Der Palazzo della Ragione

Eine Halle der Astrologie

Andreas Mertin

Didier Descouens - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=76822359

Der Palazzo della Ragione wurde in den Jahren 1172 bis 1218 erbaut und etwa ein Jahrhundert später (1306–1309) um einen Dachaufbau erhöht, dessen riesiges, durch Zuganker stabilisiertes Holzgewölbe drei getrennte Räume zusammenfasste. Nach einem Brand im Jahre 1420 wurden die Zwischenwände von den mit der Rekonstruktion beauftragten venezianischen Architekten entfernt und die drei Räume zu einem riesigen Saal zusammengefasst; wahrscheinlich wurde dabei auch das bestehende Gewölbe erneuert.

Man sollte diesen Palazzo della Ragione in Beziehung setzen zum Palazzo della Ragione in Vicenca, der sog. Basilica Palladiana, die nach Plänen von Palladio 1549 begonnen und 1614 fertiggestellt wurde. Dieser Bau ist ruhiger, perfekter und zugleich ‚demokratischer‘, weil er keinen hierarchischen Unterschied macht zwischen der unteren und der oberen Ebene. Beides sind überaus beeindruckende Bauten.

Am Palazzo della Ragione in Padua gefällt mir persönlich die städtebauliche Einbindung besser, die großen Plätze davor und dahinter, die nicht nur Märkte erlauben, sondern eben auch Geselligkeit und Kommunikation. Der größte Unterschied beider Bauten ist aber die (ursprünglich von Giotto vollzogene) Ausmalung des großen Saales.

Der ca. 82 Meter lange, ca. 27 Meter breite und ca. 25 Meter hohe Ratssaal (salone) mit seinem stützenlosen und nur durch eiserne Zuganker zusammengehaltenen Holzgewölbe, das in seiner Konstruktionsweise an einen umgekehrten Schiffsrumpf erinnert, ist eine der außergewöhnlichsten architektonischen Schöpfungen des ausgehenden Mittelalters. Möglicherweise ist es ein Werk venezianischer Schiffszimmerer, die auch die seitlichen gewölbten Abwalmungen meisterten. Nach dem Brand des Jahres 1420 wurde der Saal in den Jahren 1425–1440 mit einem Freskenzyklus ausgestattet, dessen mehr als hundert Einzelbilder an die astrologischen und religiösen Überlegungen und Spekulationen Pietro d’Abanos anknüpfen.

Zugegebenermaßen verlässt man diesen Saal nicht ohne Nackenschmerzen, denn man muss permanent nach oben schauen, um dem astrologischen Programm auf die Spur zu kommen.

Ohne Fernglas geht es nicht. Dafür könnte man sich Tage vor den Abbildungen aufhalten. Wie immer bei derartigen Programmbildern bräuchte man eine konkrete Hilfe zur Deutung der einzelnen Motive. Das vor Ort verteilte Orientierungsblatt reicht dazu leider nicht aus. Nun ist es selbst für die Fachwelt schwierig, die konkrete Bedeutung der gesamten Konstellation zu verstehen. Interessant fand ich eine Deutung, die davon ausgeht, dass wir hier eine konkrete historische (und dann eben von Giotto entworfene) Konstellation vor uns haben: den Nachthimmel über Padua im Jahr 1309:

Giotto's frescos in the Salone of the Palazzo della Ragione, Padua, were painted across three registers. The upper register contains celestial astronomical imagery that few scholars have been able fully to understand. Using two sections of this upper register as case studies, I reconstructed the skies over Padua in the medieval period using astronomical and astrological software, together with the knowledge of poetic astronomy and naked eye astronomy. This approach showed that, rather than being simple decorations, these images are instead reflective of the constellations that dictated the seasons and the cycle of the year as seen over Padua c. 1309. Furthermore, they reveal a night sky that was populated with a constellational iconography that, I argue, was part of an ensouled cosmology. [Gunzburg, Darrelyn (2014): Giotto’s Sky: The Fresco Paintings of the First Floor Salone of the Palazzo della Ragione, Padua, Italy. In: Journal for the Study of Religion, Nature and Culture, Jg. 7, H. 4.]

Im Vergleich zum Bilderprogramm der Scrovegni-Kapelle hätte sich Giotto dann auf ein ganz anderes Programm eingelassen, das die weithin vertretene These, er habe ausschließlich religiöse Werke geschaffen, etwas in Frage stellt.

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Artikelnachweis: https://www.theomag.de/133/am735h.htm
© Andreas Mertin, 2021