Die Flucht nach Ägypten

Andreas Mertin

Die Quellen
  • Matthäus 2, 13-15 (80-100 n.Chr.)
  • Arabisches Kindheitsevangelium (6. Jh.)
  • Pseudo-Matthäus-Evangelium (600-650 n.Chr.)
  • Legenda Aurea (an 1292)
Matthäus 2, 13-15

Als sie aber hinweggezogen waren, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum und sprach: Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir's sage; denn Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen. Da stand er auf und nahm das Kindlein und seine Mutter mit sich bei Nacht und entwich nach Ägypten und blieb dort bis nach dem Tod des Herodes, damit erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht (Hosea 11,1): »Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.«

Pseudo-Matthäus-Evangelium

Einen Tag, bevor das geschehen sollte, wurde Josef im Schlaf von einem Engel des Herrn ermahnt, der ihm sagte: "Nimm Maria und das Kind, und zieh auf einer abgelegenen Straße nach Ägypten!“ Josef aber machte sich auf den Weg, wie ihm der Engel geboten hatte. Als sie an eine Höhle kamen und in ihr rasten wollten, stieg Maria vom Lasttier, setzte sich nieder und nahm Jesus auf den Schoß. In der Begleitung Josefs waren drei Knaben und bei Maria ein Mädchen, die die Reise mitmachten. Und siehe, plötzlich kamen aus der Höhle viele Drachen, vor deren Anblick die Kinder vor bangem Entsetzen laut aufschrien. Da stieg Jesus vom Schoß seiner Mutter herab und stellte sich vor den Drachen auf seine Füße. Sie aber fielen huldigend vor ihm nieder, und nach dieser Huldigung entfernten sie sich. ... Gleicherweise huldigten ihm Löwen und Panther und begleiteten ihn in der Wüste. Wohin Maria und Josef auch gingen, schritten sie ihnen voran, zeigten den Weg und neigten wiederum die Köpfe zur Huldigung vor Jesus.

Kunstgeschichte

In der Kunstgeschichte gibt es das Motiv seit dem 6. Jahrhundert und es fächert sich mit der Zeit und zunehmender Legendenbildung immer mehr aus. Der Grundtyp (Maria, Jesuskind, Josef und ein Reittier) kommt aber durch alle Zeiten vor. Darüber hinaus gibt es viele ungewöhnliche Bildlösungen und Bildinnovationen. Bis ins 20. Jahrhundert bleibt die Flucht nach Ägypten, nicht zuletzt, weil sich ein Interesse für Ägypten und den Orient ausbildet, ein spannendes Thema.


1140 – Ital. Mosaik Palermo

Auf diesem Mosaik wird der zweite Traum des Josef mit der dann erfolgenden Flucht nach Ägypten kombiniert. Unter der Begleitung eines Gehilfen reitet Maria auf einem Pferd, während Josef mit dem Jesuskind auf den Schultern voranschreitet. Der durchaus schon herangereifte Jesus blickt zurück und hält die rechte Hand ausgestreckt. Sie bewegen sich an einem Flusslauf entlang, in dem sich Fische tummeln.


1270 – Guido da Siena

Das Bild wird der Werkstatt von Guido da Siena (tätig in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts) zugeschrieben und ist um 1270 entstanden. Die Bildtafel ist 33,8 x 46 cm groß und befindet sich heute im Lindenau Museum in Altenburg. Das Bild gehört zu einem 12 Teile umfassenden Polyptychon aus dem Dom von Siena. Am Anfang des 19. Jahrhunderts wurde dieses Ensemble auseinandergerissen und über die Welt verstreut.

Über den Künstler Guido da Siena wissen wir nicht viel, er könnte von dem Florentiner Coppo di Marcovaldo ausgebildet worden sein, als dieser in Siena in Gefangenschaft war. Florenz und Siena waren damals verfeindet und gehörten verschiedenen Lagern, also entweder den kaisertreuen Ghibellinen (Siena) oder den papsttreuen Guelfen (Florenz) an. Die Guido da Siena zugeschriebenen Bilder weisen so unterschiedliche Qualität auf, dass man einige von ihnen für Arbeiten aus seiner Werkstatt hält. Das spräche dafür, dass er in seiner Zeit ein erfolgreicher Künstler war.

Auf der Tafel zur Flucht nach Ägypten sehen wir im Zentrum Maria mit Jesus beim Reiten, ihr Reittier wird von einem Jüngling am Geschirr geführt. Hinter ihnen läuft der deutlich ältere vollbärtige Josef mit einem Wanderstab und einem Leinenbündel über der Schulter. Den Hintergrund bildet eine skizzenhaft angelegte Fels- und Gebirgslandschaft.


1304 – Giotto di Bondone

Mit Giotto di Bondones (1267-1337) Fresko mit der Flucht nach Ägypten aus der Scrovegni-Kapelle in Padua kommen wir zur ersten naturorientierten Darstellung der Szene. Vor einer kargen Berglandschaft sehen wir die Reisegruppe auf einem ansteigenden Bergpfad vor unseren Augen vorbeiziehen. Insgesamt gehören sieben Personen der Reisegruppe an. Rechts vorne sehen wir Josef, der von einem Engel geführt wird, mit einem Wanderstab über der Schulter und einem Wasserkorb in der Hand. Neben ihm führt – wenn wir der Erzählung des Pseudo-Matthäus-Evangeliums folgen - ein junges Mädchen den Esel, auf dem Maria mit dem Kind sitzt, am Geschirr. Maria ist schön gekleidet und trägt das Kind in einer Schlaufe vor ihrem Körper. Hinter der Gruppe laufen – wieder nach der Schilderung des Pseudo-Matthäus-Evangeliums – drei Jungen. Insgesamt wirkt die gesamte Gruppe etwas statuarisch oder wie andere schreiben: erhaben.


1379 – Meister Bertram

Die Bildtafel des Meister Bertram von Minden (1340-1414) ist ein Teil des Grabower Altars, den dieser zwischen 1375 und 1383 für die Hamburger St. Petri-Kirche geschaffen hat. Die Wikipedia schreibt zum Altar:

Er ist einer der ältesten vollständig erhaltenen Flügelaltare Norddeutschlands. Aus der St.-Petri-Kirche war er im 18. Jahrhundert nach Grabow in Mecklenburg gebracht worden, weil die dortige Stadtkirche durch einen Brand ihren Altar verloren hatte. Durch diesen Ortswechsel blieb er von dem verheerenden Hamburger Brand von 1842, der auch die St.-Petri-Kirche zerstörte, verschont. Lange Zeit wurde er für ein Werk Lübecker Meister gehalten, erst 1902 identifizierte Friedrich Schlie ihn als Werk von Meister Bertram. Alfred Lichtwark, Direktor der Hamburger Kunsthalle, erwarb daraufhin den Grabower Altar für deren Sammlung. Im Februar 1903 wurde der Altar in die Hamburger Kunsthalle gebracht. Die Entdeckung des Altars in der Grabower Kirche brachte erst die Erforschung der spätmittelalterlichen Tafelmalerei Norddeutschlands in Gang.

Die Bildtafel mit der Flucht nach Ägypten zeigt auf engem Raum drei bzw. vier Nährungssituationen: den fressenden Esel, den an einem Beutel saugenden Josef, der Maria eine Wasserflasche hinreicht und das Christuskind, das von Maria gestillt wird. Im engeren Sinne gehört das Bild daher zum Bildtypus „Ruhe auf der Flucht“.

Im Setting des gesamten Grabower Altars haben die Betrachter:innen zuvor auf die barbarische Abschlachtung der Kinder in Bethlehem geschaut, weshalb die Erleichterung über die idyllische Situation der Heiligen Familie umso größer ist – dieser lebensbedrohenden Gefahr sind die Protagonisten glücklich aufgrund göttlicher Intervention entkommen.


1423 – Gentile da Fabriano

Gentile da Fabriano (1370-1427) ist ein italienischer Maler der Spätgotik, der dieses Bild für die dreiteilige Predella des Altars der Bankiersfamilie Strozzi in der Kirche Santa Trinita in Florenz geschaffen hat. Zwei Elemente dieser Predella (Verkündigung und die hier gezeigte Flucht nach Ägypten) befinden sich heute in den Uffizien (ebenso wie das Hauptgemälde mit der Anbetung der Könige), darüber hinaus gibt es noch die Darstellung im Tempel, die sich im Louvre in Paris befindet. Wir haben also nur ein kleines Detail aus einer Gesamtinszenierung vor uns, die insgesamt um die Kindheit Christi kreist.


Wir sehen im Hintergrund eine hügelige Landschaft mit Büschen und Obstbäumen, auf deren halblinken Seite eine Burg hoch über den Hügeln thront. Die Reisegruppe scheint aber nicht von dort gekommen zu sein, sondern aus einer Gegend, die links vom Betrachter liegt. Am rechten Bildrand sehen wir eine ausgeprägte Burgstadt, die durchaus eine konkrete Stadt der Toskana sein könnte. Umgeben ist sie auf den Hügeln von mehreren Burgen. An der Spitze der Reisegruppe befindet sich der mit einem Nimbus versehene Josef mit einem Wanderstab in der linken Hand und einem Seil zum Geschirr des Esels in der rechten Hand. Der bärtige und kahlköpfige Josef trägt einen gelbfarbenen Überhang und läuft barfuß. Sein Blick richtet sich auf den Esel. Hinter ihm sehen wir die nimbusbekrönte Maria im traditionellen blauen Überhang, die das ebenfalls nimbusbekrönte und gewickelte Christuskind auf Armen trägt. Hinter ihnen laufen zwei höfisch bekleidete Frauen (deren Kleidung für eine lange Wanderung eigentlich ungeeignet ist), die sich im intensiven Gespräch befinden. Eine von ihnen hat sich gerade von einem der Obstbäume am Wegesrand eine Frucht geholt und hält sie betont hinter ihrem Rücken verborgen. Die andere Frau trägt einen Korb. Gentiles ganzes Können wird in dieser Predella-Szene deutlich.


1496 – Albrecht Dürer

Mit Albrecht Dürer (1471-1528) kommen wir nun zu den deutschen Renaissancemalern. Das hier betrachtete Bild von der Flucht nach Ägypten gehört zu seinen frühen Werken, es gehört zu einem Altar mit den sieben Schmerzen der Maria. Dürer war am Anfang seiner Karriere auf Wanderschaft gewesen und hatte u.a. den Oberrhein, die Niederlande und den Mittelrein besucht.

Die Flucht nach Ägypten zeigt (mit einer kleinen Ausnahme) aber eine typisch deutsche Szene: einen mit Stiefeln geschnürten Josef, der einen Wanderstab über der Schulter trägt und dessen Kleidung durch die Eile der Flucht in Bewegung geraten ist. Das gilt auch für Maria, deren Kopftuch im Wind schlägt. Auf ihrem Arm sitzt der nur leichtbekleidete Christus, der mit ihrem Kopftuch spielt.

Das Besondere des Bildes ist nun ein Detail am linken Bildrand, wo die Betrachter:innen hinter einer Gruppe von dünnen Bäumen ein weißes Einhorn erkennt. Die Wikepedia schreibt zur Symbolik:

Im Physiologus, einem auf griechisch geschriebenen frühchristlichen Volksbuch aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. mit Geschichten über wundersame Tiere, Pflanzen und Steine, heißt es, dass ein Einhorn nur von einer Jungfrau eingefangen werden könne, wobei die Jungfrau allegorisch als Jungfrau Maria, das Einhorn als Jesus Christus gedeutet wurde. Dass es nur ein Horn habe, verweise auf den Monotheismus, dass es einem kleinen Bock gleiche, auf Christi Demut und die Menschwerdung Gottes.


1550 – Gillis Mostaert / Jacob Grimmer

Mit der Reformation wird das religiöse Bild fraglich. Für die Künstler ist das ein Problem, denn ein guter Teil ihrer Produktion trifft plötzlich nicht mehr auf die Nachfrage ihrer Käufer:innen. Mit der Gegenreformation versucht die katholische Kunst wieder Boden gutzumachen, nur hilft das den Künstlern in den protestantischen Gebieten nicht. Die Lösung ist die Verlagerung des religiösen Geschehens in die Nebenhandlung, so dass das obenstehende als Winterlandschaft verkauft werden konnte, bei katholischen Käufer:innen aber als Flucht nach Ägypten durchging. Gillis Mostaert (1528-1598) und Jacob Grimmer (1525-1592) haben ein sehr interessantes Gemälde vorgelegt, das tatsächlich auf den ersten Blick als Winterlandschaft am Rande einer Stadt durchgeht. Denn auf den Eis schlittern die Menschen, während im Vordergrund eine Gruppe von Menschen etwas überhastet aus der Stadt aufbricht.

Erst der genauere Blick auf das geschehen in der Stadt im Bildhintergrund offenbart die menschliche Tragödie: Soldaten sind in die Stadt eingedrungen und durchkämmen nun Haus für Haus, zerren die Mütter mit ihren Kindern heraus und schlachten letztere ab. Wer sich dagegen wehrt, wird ebenfalls getötet. Die scheinbare Idylle kippt in die Tragödie. Es bedarf aber eines zweiten Blicks, um das zu erkennen.


1563 – Pieter Brueghel

Wenige Jahre später oder evtl. auch zeitgleich hat Pieter Brueghel das Bildmotiv noch weiter entschärft. Nun blicken wir vor allem auf ein Flusstal, schemenhaft erkennt man Häuser auf Inseln und Halbinseln. Nur im Bildvordergrund und nahezu unscheinbar auf der linken Seite finden wir einige menschliche Wesen. Natürlich erkennen wir Josef mit Maria und dem Jesuskind auf einem Esel.

Aber weiter links kann man noch weitere Personen erkennen, die die Gefährlichkeit der Reise der Heiligen Familie vor Augen führen sollen. Während sich eine Person von den Strapazen ausruht, überqueren zwei andere gerade eine Schlucht im Gebirge, die nur von einem Holzbrett überspannt wird. Der Stamm mit dem Vogel rechts der Heiligen Familie wird so gedeutet, dass dies einer der Orte ist, an denen Christus ein Wunder vollzogen hat, das im Pseudo-Matthäus-Evangelium überliefert wird.


1609 – Adam Elsheimer

1609 malt Adam Elsheimer (1578-1610) eine „Flucht nach Ägypten“, die ein einzigartiges Werk ist, weil in ihm mehrere kunsthistorische Innovationen zusammenkommen. Zum einen malt Elsheimer erstmals in der Kunst die Sternzeichen und den Sternenhimmel so, dass die Fülle der einzelnen Sterne sich zur Milchstraße bündeln.

Dann zeigt er den Mond so detailreich, dass er zuvor durch eines der gerade erst entwickelten Fernrohre auf der Basis von Konkavspiegeln geblickt haben muss. Dafür spricht, dass er den Mond auf dem Kopf stehend malt, also so, wie er ihn im Fernglas gesehen hat.

Zudem lässt sich anhand des Bildes sogar der vermutliche Beobachtungszeitpunkt rekonstruieren.

Es soll angeblich der Nachthimmel am 21. Juni (oder Juli) 1609 über Rom sein.

Nicht alles ist veristisch dargestellt, manche der gezeigten Sterngruppen stammen von anderen Tagen.

Elsheimer teilt das Bild in drei vertikale und zwei horizontale Paneele, die jeweils eigene Bildbotschaften tragen. Es scheint so, dass die Gruppe, die die Heilige Familie begleitet, schon etwas vorausgeeilt ist und nun im linken unteren Panel vor einer Grotte damit begonnen hat, ein Feuer zu entfachen und die Nachtruhe vorzubereiten. Auch die Flucht bedarf der Fluchthelfer, der Koordination und der Herbergen. Josef sowie Maria und das Christuskind auf dem Esel als Reittier sind noch nicht bei der Höhle angekommen, wir finden sie in der Bildmitte in einer durch eine Fackel erleuchteten Szene. Der Esel trägt das zum Leben Notwendige, eine Kürbisflasche mit Wasser, eine Pfanne, Vorräte. Auf der rechten Seite sehen wir den gespiegelten Mond, nur dass die faktischen Verhältnisse auf den Kopf gestellt sind. Wenn Elsheimer das bewusst war, ist es eine deutliche Botschaft. In der oberen Panelebene sehen wir zunächst auf der linken die Milchstraße, in der mittleren Sternengruppen und rechts Einzelsterne. Die Betrachter:innen müssen nun die obere und die untere Panelebene miteinander in Beziehung setzen, Das gelingt am ehesten mit dem Beschluss aus der Kritik der praktischen Vernunft von Immanuel Kant:

Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehr­furcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt, oder im Überschwänglichen, außer meinem Gesichtskreise, suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz.


1620 – Orazio Gentileschi

Von Orazio Gentileschi (1563-1639) gibt es eine schöne Serie zum Thema „Ruhe auf der Flucht“, die man durchaus schon als „modern“ bezeichnen kann, weil sie das Motiv zur Flächendarstellung nutzt. Hier ist die Variante aus dem Birmingham Museum and Art Gallery abgebildet, die die Gestaltung schön zuspitzt. Vor einer das Bild dominierenden Mauer hat sich Josef lang ausgestreckt über die mitgeschleppten Vorratssäcke und ist auf dem Rücken liegend eingeschlafen. Er ist wirklich fix und fertig. Rechts von ihm sitzt Maria als junge Mutter und stillt das durchaus rundlich, um nicht zu sagen pummelig wirkende Jesuskind.

Die ruinöse Mauer, die anzeigt, dass die Heilige Familie auch auf ihrer Flucht keinen Platz in der Herberge findet, lässt den Blick frei auf den dahinter angebundenen Esel. Obwohl insgesamt eine durchaus eine prekäre Situation dargestellt ist, strahlt das Bild eine merkwürdige Abgeklärtheit aus: es handelt von Erschöpfung, von der Notwendigkeit, Kraft zu gewinnen, von der Chance, zur Ruhe zu kommen. Später wird Gentileschi das Motiv noch weiter reduzieren, dabei aber auch beruhigenden Aspekt verschwinden lassen, weil niemand weiß, was in der Dunkelheit auf das Paar wartet.


1632 – Abraham Bloemaert

Der niederländische Maler Abraham Bloemaert (1564-1651) hat hier eine typisch niederländische Genreszene geschaffen. Das Bild von 1632, das wir heute im Amsterdamer Rijksmuseum finden, ist 85x109,5 cm groß. Die Familie auf der Flucht ist in einem einfachen Bauernhaus oder dessen Stall untergekommen. Maria sitzt auf dem Boden und lehnt ihren Rücken an einen Hühnerstall. Eines der Hühner im Stall pickt gerade seine Körner. Maria rührt mit ihrer rechten Hand in einem Topf mit einer Suppe, der blonde Jesus liegt nackt auf ihrem Schoß, hinter ihr blickt der bärtige Josef, der sich am Hühnerstall festhält, auf die Szene herab. Auf dem Hühnerstall sind einige Kessel und Krüge drapiert, die aber nur spärliche Lebensmittel enthalten. Rechts von Maria steht ein Korb, den sie auf ihrer Reise mitführt und der neben Leinentüchern offenbar auch ein Buch bzw. eine Bibel enthält. Rechts davon hat sich ein kleiner Hund niedergelassen, der die Betrachter.innen direkt anblickt. An der Stirnwand des Raumes hockt auf einem umgedrehten Korb ein Bauer, der über einer offenen Flamme im Kamin eine Suppe bereitet. Am Kamin hängen weitere Krüge und Gerätschaften und ein geflochtener Zwiebelzopf. Von der Decke des Raumes hängt noch ein Beutel oder ein Schinken herab, genau ist das in der Dunkelheit des Raumes nicht zu erkennen. Die gesamte Szene wirkt relativ entspannt und trotz der Einfachheit der Herberge vermittelt der Ort Geborgenheit.


1879 – Luc Olivier Merson

Der ganz Europa beeinflussende Orientalismus des 19. Jahrhunderts führt dann noch einmal zu äußerst interessanten Resultaten. Die Entdeckung und Erkundung der Kultur(en) in Ägypten, der Pyramiden und der Sphinx durch europäische Forscher führt zum Einbau dieser Motive auch in die biblischen Geschichten. Nicht mehr die Inkulturation in europäische Verhältnisse steht im Vordergrund, sondern die Einbindung in ein ägyptisches Ambiente. Dass die Künstler dabei nicht vor Ort gewesen sein müssen und deshalb auch keine Maßstäbe für die Größe der von ihnen ausgewählten Motive gewinnen konnten, wird an dem von Luc Olivier Merson (1846-1920) gemalten Bild „Ruhe auf der Flucht“ von 1879 deutlich. Sein 72 x 128 cm großes Bild (das heute im Besitz des Museum of Fine Arts in Boston ist) lässt Maria und das Kind in einer nächtlichen Wüstenlandschaft auf den Füßen der Sphinx ruhen. Unterhalb davon liegt Josef mit leicht erhöhtem Kopf im Sans, neben ihm flackert ein kleines Feuer. Der Esel ist von seinem Sattel befreit und knabbert an den spärlichen Wüstenpflanzen.

Das ist eine ganz andere Szene als die, die der französische Maler Thomas Blanchet (1614–1689) Jahrhunderte vorher gestaltet hat, der auf einem 57 x 48 cm großen Gemälde auch die Flucht nach Ägypten mit einer Sphinx darstellte, dabei aber die Szene so darstellt, als ob die Heilige Familie gerade an einem italienischen Museum für altägyptische Kunst angekommen wäre. Hier ist die Sphinx nur ein museales Ausstattungsstück, kein elementares Ereignis in der ägyptischen Landschaft wie bei Merson.





-> Hier geht es weiter zum Kindermord in Bethlehem

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/134/am740i.htm
© Andreas Mertin, 2021