Medienreligion unplugged

Medienerfahrungen und Religiosität in empirischer Perspektive[*]

Jörg Herrmann

Seit der inzwischen verstorbene Religionswissenschaftler Arno Schilson den Begriff der Medienreligion 1997 in die Diskussion einführte, hat es eine ganze Reihe von Arbeiten und Diskussionen zu dieser Thematik gegeben. Im Mittelpunkt steht dabei die im Horizont eines funktionalen Religionsverständnisses formulierte These, dass die audiovisuelle Medienkultur zentrale Funktionen der narrativen Lebensdeutung und der rituellen Alltagsstrukturierung mit der kirchlichen Religionskultur teilt bzw. von dieser übernommen hat. In der Konsequenz dieser Überlegungen gewinnen wir unsere im weitesten Sinne religiösen Sinn- und Wertorientierungen heute nicht mehr im Gottesdienst, sondern u. a. vor dem Hausaltar Fernsehen. Unsere persönlichen Hoffnungen speisen sich nicht mehr aus den Auferstehungsberichten des Neuen Testamentes, sondern aus Filmen wie „American Beauty“, „Magnolia“ oder „About Schmidt“. Diese Überlegungen sind dabei nicht unumstritten. So hat die Medienwissenschaftlerin Angela Keppler mit „fünf Thesen zu den Grenzen einer erhellenden Analogie“ dagegengehalten: „’Medienreligion’ ist keine Religion.“ Keppler will von Religion „nur im Fall einer starken Transzendenz (...) sprechen, die sich auf eine ‚höhere’ oder ‚wahrere’ Welt bezieht“.

Vor dem Hintergrund dieser Diskussionslage drängt sich die Notwendigkeit auf, die in der Analyse und Interpretation von Medienprodukten gewonnenen Thesen einer empirischen Bewährung und Überprüfung zu unterziehen - zumal Studien zur religiösen Valenz von Medienerfahrungen nach wie vor fehlen. Dieses Defizit steht im Kontext eines generellen Mangels an religionsempirischer Forschung. Man weiß viel über die historischen Texte der Religionen, wenig aber über die gelebte Religion der Zeitgenossen. Es mehren sich jedoch die Initiativen, dieses Ungleichgewicht zugunsten der Gegenwartsreligion zu verschieben. Im Blick auf die Medienreligion sind dem Autor wenigstens zwei Projekte bekannt, die dieses Thema in empirischer Perspektive aufgegriffen und mit Hilfe qualitativer Methoden untersucht haben. Beide Studien werden in Kürze veröffentlicht werden. Der vorliegende Text versucht, einige Ergebnisse einer der beiden Arbeiten – der Habilitationsschrift des Verfassers – zusammenzufassen.

Ausgangspunkt der Arbeit war die Debatte um den Begriff der Medienreligion und in diesem Zusammenhang auch meine Dissertationsschrift, in der ich die religiösen Sinnmuster in den erfolgreichsten populären Spielfilmen der 1990er Jahre untersucht hatte (Herrmann 2001). Ein wichtiger Bezug des medienreligiösen Diskurses ist Thomas Luckmanns funktionale Religionstheorie, die Religion als kulturelle Bearbeitung existentieller Sinnbedürfnisse versteht. Vor diesem Hintergrund erscheint Luckmann die klassische Säkularisierungsthese als moderner Mythos. Religion kann nicht sterben, sie kann nur ihre Form verändern. Ein Ergebnis dieser Umformungsprozesse ist, so Luckmann, dass aus der deutlich sichtbaren und kirchlich institutionalisierten Religion zu großen Teilen unsichtbare Individuenreligion geworden ist. Im Ergebnis lassen sich sichtbare und unsichtbare, kirchliche und außerkirchliche Religionskulturen unterscheiden - solche Religion also, die aufgrund ihrer traditionellen Ausdrucksformen schon auf den ersten Blick als Religion kenntlich ist und solche Religion, die erst aus der Perspektive eines funktionalen Begriffes von Religion als solche beschrieben werden kann.

Vor diesem hier nur sehr verkürzt beschriebenen Theoriehintergrund wurden Film und Fernsehen, Literatur und Internet religionshermeneutisch untersucht. Dabei wurde die These, dass Medien viele Funktionen der kirchlichen Religionskultur übernommen haben, auch außerhalb der Theologie von Sozial- und Medienwissenschaftlern vertreten. So konstatiert der Medienwissenschaftler Knut Hickethier (2000:43) im Blick auf die religiösen Funktionen des Fernsehens: „Das Fernsehen hat also (...) auf einer strukturellen Ebene, weniger in den inhaltlichen Details, Funktionen der Religion übernommen: Sinnstiftung in einer an sich ‚sinn-los’ erlebten Umwelt, Orientierungsvermittlung in einer als unübersichtlich erfahrenen Welt und eine Ritualisierung des Alltagslebens durch die mediale Zeitstrukturierung. Diese Funktionen sind wesentlicher und weitaus wirksamer als die Übernahme bestimmter religiöser Inhalte.“

Ähnliches zeigen die religionshermeneutischen Untersuchungen des Kinofilms. Ihre Analysen der expliziten und impliziten religiösen Dimensionen des Films machen ebenfalls deutlich: Die Religion des Kinofilms ist heute vor allem implizit und darum entzifferungsbedürftig. Sie lebt in Transformationsgestalten des Christlichen, die erst auf den zweiten Blick als solche erkennbar werden, sie entwirft Sinnhorizonte, deren religiöse Valenz erst auf der Basis eines funktionalen Begriffes von Religion deutlich wird.

Zur Besonderheit der Medienreligion des Kinos gehört dabei, dass ihre Praxis in mancher Hinsicht große Ähnlichkeit mit der Praxis des kirchlichen Christentums hat: im Kino wie in der Kirche werden innerhalb ritueller Rahmungen narrativ basierte Lebensdeutungen zur Aufführung gebracht. Doch wie werden die narrativen Sinnmuster des Kinos von den Zuschauerinnen und Zuschauern aufgegriffen und verwendet? Wie schreibt sich ein Film wie „Titanic“ in die Medien- und Religionsbiographie seiner Rezipienten ein? Was bedeutet die rituelle Fernsehnutzung für ihre Praktikanten? Wie tragen Lektüren zur Selbst- und Weltdeutung von Leserinnen und Lesern bei? Welche Bedeutung haben Medienerfahrungen als Ressourcen der Sinnorientierung?

Diesen Fragen bin ich mit Hilfe von Methoden der qualitativen Sozialforschung nachgegangen, Methoden, die es erlauben, subjektive Erfahrungen und Sichtweisen zu erforschen und zu analysieren. In religionstheoretischer Hinsicht bin ich auch und gerade in den Rezeptionsanalysen von einem weit gefassten funktionalen Begriff von gelebter Religion ausgegangen. Um phänomenologische Offenheit zu gewährleisten, schien es sinnvoll, den Winkel möglichst weit einzustellen und ganz generell nach subjektiv bedeutsamen Sinnmustern zu fragen.

Es ging also in religions- und medienbiographischen Interviews um bedeutsame Erfahrungen mit Büchern, Filmen und Fernsehsendungen und in einem letzten Interviewabschnitt auch ganz explizit um in ethisch-religiöser Hinsicht prägende Erfahrungen. Die  Mediensozialisation zunächst nur anhand dieser drei exponierten Einzelmedien nachzuzeichnen, schien mir im Rahmen einer ersten Annäherung an die Thematik vertretbar. Der Stichprobe der Interviewpartner lagen folgende Kriterien zugrunde: evangelische Kirchenmitgliedschaft, distanziertes Kirchenverhältnis, je zur Hälfte Frauen und Männer, mit und ohne Abitur, zwischen Mitte 20 und Mitte 30, möglichst also in der ersten Phase der Berufstätigkeit nach dem Abschluss biographischer und berufsbiographischer Grundorientierungen. Als Interviewform wählte ich das Leitfaden-Interview. Meine Interviewpartner gewann ich über ein Universitätsprojekt und durch meinen eigenen Freundes- und Bekanntenkreis (zur Reflexion der darin liegenden Problematik s. die noch folgende Buchpublikation).

Vor diesem Hintergrund führte ich im Zeitraum von März bis September 2003 insgesamt 20 in der Regel um die zwei Stunden lange Interviews. Die 16 aussagekräftigsten habe ich transkribiert und zunächst mit einem kategorisierenden Verfahren in Anlehnung an die Grounded Theory ausgewertet. Acht Interviews, die mir besonders typische Züge gelebter Medienreligion zu zeigen schienen, habe ich daraufhin einer vertiefenden Einzelanalyse unterzogen.

Die Fallzahlen lassen ahnen: Allgemeinaussagen lassen sich auf der Basis so verhältnismäßig weniger Fälle nicht ableiten. Dies ist auch nicht das Interesse qualitativer Forschung. Es geht ihr vielmehr um die Rekonstruktion von Subjektivität und Individualität. Das kategorisierende Verfahren führt im besten Fall zu typischen Mustern auf der Basis der erhobenen Daten. Generalisierungen wären erst möglich, wenn man die herausgearbeiteten Typologien quantitativ beforschen würde.

Hinsichtlich der Debatte um die Medienreligion konnte das Interviewmaterial die These bewahrheiten und konkretisieren, dass Medien wichtige Funktionen der Sinndeutung und der Lebensstrukturierung erfüllen. Medienprodukte werden genutzt, um das Leben zu verstehen und zu deuten, zu strukturieren und zu entwerfen, sich von ihm vorübergehend zu distanzieren und es im Zusammenhang eines größeren Sinnkontextes zu betrachten, es zu bewältigen, zu steigern und zu perspektivieren. Die in theologischen, kulturwissenschaftlichen, medienwissenschaft­li­chen und philosophischen Diskursen vertretene These von der Übernahme von Sinndeutungsfunktionen aus dem Bereich der kirchlich vermittelten christlichen Religionskultur durch die aktuelle Medienkultur und hier insbesondere durch Literatur (Sölle, Rorty, Huizing), Kinofilm (Blothner, Gräb, Herrmann) und Fernsehen (Hickethier, Reichertz, Thomas)  konnte für alle untersuchten Einzelmedien empirisch bestätigt und konkretisiert werden.

Dabei zeigte sich erneut, dass Medienreligion eine im Kern implizite bzw. unsichtbare Religion ist: Sie versteht sich in der Regel nicht selbst als Religion, sondern erscheint nur in der funktionalen Interpretation als solche. Die Medienreligion kommt zumeist ohne explizit religiöse Semantik aus, sie ist eine Diesseitsreligion: explizite Bezugnahmen auf große Transzendenzen fehlen in der Regel. Auch das von manchen zum Unterscheidungsmerkmal von Religion erhobene Unbedingtheitskriterium im religionsphilosophischen Sinne ist erfüllt.  Man könnte allenfalls davon sprechen, dass die Unbedingtheit ganz ins Subjektive hineingezogen ist. Medienreligiös bedeutsam ist, was mich unbedingt angeht, was im „individuellen System letzter Relevanzen“ (Luckmann 1991: 118) von letzter Bedeutung ist.

In medienbiographischer Hinsicht zeigte sich, dass Bücher und/oder das Fernsehen die Kindheit bestimmen und das Kino erst im Verlauf des Jugendalters und des frühen Erwachsenenalters wichtiger wird. In funktionaler Hinsicht fällt auf, dass bei der jugendlichen Kinofilmrezeption mimetische Aspekte und Vorbildfunktionen im Vordergrund stehen. Mit zunehmendem Alter – ab der Adoleszenz etwa - wird der Kinofilm dann als Kontingenzbewältigungsmodell interessanter, realistische Problemfilme finden ein verstärktes Interesse, Filme, die von Lebenskrisen und deren Bewältigung erzählen.

Typisch für die Kinoerfahrung ist ihre soziale Einbettung, ihr präsentativer Alteritätscharakter und ihr mimetisches Stimulationspotential. Charakteristisch für das Lesen ist der private Raum, die hohe Rezeptionsinvestition, die starke Stimulation der Imagination und die Komplexität der Erfahrung. Bezeichnend für die Fernsehnutzung ist ihr alltagsbegleitender Charakter, ihre rituelle Strukturierungsfunktion, ihre Unterhaltungs-, Informations-, Lebensbewältigungs- und ethisch-moralische Orientierungsfunktion. Insgesamt kristallisierten sich drei zentrale medienreligiöse Funktionen heraus: die Lebensbewältigungsfunktion (Kontingenzbewältigung, Alltagstrukturierung, Konfliktlösung, Selbst- und Weltverstehen), die Lebenssteigerungsfunktion (ästhetische Perspektive, Unterhaltung) und die Lebensperspektivierungsfunktion (Vorbilder, Ideal des authentischen Lebens, Horizonterweiterung, imaginative Variation). Sie korrespondieren mit den Zeitmodi Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und den entsprechenden christlich-religiösen und zugleich dogmatischen Kategorien Schöpfung, Erlösung und Erneuerung.

Am deutlichsten wird die Lebens- und Kontingenzbewältigungsfunktion (1) in den Rezeptionspraktiken, die man als rituelle Videopraktiken bezeichnen könnte. So hat Patrick, der mit einer psychischen Erkrankung leben muss, die Verfilmung des Musicals „Linie eins“ zeitweise zwei Mal am Tag gesehen, manchmal nur bis zu dem Lied eines Mädchens, das darin von seinem schweren Leben erzählt.  Der in diesem Lied zum Ausdruck gebrachte Mut dieses Mädchens habe ihm immer wieder „ein bisschen Hoffnung gegeben“. Auch Johanna hat so einen Film, der aufgrund seines starken Bezuges zu ihrer eigenen Lebenssituation seelsorgerliche Funktionen hat und den sie immer wieder hervornahm, wenn „es irgendwo schwierig war“. Dann habe sie sich den Film angesehen, sei dadurch auf neue Ideen gekommen und habe sich durch die Wahrnehmung, „dass es anderen auch so geht“ getröstet gefühlt. Und Klaus interessiert sich als Erwachsener zunehmend für realistische Geschichten ohne Happy End, für Filme, die zeigen, wie Menschen mit dem Scheitern umgehen und Krisen bewältigen.

Bei der Funktion der Lebenssteigerung (2) geht es um die Erfahrung immanenter Transzendenz, um das Phänomen einer Partizipation an einer ästhetisch gestalteten Welt, die durch Selbstvergessenheit und Selbstüberschreitung gekennzeichnet ist. Besonders intensiv kann die Erfahrung der selbstvergessenen Partizipation, der Unterbrechung des Alltagsbewusstseins, im Kino sein. Henrik sagt von seiner Erfahrung mit dem Film „Billy Elliot“: „Also  man hat vergessen, dass es eine Fiktion ist. Man hat sich wirklich da hineinbegeben, als wenn man teilhaben würde an seinem Leben.“ Neben dem narrativen Mitgenommenwerden von einer Filmerzählung lässt sich auch ein mehr kontemplatives, sinnliches Angerührtsein durch Bilder beobachten, eine Verschiebung der Wahrnehmung, Intensivierung ihrer ästhetischen Qualität. Eine solche Intensivierung hat Lukas der Film „Il Postino“ vermittelt. Er erzählt die Geschichte der Beziehung eines Briefträgers zu dem im Exil lebenden Dichter Pablo Neruda. Der Briefträger findet durch den Kontakt zum Dichter zu einer neuen Lebensqualität und Lebensintensität. Lukas führt aus:

„Also dass das Leben so ´ne andere Ebene kriegt. Also vorher is er halt sehr direkt am Leben, was zum Beißen kriegen (...) und das andere hat dann eher so was wie, ja, wie riecht die Luft und wie schmeckt das Wasser und alles so noch mal reflektieren.“

Diese ästhetische Dimension der Medienreligiosität trifft sich mit theologischen Überlegungen zum Begriff impliziter Religiosität. Hans-Günter Heimbrock (2001: 84, 90) spricht von „Suchbewegungen von Subjekten nach gesteigertem Leben“ und von einem „Gewahrwerden der Transzendenz in der Immanenz“. Dass dieses Gewahrwerden eine Domäne ästhetischer Erfahrung ist, wird durch die Interviews einmal mehr deutlich. Sie bestätigen, was im Diskurs über ästhetische Erfahrung theoretisch beschrieben worden ist: dass die vollzugsorientierte Rückwendung der Reflexionssubjektivität auf ihre sinnlichen Wahrnehmungen eine Transzendenzerfahrung in einem basalen und noch nicht näher qualifizierten Sinn beinhaltet.

Die Lebensperspektivierungsfunktion (3) schließlich ist auf die Zukunft ausgerichtet und imaginativ akzentuiert. Sie dient der ästhetisch-imaginativen Optionalisierung des Selbst und der eigenen Zukunft. Ihre hauptsächlichen Medien sind Romane und Filme. Für Felix eröffnet der Roman „tausend Möglichkeiten, in die du gehen kannst“. Ein Muster findet gleichwohl besonderen Zuspruch: Das Ideal des authentischen Lebens. Dieses von Charles Taylor (1996) zum zentralen Leitbild der modernen Kultur erklärte Ideal findet sich bei Anna, wenn sie im Zusammenhang ihrer Äußerungen über ihre Lektüre von „Der Meister und Margarita“ betont, dass es wichtig ist, „einen selbstbestimmten Weg“ zu gehen, bei Henrik, wenn er davon spricht, dass Filme ihm Orientierung im Blick auf die Frage geben würden, „wie du wirklich leben willst“, bei Lena, wenn sie anlässlich des Romans „Sabbaths Theater“ darüber klagt, dass Frauen es oft nicht wagen, ihr eigenes Leben zu leben und unfähig sind, mit Situationen der Unfreiheit zu brechen. Insbesondere die Äußerungen von Christoph (u. a.: „Wenn jemand schöne Gefühle und Gedanken hat und die dann lebt, auch alles mögliche zulässt, das ist für mich Authentizität“) und von Stefan über seine Hemingway- und Jonas-Lektüren („Aber ich hatte auch das Gefühl, dass da irgendetwas auf den Punkt getroffen wird, dass ich da irgendwie drin bin“) weisen darauf hin, dass dem Gefühl eine zentrale Rolle bei der Verwirklichung des Ideals des Authentischen zukommt. Es muss im Dialog mit den Medienprodukten zu einer gefühlten Resonanz zwischen Selbst und Medienangebot kommen: zu gefühlter Stimmigkeit. Das Ideal des Authentischen hat insofern auch eine emotional-ästhetische Dimension. Seine religiöse Dimension klingt an, wenn Taylor (1995:114) schreibt:

„Wenn Authentizität soviel heißt wie Treue zu sich selbst und Wiedergewinnung des eigenen ‚Gefühls des Daseins’, dann können wir sie zur Gänze vielleicht nur in dem Fall erreichen, in dem wir erkennen, dass wir durch dieses Gefühl mit einem umfassenderen Ganzen in Verbindung gebracht werden.“

Taylor deutet das in der Romantik erstmals stärker aufkommende Bedürfnis nach Selbsterfahrung und Naturerfahrung dabei als Reaktion auf den Verlust öffentlicher Ordnungen. Gesellschaftskulturell wegbrechende Zugehörigkeiten müssten durch subjektiv gefühlte Zugehörigkeiten kompensiert werden.

Das Gefühl eines umfassenderen Ganzen wird allerdings in meinem Interviewmaterial nur von einem Interviewpartner ausdrücklich thematisiert und auf große Transzendenzen bezogen. Die Resonanzerfahrung des Authentischen hat in den übrigen Fällen keine explizit religiöse Bedeutung. Ihre religiöse Valenz erschließt sich nur in der funktionalen Perspektive. Diese Sichtweise wird im Übrigen von sozialphilosophischen Interpretationen (Eberlein 2000:283) gestützt, die Authentizität als Element einer „Ersatzreligion der Gegenwart“ deuten. Undine Eberlein (2000:312) formuliert:

„Einzigartigkeit, Authentizität, Selbstverwirklichung, Selbstfindung sind die Themen des modernen Numinosen, die als ‚letzte Werte’ dem Leben der romantischen Individualisten einen scheinbar unhintergehbaren Sinnhorizont bieten. Genau darin besteht die wichtigste Leistung des romantischen Individualitätsmodells als Religionsersatz. Es ist ein Modernisierungsprodukt, das auf die Sinndefizite, welche die sozialstrukturellen und kulturellen Veränderungen hinterlassen, mit individueller Sinnstiftung reagiert. Mit der Wandlung der Formen und Inhalte des Heiligen geht aber auch der funktionale Gehalt der Religion teilweise an den romantischen Individualismus über.“

Ich würde jedoch anders als Undine Eberlein nicht von einer „Ersatzreligion“ sprechen, sondern im Blick auf das von mir erhobene Material von einer vollgültigen Medienreligiosität im Sinne eines funktionalen Religionsverständnisses.

Das starke Interesse an Selbstbestimmung im Religiösen beinhaltet zugleich Kirchendistanz. Individuelle Religiosität baut sich, so zeigt das Material, vor allem im freien Feld der außerkirchlichen Religionskultur auf. Sie besteht aus einem Patchwork expliziter und impliziter Religionselemente, das medienreligiöse, traditionell-christliche, esoterische und asiatische Versatzstücke beinhalten kann. Dabei lassen sich vielfältige Übergänge zwischen impliziter und expliziter Religiosität und zwischen sozialen und medialen Erfahrungen beobachten. Besonders eindrucksvoll ist hier das Beispiel von Hans, das zeigt, wie der mimetische Impuls einer Fernsehserie („Kung Fu“) Lektüren und soziale Erfahrungen nach sich ziehen kann, die schließlich in eine buddhistische Meditationspraxis münden. Der Prozess beginnt im Alter von 14 Jahren. Hans wollte „eben so gut (...) sein wie David Carradine im Film und damit stark und unangreifbar“. Die mimetische Wirkung der Fernsehbilder  löst einen Prozess der Selbstbildung aus, der bis in die Gegenwart reicht. Von zentraler Bedeutung für die starke mimetische und in der Konsequenz dann auch religionsproduktive Wirkung der Serie waren die „fantastisch“ aussehenden Bilder von Carradine.

Die medienreligiösen Anteile individueller Religiosität leben dabei von kontingenten Schlüsselerlebnissen vor allem mit Büchern und Filmen. Sie spielen eine zentrale Rolle bei der selbstbestimmten Arbeit an den individuellen Grundstrukturen, deren Ausbildung stark von sozialen Kontexten (Familie, Schule, Peer Group) bestimmt ist. Das Ergebnis dieser Arbeit ist nicht resultativ im Sinne der Summierung einer beständigen Addition von Perspektiven und Semantiken zu verstehen. Das Medienreligiöse ist vielmehr beständig im Fluss. Die individuellen Sinnhorizonte der Medienreligion zeigen darum nur phasenweise Kontinuität.

Eine große Bedeutung im Blick auf die Nachhaltigkeit von bedeutsamen Medienerfahrungen kommt der ästhetischen Gestalt der Medienprodukte zu. Die Interviews zeigen: Ob ein Film berührt, hat wesentlich mit seiner Ästhetik zu tun: mit seiner ästhetisch-semantischen Dichte. Die Rede von anrührenden, berührenden oder nahegehenden Erfahrungen mit Filmen macht weiterhin deutlich, dass Bedeutsamkeit vor allem eine Frage der (existentiellen) Emotionalität ist. Dieser Zusammenhang verweist auf Defizite einer an Textualität und am Deutungsbegriff orientierten Religionstheorie.

Der Mangel an authentischer Emotionalität war im Übrigen auch ein zentrales Thema der im Rahmen der Interviews geäußerten Kirchenkritik. So wurde kritisiert, dass die bei der Lektüre empfundene „Wärme“ der Psalmtexte im Gottesdienst nicht spürbar würde (Klaus), dass der Konfirmandenunterricht emotionslos „wie Mathe“ gewesen sei (Lukas), der Superintendent nicht in der Lage war, religiöse Fragen zu beantworten, die Predigten langweilig waren und generell Menschen gefehlt hätten, „die überzeugen, (...) die Glauben ausstrahlen und leben“ (Lukas).

Es wurden Erfahrungen mit authentisch gelebter Religion vermisst, die zur Mimesis hätten Anreiz geben können; es fehlten Vorbilder, die Lust darauf hätten wecken können, ähnlich zu leben und zu sein: es fehlte die Attraktivität protestantischer Religiosität.

Die Interviews verweisen mithin mehrfach auf das Thema authentischer religiöser Emotionalität. In der protestantischen Praxis vermisst, in der aktuellen Religionstheorie stiefmütterlich behandelt, aber in den Medienerfahrungen von zentraler Bedeutung, drängt sich die weitere Erforschung und Erhellung der Rolle des Gefühls im Kontext religiöser Erfahrung und Praxis als ein Desiderat meiner Untersuchung auf. In kulturpraktischer Hinsicht verweist die festgestellte lebensorientierende von Medienerfahrungen erneut auf die mangelhafte Präsenz der Medienthematik in den institutionellen Bildungsprozessen.

Was den Begriff der Medienreligion betrifft, so hat sich einmal mehr gezeigt, dass er nur im Kontext eines funktionalen Religionsverständnisses Sinn macht. In dieser Perspektive bezeichnet er Medienerfahrungen von lebensorientierender und für die Individuen letztinstanzlicher Bedeutung. Dafür braucht es weder religiöse Semantiken noch große Transzendenzen. Kritiker dieser Näherbestimmung des Medienreligiösen halten allerdings genau diese Merkmale für religionstheoretisch zentral. Auch Hubert Knoblauch (2005, 72) hat unlängst vorgeschlagen, von religiöser Erfahrungen erst dann zu sprechen, wenn diese beiden Merkmale vorliegen. Unterhalb dieser Schwelle möchte Knoblauch (a.a.O., 70) lieber den Terminus Transzendenzerfahrungen verwenden. Mir scheint das funktionale Argument das Konzept der Medienreligion hingegen ausreichend zu legitimieren. Die in dem Begriff enthaltene Betonung der Kontinuitäten zwischen christlichen Traditionen und massenmedialen Angeboten sensibilisiert zudem für die vielfältigen kulturellen Transformationsprozesse im Überscheidungsfeld von Medien und Religion. Dies scheint mir von Vorteil, sowohl für die Religionshermeneutik wie für die Religionspraxis.

Literatur
  • Eberlein, Undine. 2000. Einzigartigkeit. Das romantische Individualitätskonzept der Moderne. Frankfurt/M./New York: Campus.
  • Herrmann, Jörg. 2001. Sinnmaschine Kino. Sinndeutung und Religion im populären Film. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.
  • Hickethier, Knut. 2000. Transformationen. In: Thomas, Günter (Hg.). Religiöse Funktionen des Fernsehens? Medien- kultur- und religionswissenschaftliche Perspektiven. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 29-44.
  • Knoblauch, Hubert. 2005. Die Soziologie der religiösen Erfahrung. In: Friedo Ricken (Hg.). Religiöse Erfahrung. Ein interdisziplinärer Klärungsversuch. Stuttgart: Kohlhammer, 69-80.
  • Luckmann, Thomas. 1991. Die unsichtbare Religion. Mit einem Vorwort von Hubert Knoblauch. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
  • Taylor, Charles. 1995. Das Unbehagen an der Moderne. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
  • Ders. 1995. Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt/Main.
Anmerkungen

[*]    Erstveröffentlichung in: Ästhetik & Kommunikation, Heft 131, 36. Jahrgang, Winter 2005, 19-25.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/134/jh38.htm
© Jörg Herrmann, 2021