muss nur möglichst nah ‚dabei‘ sein, während der Fotograf wie beschrieben an den Augenblick gebunden ist. Er muss sich überlegen, wann er auf den Auslöser drückt. Die große Stärke der Fotografie bleibt das Moment der Auswahl, des Suchens nach dem richtigen Motiv und das Abpassen des richtigen Augenblicks. Wer filmt, holt den Auswahlprozess erst beim Sichten und Schneiden des aufgenommenen Materials nach. Wer einfach mit dem Handy abfilmt, der verdoppelt nur die Zeit, er konzentriert sie nicht – wie das in der Fotografie geschieht. Das Filmen hat, so es nicht künstlerisch anspruchsvoll geschieht, einen eher dokumentarischen, indizienhaften, oft läppischen Charakter. Es läuft einfach so mit, und es kostet beim Zuschauen viel Zeit, weil der Betrachter alle Banalitäten, alles Nichtssagende und Überflüssige mit anschauen muss.

Das Nichtssagende findet sich allerdings auch in den großen Bildersammlungen des Internet, auf Instagram, Flickr und anderen. Fotos sind zum Massenprodukt geworden, weil jeder mit seinem Smartphone eine Kamera zur Verfügung hat und die Publikation oder der Ausdruck praktisch nichts mehr kostet. Die Fotografie hat durch die Digitalisierung Momente der Sparsamkeit und der Konzentration verloren. Trotzdem gilt: Immer noch kann man zwischen sparsamen professionellen Fotografen, die ihre veröffentlichten Bilder sehr genau auswählen, und peinlichen Amateuren unterscheiden, die auf alles halten, was sich bewegt.

Aber die schiere Menge der Massenfotografie beeinflusst auch die Wahrnehmung von künstlerischen, qualitätsvollen Fotos. Es ist schwieriger geworden, ihre Qualität zu erkennen. Im Zeitalter der Massenfotografie gilt: Fotos werden schneller langweilig, sie verlieren ihren konzentrierten meditativen Charakter. Die unübersichtliche Welt alltäglichen Sehens hat in der ebenso unübersichtlichen virtuellen Bilderwelt von Instagram und Facebook ein Komplement bekommen. Fotos stehen nicht mehr allein für sich selbst. Jeder kann unter dem entsprechenden hashtag nach Parallelen, Dubletten oder Alternativen für das gleiche Motiv suchen. Instagram als Massenbildspeicher ent-individualisiert. Im wahren Sinn des Wortes gilt: Alles ist schon tausendfach fotografiert worden.

9. Aufmerksamkeit für die Schöpfung

Hoffentlich ist durch die Überlegungen dieses Essays deutlich geworden, dass Protestanten gute Gründe haben zu fotografieren. Schmidtchens jahrzehntealtes Erstaunen hat sich längst erübrigt. Die Zahl der Protestanten ist sehr viel geringer geworden, seitdem er sein Buch geschrieben hat, die Zahl der Menschen, die gelegentlich oder regelmäßig fotografieren, hat sich massiv erhöht. Und es lassen sich – soweit mir bekannt ist – keine religiösen oder konfessionellen Besonderheiten mehr feststellen. Fotografie ist auch im Grunde keine demoskopische Frage.

Die theologische Beschäftigung damit hat ergeben, dass Fotografie in einem dreifachen Sinn zu einem anderen Umgang mit Aufmerksamkeit anleitet:

1. Fotografie kann dazu verführen, sich in die gefräßigen Aufmerksamkeitsökonomien[37] der sozialen Medien zu integrieren. Sie kann aber auch ein Medium sein, sich dem Zugriff solcher Vereinnahmung aus kommerziellen Interessen gerade zu entziehen[38].  Fotografie bleibt ein ambivalentes Medium, aber die Möglichkeit, sie in kritischer Absicht zu nutzen, bleibt bestehen.

2. Fotografie bedeutet nicht nur das Abbilden von Wirklichkeit oder Lebenswelt, sie impliziert auch das Nachdenken darüber, das Nachdenken über das Geheimnis des Sinns, der diese Welt innewohnen könnte.

3. Dieses Nachdenken über Sinn muss nicht notwendig religiös oder theologisch beerbt werden, aber – und ich hoffe, das haben diese Überlegungen wenigstens gezeigt – sie können theologisch beerbt werden. Fotografie kann sich auch am Geheimnis der Schöpfung abarbeiten.[39] Theologisch bedeutet die Fotografie eine Abwendung von den Binnenräumen klerikaler Bürokratie, also der geschützten Räume von Akten, formelhafter Anwendung biblischer Sprache und fundamentalistischen Burgen der Rechthaberei, generell von den Milieuverengungen kirchlicher Diskussionskultur.

Auch wenn es manche nicht wahrhaben wollen: Es gibt eine Welt jenseits der Synodenbeschlüsse, klerikaler Reformdiskussionen und Personaldebatten.

Jeder kann sie suchen und sehen.

Anmerkungen


[1]    Hans Belting, Faces. Eine Geschichte des Gesichts, München 2013 sowie dazu Wolfgang Vögele, Im Angesicht, tà katoptrizómena, H.100, 2016, http://theomag.de/100/wv24.htm.

[2]    Dante Alighieri, Commedia in deutscher Prosa, übers. von Kurt Flasch, Frankfurt 2013. Dazu Wolfgang Vögele, Die Welt, aus dem Jenseits betrachtet. Einige Bemerkungen über Dantes Commedia, Theologie und Kunst, ta katoptrizómena, H.95, 2015, http://www.theomag.de/95/wv18.htm.

[3]    Bruno Binggeli, Primum Mobile. Dantes Jenseitsreise und die moderne Kosmologie, Zürich 2006.

[4]    Susanne Gaensheimer, Simon Njami (Hg.), Die Göttliche Komödie. Himmel, Hölle, Fegefeuer aus Sicht afrikanischer Gegenwartskünstler, Bielefeld 2014.

[5]    Heimito von Doderer, Tangenten. Tagebuch eines Schriftstellers, München 1964, 301 (Eintrag vom 8.2.1950).

[6]    Gerhard Schmidtchen, Protestanten und Katholiken. Soziologische Analyse konfessioneller Kultur, Bern München 1973, 198.

[7]    Dazu Wolfgang Vögele, Zwischen Raum und Reim. Fallstudien zur Kulturtheologie, Theologische Orientierungen 44, Münster u.a. 2021.

[8]    Siehe das Themenheft der Zeitschrift Verkündigung und Forschung, H. 1, 2021, Jg. 66. Daneben auch Rainer Anselm, Bewahrung der Schöpfung. Genese, Gehalt und gegenwärtige Bedeutung einer Programmformel in der Perspektive ethischer Theologie, EvTh 74, 2014, 227-236.

[9]    Geoff Dyer, Einleitung, in: John Berger, Der Augenblick der Fotografie, hg. von Geoff Dyer, Frankfurt/M. 2020 (engl. 2013), 9-17, hier 13.

[10]   A.a.O., 38.

[11]   A.a.O., 39.

[12]   A.a.O., 118

[13]   Nebenbei: Vielleicht liegt hier ein Problem der gegenwärtigen Kirche: Sie versucht, die Geheimnisse der Welt durch eine verharmlosende Rede vom lieben Gott wegzuerklären. Sie verpflichtet sich einer banalen Erwartungsrationalität anstatt – wie es der Mailänder Kardinal Carlo Maria Martini einmal ausdrückte – ‚Geheimnisse zu feiern‘. Vgl. zur Kritik gegenwärtigen klerikalen Handelns Wolfgang Vögele, 14. Kirchenkritik. Beiträge zu Kirchentheorie, praktischer und ökumenischer Theologie, KirchenZukunft konkret 12, Münster u.a. 2019.

[14]   Berger, a.a.O., Anm. 9,  118f.

[15]   A.a.O., 120 (Hervorhebung wv).

[16]   Vgl. Michaela Bauks, Art. Bilderverbot, Wibilex, 2017, https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/15357/.

[17]   Berger, a.a.O., Anm. 9,  91f.

[18]   A.a.O., 93.

[19]   Zur Kategorie des Sinns, in der Verknüpfung von Geschichte und Religion vgl. auch Jörn Rüsen, Historische Sinnbildung. Grundlagen, Formen, Entwicklungen, Wiesbaden 2020.

[20]   Es ist im übrigen nicht zwingend, diese Gedanken über Philosophie und Fotografie theologisch zu entfalten. Auch den Philosophen Vilém Flusser haben offensichtlich ähnliche Motive bewegt. Vilém Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie, Berlin 2018 (1983, 12.Aufl.), 74: „Die Philosophie der Fotografie hat die Aufgabe – über diese Möglichkeit der Freiheit – und damit der Sinngebung – in einer von Apparaten beherrschten Welt nachzudenken; darüber nachzudenken, wie es dem Menschen trotz allem möglich ist, seinem Leben angesichts der zufälligen Notwendigkeit des Todes einen Sinn zu geben. Eine solche Philosophie ist notwendig, weil sie die einzige Form von Revolution ist, die uns noch offensteht.“ (Hervorhebungen wv).

[21]   Berger, a.a.O., Anm. 9,  93.

[22]   A.a.O., 95.

[23]   A.a.O., 97.

[24]   Dazu sehr interessant Jane Odell, How to do Nothing. Resisting the Attention Economy, New York London 2019, gerade deshalb, weil sie eine Künstlerin ist, allerdings nicht Fotografin.

[25]   Zu Farben aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, weit über die Fotografie hinausreichend das wunderbare Buch von Michel Pastoureau, Les couleurs de nos souvenirs, Paris 2010.

[26]   Siehe zum Beispiel die Fotografien von Martin Parr: https://www.martinparr.com/.

[27]   S.o. Abschnitt 2.

[28]   Berger, a.a.O., Anm. 9, 85.

[29]   A.a.O., 88.

[30]   S.o. Abschnitt 1.

[31]   Henri Cartier-Bresson, Philippe Arbaizar, Jean Clair, Claude Cookman (Hg.), Wer sind Sie, Henri Cartier-Bresson, München 2004.

[32]   Cartier-Bresson, zit.n. Berger, a.a.O., Anm. 9, 180.

[33]   Im deutschsprachigen Raum ist vor allem an das Buch Eugen Herrigels zu denken, zwar keine zen-buddhistische Abhandlung, aber der eindrückliche Bericht eines Europäers, der darüber reflektiert, was er von der japanischen Zen-Kunst des Bogenschießens gelernt hat: Eugen Herrigel, Zen in der Kunst des Bogenschießens, München 2003 (1948).

[34]   Cartier-Bresson, zit.n. Berger, a.a.O., Anm. 9,  180.

[35]   S.o. Abschnitt 2.

[36]   Cartier-Bresson, zit.n. Berger, a.a.O., Anm. 9, 190f.

[37]   Zur Aufmerksamkeitsökonomie Georg Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München 1998.

[38]   Vgl. dazu die erwähnten Arbeiten von Vilém Flusser (Anm. 20) und Jane Odell (Anm. 24).

[39]   Was den Begriff der Aufmerksamkeit angeht, so verfolgt Günter Thomas, ohne auf die Kunst der Fotografie einzugehen, einen sehr spannenden pneumatologischen Ansatz der theologischen Aufmerksamkeitstheorie. Vgl. Günter Thomas, Der Geist als Macht der Aufmerksamkeit, in: Gregor Etzelmüller et al. (Hg.), Gottes Geist und menschlicher Geist, FS Michael Welker, Leipzig 2013, 117-130.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/134/wv074.htm
© Wolfgang Vögele, 2021