Zettel pflastern die Lebenswelt

Rezension von Hektor Haarkötter, Notizzettel

Wolfgang Vögele

Hektor Haarkötter, Notizzettel. Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2021

Dieses faszinierende Buch[1] lebt von zwei Einsichten. Die eine lautet: Schreiben ist nicht einfach die Reproduktion von Sprechen, sondern ein eigenes Genre. Das gilt nicht nur – die zweite Einsicht – für der Öffentlichkeit zugänglich gemachte Texte, sondern auch für die Notizen, die sich Schreibende in Kladden, auf quadratischen Zetteln oder Karteikarten machen, um Gedanken, Ideen und – trivialer – die täglich zu erledigenden Einkäufe festzuhalten. Wenn der publizierte Text das front end der öffentlich sichtbar gemachten Gedanken und Erzählungen ist, so konzentriert sich Haarkötter auf das back end: auf Entstehung und Verfertigung von Gedanken, Ideen und Plänen, auf die fließenden Übergänge von Bewusstsein zu Text. Der Notizenschreiber beginnt einen Dialog mit sich selbst, und der ist bestimmt von Abkürzungen und Idiosynkrasien. Verstehen kann die Notate im Grunde nur der, der sie notiert hat. Die anderen lässt er ratlos zurück.

Das gilt für Leonardo da Vinci, den der Autor beharrlich ‚Lionardo‘ nennt: Er hielt die Pläne für seine Erfindungen und Apparate in spiegelverkehrter Geheimschrift und Skizzen fest, versuchte aber nur ganz selten, seine Designs auch in die Realität umzusetzen. Das gilt für den Philosophen Ludwig Wittgenstein, der in seinen Aphorismen zu einer Art Privatsprache fand, die er nicht an andere Personen vermittelt wissen wollte, weil er der Meinung war, die Notate könne ja doch niemand verstehen. Zeitlebens publizierte der Philosoph nicht viel mehr als den Tractatus logico-philosophicus (was ja im Übrigen völlig ausreichte), hinterließ aber riesige Konvolute mit Zetteln, an deren Deutung die philosophische Forschung sich bis heute abarbeitet.

Notizzettel dienen dazu, Ideen zu artikulieren, Aufgaben zu listen, Gedanken festzuhalten, die sonst sofort im Vergessen verschwunden wären. Daraus – so Haarkötter – entstehe eine Art Hilfsgerüst für das Bewusstsein, das aus den Mosaiksteinchen der Notizen im gelungenen Fall einen kohärenten, längeren Text macht, mindestens aber dem Bewusstsein als Krücke für alltägliche Lebensfähigkeit dient. Haarkötter stellt für das 21. Jahrhundert die These auf, dass die Grenze zwischen Öffentlich und Privat zunehmend verschwimmt. In der alteuropäischen Moderne waren Buch oder Essay für die Öffentlichkeit, das Tage- oder Notizbuch für den eigenen Privatraum bestimmt. In der digitalen Moderne des 21. Jahrhunderts lösen sich diese festen Grenzen auf. Private Notizen und Publikationen behalten ihren Zusammenhang. Notizzettel, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren, finden plötzlich Leser und Rezipienten, die sie eigentlich nie haben sollten. In der Menge von Notizzetteln und -büchern verwischen zunehmend – so die These Haarkötters – die Grenzen zwischen Öffentlich und Privat.

Haarkötter unterscheidet dabei weltgeschichtliche Perioden nach dem Mediengebrauch. Im Manuzän schrieb der Mensch mit der Hand und er las nur, was zuvor mit der Hand geschrieben worden war. Im Typozän verlagert sich Schreiben und Lesen auf den Bereich des Gedruckten, im Digizän wiederum auf den Bereich des Digitalen, ohne dass die jeweils älteren Medien deswegen verschwinden würden (250 passim). 

Eigentlich sind Notizzettel nur dem verständlich, der sie geschrieben hat. Sie sind keine Kommunikationen von Person A zu Person B, sie gelten ihm als – so Haarkötters beharrlich wiederholte Formel – „Kommunikant ohne Kommunikat“ (48 passim), Medium ohne Message für andere, außer für den Schreiber selbst. Und es ist Haarkötters großes Verdienst, diese mediale Konstellation philosophisch, philologisch und technologisch genau herauszuarbeiten. Der Einkaufszettel macht nur an einem bestimmten Tag für eine bestimmte Person Sinn. Wer einen zufällig aufgefundenen Zettel mit Stichworten liest, dem fehlt in der Regel der Kontext der Planungen des Autors oder der Autorin, ihr Sitz im Leben. Notizzettel enthalten vorläufige, hingeworfene Gedanken und Bilder, von denen gar nicht sicher ist, ob sie später benutzt werden. Kein Essay und keine Predigt fällt als Gesamtkunstwerk vom Himmel, die Autoren nehmen sich auf den Notizzetteln ein offenes Feld, auf dem sie wie in einem Puzzle Ideen, Stichworte, Bruchstücke von Konzepten notieren, um sie dann später zu einer systematischeren Ordnung zusammenzufügen. Der kunstvollen Ordnung des vorläufigen Textes geht ein Chaos von Notizen voraus. Notizzettel sind Probestrecken, Vorprüfungsinstitute und intellektuelle Teststationen.

Andere Botschaften werden als Graffiti zum Beispiel in einer Gefängniszelle oder in einer öffentlichen Toilette hinterlassen und finden erst viel später einen Rezipienten, der sie dann seinerseits in seinen eigenen Bewusstseins- und Denkzusammenhang einordnet. So zeigt es Haarkötter an trivialen Beispielen, aber auch in einer eindringlichen Analyse der Zellenwände des früheren Kölner Gestapogefängnisses: In diesen geritzten Botschaften ohne Adressaten kommen gleichermaßen Todesfurcht, Widerstands- und Durchhaltewillen und ohnmächtiger Hass auf die Nazis zum Ausdruck.

Andere Notizen, der Autor führt als Beispiel die Mikrogramme Robert Walsers[2] an, zeigen bei ihrer schwierigen Entschlüsselung nichts als eine Art weißes Rauschen, das für den Rezipienten, aber vermutlich auch für den Autor selbst, weder Sinn noch Bedeutung hatte und hat.

Schriftsteller puzzeln aus den Mosaiksteinchen ihrer Notizen Romane oder wissenschaftliche Monographien zusammen. Notizzettel – und das macht sie faszinierend – bieten wildes, ungeordnetes, chaotisches Denken, dem Stringenz, Konsequenz und Ordnung fehlen. Es dominiert eine frappierende Analogie: Notizen sind so ungeordnet wie das Bewusstsein selbst chaotisch ist. Einfälle, Ideen, Gedanken tauchen so zufällig und absichtslos auf, dass sie der Schreiber nicht sofort linear und geordnet aufschreiben kann. Er notiert zuerst, dann fängt er an zu sortieren, zu ordnen, zu gliedern. Erst in einem dritten (oder weiteren) Schritt entsteht ein linearer, geordneter Text. Notizzettel reagieren auf die Kontingenzen des Bewusstseins, aber auch auf die Wahrnehmungen der äußeren Welt und Wirklichkeit. Und da das mittlerweile neben dem Kohlenstoff-Bereich auch in der digitalen Welt geschieht, ist grundsätzlich die Menge der auf das wahrnehmende Individuum einstürzenden Informationen zu viel. Haarkötter spricht vom information overload, der auf user, Leser und Zuschauer einprasselt. Und nichts eignet sich darum besser als Notizzettel, solche für das Individuum wichtigen Wahrnehmungen aus dem Überfluss von Informationen und Beobachtungen auszusondern und als besonders relevant zu markieren. 

Schreiben ist mehr als Kommunikation, sondern auch Verständigung über sich selbst, die eigene Wahrnehmung und die eigene Lebenswelt. Rezensentenblicke zielen auf das endgültige, vorliegende Werk zwischen zwei Buchdeckeln. Haarkötter dagegen setzt bei der ersten Idee an, eigentlich noch vorher, bei der Verfertigung der Gedanken, die lange vor der Publikation eines Textes den Schreibenden überfallen und sofort festgehalten werden müssen.

Auf Notizzetteln kann der Leser dem Autor beim Übergang von Bewusstsein in Text zuschauen, wenn er denn versteht, was mit den abgekürzten Formulierungen in den Notizen gemeint ist. Haarkötter beruft sich auf den Medienlinguisten Daniel Perrin, der „beiläufiges Schreiben (‚writing-by-the-way‘) von fokussiertem Schreiben (‚focused writing‘)“ (89) unterscheidet. Das erste bleibt lange ziellos, experimentierend, beiläufig, eher dem Unterbewusstsein und der Freiheit verpflichtet, das zweite ist geordnet, intellektuell und stringent, auf Öffentlichkeit und Publikation ausgerichtet. Der Autor hält beide Schreibtypen nebeneinander, die keinesfalls ineinander aufgehen. Leonardo kam nie dazu, seine Projektskizzen umzusetzen, Wittgenstein gelang es nicht, aus seinen Notizensammlungen Publikationen zu machen. Robert Walser schrieb seine Mikrogramme in der Psychiatrie, ohne an Veröffentlichung zu denken. Alle drei lebten eher in Skizzen, Planung und Vorläufigem als nach definitiven, endgültigen Werken zu streben. Sie hielten sich lieber im Zwischenzustand der Notate auf, lebten lieber in fluiden Ideen als im Endgültigen.

Schreiben, so Haarkötter, kann als Problemlösen verstanden werden. Aber zuerst einmal löst Schreiben kein Problem der Welt, sondern nur selbstreferentiell die Probleme des Schreibens. Das Schreiben auf Notizzetteln kann also auch zum Selbstzweck werden, der gar nicht an die Probleme der Welt heranreicht. Wer die Probleme der Welt mit Schreiben lösen will, der muss darum zuerst die Probleme des Schreibens lösen (92f.).

Je mehr Daten und Notizen erzeugt werden, desto größer wird für den einzelnen und für Gesellschaften als Ganze das Problem des Vergessens. Es bereitet Schwierigkeiten, traumatische Erlebnisse zu vergessen oder umgekehrt sich wichtige Daten (PIN-Nummer, Passwörter) zu merken. Letztere vergessen Menschen häufig, obwohl sie das gar nicht wollen. Das Verhältnis von vergessenen zu gemerkten und erinnerten Inhalten wird deshalb in der Moderne zum Problem, weil sich mit der Digitalisierung die Menge der Informationen zum genannten overload steigert (112 passim). Digitale User der Moderne werden mit Informationen überschwemmt und haben Schwierigkeiten, in der ‚neuen Unübersichtlichkeit‘ (Jürgen Habermas) der Fakten und fake news, auch der Interpretationen von Fakten und fake news den Überblick zu behalten. Letzteres zählt zu den Fertigkeiten, die die Bewohner der digitalen Moderne unbedingt ausbilden müssen. Ein Mittel, damit fertigzuwerden, ist für Haarkötter die Vorläufigkeit der Notizzettel. Am Beispiel Wittgensteins zeigt er, dass dieser seine Sammlung von Notaten gar nicht für Vorstufen zu publizierten Werken hielt, sondern ihm schon als die Lösung von Problemen selbst galten (142). Für den Philosophen war nicht das Produkt (Buch, Aufsatz, Essay) wichtig, sondern der Vorgang der (intellektuellen) Produktion, nicht der vollendete Gedanke, sondern der Vorgang des Denkens selbst. Haarkötter schließt mit Wittgenstein an Freud an, der schrieb: „‘Das Denken ist ein probeweises Handeln mit kleinen Energiemengen.‘“ (166) Wer notiert, denkt und schreibt, bereitet sein eigenes Handeln in der Welt vor.

Notate auf Zetteln sind oft stark verkürzt, näher beim stenographischen ‚inneren‘ als beim expliziten und überlegteren ‚schriftlichen‘ Sprechen (187). Haarkötter singt das Loblied der Notizzettel, weil er die Vorläufigkeit und Wandelbarkeit dieser Notizen hochschätzt. Sie schillern, sind leicht zu ordnen, die Ordnungen wiederum können schnell angepasst werden – wie Mosaik- oder Legosteinchen.

Dieser im Grunde unkommunikative Raum der Notizzettel kann nun unterschiedliche Funktionen einnehmen. Auf der einen Seite spricht der Autor von demjenigen Wahnsinn, „der in seinen Sprach- und Schreibspielen nichts mitzuteilen hat. Es ist der Mensch im Selbstdialog, der ein Monolog ist.“ (194) Der Schreibende spricht mit sich selbst; das kann zweck- und funktionslos bleiben, aber ein Autor kann auch in Notizzetteln monologisch kommunizieren, um aus diesen später ein kommunikatives Werk (Brief, Buch, Aufsatz, Email etc.) zu machen.

Im Anschluss an Jürgen Habermas‘ andere berühmte Formel spricht Haarkötter von einem „Strukturwandel der Privatheit“, der durch die zunehmende Digitalisierung noch verstärkt werde (206). An dieser These ist etwas dran. Aber der Schluss, das Schreiben von Notizen deswegen für eine unkommunikative Form des Autismus zu halten, der in dem Buch gelegentlich anklingt, scheint mir überzogen. Die Publikation von Texten und die Beschränkung auf Notizzettel und private Tagebuchtexte lassen sich durchaus miteinander verbinden. Notizzettel konstituieren einen privaten, vorläufigen Raum, der sich auf vielen, individualisierten Wegen in Richtung Öffentlichkeiten erweitern lässt. Die Schreibenden der digitalen Spätmoderne verfügen über eine Fülle von Kommunikationskanälen, diese nutzen können, um in kleinere und größere Öffentlichkeiten hineinzutreten. Und die formale Wahl des Kommunikationskanals (Mail, Twitter, Whatsapp, Instagram, SMS, Blog etc.) sagt auch etwas über das Verhältnis zum kommunizierenden Gegenüber aus. Richtig an Haarkötters These ist, dass die Vermehrung der Kommunikationskanäle nicht nur für wissenschaftliche und künstlerische Eliten eine dem Privaten vorbehaltene Reflexionszone schafft, die nun auch zum Guten (Handlungsplanung) oder zum Schlechten (endlose Grübelei) genutzt werden kann. Der Notizzettel wird zum Massenphänomen.

Das abgekürzte Schreiben im Notieren ist für Haarkötter nicht einfach nur ein Reden mit Tinte oder Graphit, keine bloße Transkription des Mündlichen, sondern ein Medium sui generis, sei es in den Abbreviaturen eines Notizzettels, sei es in der Langversion eines zur Publikation bestimmten Textes (256). Mit dem Psycholinguisten Wolfgang Klein sieht er im Aufschreiben einen Prozess der Objektivierung und der Entprivatisierung. Aufschreiben bedeutet, in einem ersten Schritt der Fluidität und Flüchtigkeit des Bewusstseins etwas entgegenzusetzen. Der stream of consciousness materialisiert sich, aber eben nicht zu Kunstwerken, sondern zu Beschreibungen und Planungen. Wie der flow der Gedanken Unzusammenhängendes willkürlich nebeneinander stellt, so gilt das auch für die Zusammenstellung von Notizen. Der Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg unterschied deshalb zwischen Sudelbüchern, die heute noch gelesen werden, und Tagebüchern, in denen er als Hypochonder akribisch die eigene Krankengeschichte anamnetisch festhielt (301).

Das entscheidende Moment von Notizen ist ihre Kürze. Und die abgekürzte Schreibweise von Notizzetteln, greift nicht nur in der SMS, der Whatsapp und bei Twitter auf das öffentliche Schreiben über. Aber stimmt die von Haarkötter insinuierte Parallele zwischen der Kürze von Gedanken und der Kürze des Geschriebenen? In einer Schlüsselpassage behauptet der Autor: „Die Verkürzung der Aufmerksamkeit bei der Rezeption steht vielleicht auch eine Verknappung bei der Produktion von Texten gegenüber. Vom Buch zum Aufsatz, vom Blogging zum Microblogging, vom Epos zur Short Story: Es scheint eine unseren Medien oder unserem Gebrauch dieser Medien, kurz unseren Medienspielen inhärente Tendenz zur Verkürzung zu geben. Schreiben heißt Denken. Mit der Verkürzung unserer Aufzeichnungspraktiken und Schreibspiele geht dann also eine Verkürzung unserer Gedanken einher. Wenn Schreiben Problemlösen ist, dann werden die Probleme größer, wenn die Gedanken kürzer werden.“ (356) Haarkötter neigt zum zuspitzenden Epigramm und zur Gegenüberstellung, aber in diesem Punkt hat er etwas teilweise Richtiges getroffen. Die Titelgeschichten des ‚Spiegel‘, die Essays in der ‚Zeit‘, selbst die in Texte gefassten Emotionalisierungen der ‚Bild’-Zeitung sind alle über die Jahre sehr viel kürzer geworden. Die Klage über verödete Bleiwüsten ist auch in den klerikalen Marketingabteilungen zum Klischee geronnen. Die einzige Ausnahme bilden geisteswissenschaftliche Dissertationen, die in der Regel nur noch als pdf publiziert werden, was ihrer Kürze, Prägnanz und Klarheit insgesamt nicht zuträglich war.

Aber sind Kürze und Länge wirklich Maßstäbe für Rationalität, Klugheit oder gar Weisheit? Dann stünde Lichtenberg gegen Hegel, Cioran gegen Adorno, Angelus Silesius gegen Karl Barth, Alice Munro gegen Elena Ferrante oder Thomas Wolfe. Die Aufzählung zeigt: Literarische oder theologische Qualität ist doch unabhängig von Länge oder Kürze des gewählten Formats. Wer kurz und treffend formuliert, muss beim Verfertigen des Textes nicht notwendig zu kurz gedacht haben. Die digitale Moderne hat das nochmals zugespitzt: Auch die längsten Texte sind im Internet verfügbar, oft samt Anmerkungen und Kommentaren. Abgenommen hat vermutlich die Fähigkeit, sich mit langem Atem auf ausführliche Überlegungen einzulassen. Abgenommen hat vermutlich auch die Fähigkeit zum deep reading. Statt dessen muss alles, was Aufmerksamkeit erregen will, schnell verfügbar und bebildert sein. Nur mit Tweets lässt sich keine soziologische oder theologische Analyse betreiben.

So glänzend Haarkötter die psychosoziale Konstellation des Notizenschreibens herauspräpariert, so sehr übertreibt er es in manchen Passagen mit der Deutung, etwa dann, wenn er Notizbücher mit der Bibel vergleicht und behauptet, Notizbücher seien an die Stelle der Bibel getreten: „Das Buch der Bücher ist heute das private Medium, ein Buch mit leeren Seiten, ein Buch mit den sieben Siegeln privatsprachlicher Verschlüsselung, eine handschriftliche Selbst-Schreibung, das Buch der Bücher ist ein Notizbuch.“ Gleich darauf zitiert er zustimmend, dass Notizenschreiben eine neue Form des Yoga oder des Meditierens darstellen würden (227). Dem zweiten kann man durchaus zustimmen, aber das Notizbuch als Bibelersatz ist mir zu stark überspitzt. Niemand schreibt sich seine eigene Bibel, solch eine Behauptung treibt die Privatisierung der Religion entschieden zu weit. Haarkötter rezipiert in diesen Passagen nicht die umfangreiche philosophische und theologische Diskussion über Lebenskunst und Alltagsfrömmigkeit[3], die im Notieren ein hermeneutisches Instrument sieht, das eigene (Alltags-)Leben mit philosophischen Prinzipien oder den Weisheiten der Bibel in produktiven Kontakt zu bringen. Tägliche Aufzeichnungen, und seien sie noch so fragmentarisch, idiosynkratisch und abgekürzt, sind ein Medium, um Habitusformen, Routinen und Reflexionsformen zu gestalten, mit denen schreibende Menschen ihrer Lebenswelt begegnen. Und das geht weit über das nachträgliche Schildern einer Abfolge von Ereignissen, wie es für das klassische Tagebuch unterstellt werden kann, hinaus. Nebenbei gesagt: Es stören bei Haarkötter auch die eingestreuten unbegründeten Invektiven gegen Theologie, Religion und Christentum, die allesamt nicht zum Thema des Notizenschreibens gehören und in dieser Beiläufigkeit Leser nur verärgern. Wenn der Autor in dieser Hinsicht seine Meinungen ausführen will, dann wäre das sein gutes Recht, aber er sollte sein Urteil in einer anderen, weiteren Publikation begründen. Solche Invektiven ärgern nur den Leser, erweitern aber nicht die Erkenntnisleistung dieses Buches.

Der Wert dieses faszinierenden Bandes liegt darin, dass Haarkötter den Blick auf die Vorläufigkeit, Kontingenz und Absichtslosigkeit von Notizen lenkt. Er führt den Leser weg von den endgültigen Gedanken des publizierten Werkes zu ihrer Entstehung in einem fluiden, noch unabgeschlossenen Bereich, der in alle möglichen Richtungen erweitert, gekürzt, verstärkt werden. Notizen sind Botschaften aus dem Maschinenraum des Bewusstseins. Und in der gegenwärtigen digitalen Tendenz zu Kürze, Prägnanz und schneller Reaktion kommen sie den Usern näher als ihnen manchmal lieb sein kann. Haarkötter hat hier, vielleicht manchmal zu sehr zugespitzt, zum ersten Mal ein Feld bestellt, das noch lange nicht ausdiskutiert ist.

Anmerkungen


[1]    Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf das im Untertitel genannte Buch.

[2]    Neben Robert Walser und Arno Schmidt, auf die sich Haarkötter literarisch konzentriert, käme hier noch die ‚Zettelwirtschaft‘ des portugiesischen Schriftstellers Fernando Pessoa als Analyseobjekt in Betracht; vgl. dazu Wolfgang Vögele, Wolkenflüstern. Eine Auseinandersetzung mit der radikalen Anthropologie Fernando Pessoas,  tà katoptrizómena, H.97, 2015, http://theomag.de/97/wv21.htm. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass sich eine Gruppe Heidelberger Studenten in Kooperation mit dem Prinzhorn-Museum am Ort daran gemacht hat, das Notizbuch eines psychisch kranken Schneidergesellen an der Wende zum 20. Jahrhundert zu analysieren. Thomas Röske, Burckhard Dücker, Wolfgang Vögele (Hg.), Zwischen Schloss und Irrenhaus. Die Aufzeichnungen Hermann Paternas entschlüsselt und kontextualisiert von einer studentischen Arbeitsgruppe, Heidelberg 2016.

[3]    Stellvertretend für viele andere Wilhelm Schmid, Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt/M. 1998.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/133/wv073.htm
© Wolfgang Vögele, 2021