„Poemaroid“

Ein Wort-Bild-Projekt vorgestellt

Andreas Mertin

In Heft 45 des Magazins für Theologie und Ästhetik schrieb ich über „Crossing Jordan. Bild-Lektüren eines Kunst-Stückes von Wilfried H.G. Neuse“. Es ging um Foto-Kunst und Polaroid-Kunst. Ich schrieb damals:

Wilfried Neuse hat Visuelle Kommunikation an der Peter Behrens Werkkunstschule Düsseldorf studiert und betreibt seit 1976 eine „intensive Auseinandersetzung mit dem Medium Photographie durch Abstraktion und Fragmentierung der Wirklichkeit, Eingriff, Erweiterung und Negierung gewohnter Seh- und Sichtweisen“. Künstlerische Schwerpunkte und Techniken sind bei ihm Collagen, Tableaus, Serigraphie, Installationen, Objekte, Konzepte und Aktionen.

Seit vielen Jahren arbeitet Wilfred Neuse mit jenen Polaroidkameras, die es seit dem Ende der 70er-Jahre auch für die größere Öffentlichkeit gibt. Der legendäre SX-70-Film, den auch Neuse u.a. verwendet, bestand aus insgesamt 16 Schichten, die sich aufteilten in die untenliegende Negativ- und die darüber liegende Positivschicht. Die Positivschicht war zunächst durchsichtig und gab somit die Sicht zum Belichten des Negativs frei. Am unteren Bildrand befanden sich, an der Bildrückseite gut erkennbar, drei mit Chemikalien gefüllte Taschen. Beim motorischen Herausschieben aus der Kamera pressten zwei Walzen diese Chemikalien zwischen die beiden Schichten, wo sie eine Art „Vorhangpaste“ bildeten. Alkalische Substanzen in dieser Paste setzten die Entwicklung in Gang, wobei Farbstoffe freigesetzt werden, so dass diese durch die Vor­hangpaste hindurch in die Positivschicht gelangen und dort das Foto bilden.

Die Vorhangpaste wurde schließlich strahlend weiß und gab damit einen idealen Bildhintergrund ab. Der SX70-Film eignet sich nicht zuletzt für verschiedene künstlerische Techniken, wie zum Beispiel das Verschieben der Entwicklerpaste, Durchreiben von Strukturen oder auch das Erhitzen.

Ich erwähne diese technischen Details nach dem Lexikonartikel der wikipedia zum Polaroidbild deshalb so ausführlich, weil all dies Verfahren sind, die auch Wilfred Neuse in seinen Arbeiten anwendet. Und er geht darüber hinaus, da er zum Teil nicht nur in den Produktionsprozess der Bilder gestalterisch eingreift, sondern auch mangelhaftes oder überaltertes Filmmaterial als Gestal­tungsmittel nutzt, wodurch sich unbelichtete Bildteile ergeben, die sich jeder Abbildfunktion verweigern. Oder Neuse setzt das Polaroid großer Hitzeeinwirkung aus, worauf es reagiert und Form und Gestalt ändert. Wilfred Neuse tritt mit anderen Worten in eine konzentrierte Auseinandersetzung mit dem Material.

Die Auswahl des Materials, seine Verwendung und die Beschränkung in seiner Anwendung, ist, darauf hat Theodor W. Adorno in der Ästhetischen Theorie hingewiesen, ein wesentliches Moment der künstlerischen Produktion.[1] Wilfried Neuse muss daher jedes verwendet Material in seinen spezifischen Eigenschaften erfassen und bearbeiten. Das Polaroid gibt eben nicht nur wieder, sondern ist seinerseits gestaltbildendes und das heißt: bearbeitbares Material. Auch der dabei in Gebrauch genommene Zufall will bearbeitet und gestaltet sein.

Neuse belässt es aber nicht bei zufälligen oder von ihm nicht beeinflussbaren Veränderungen des Materials, er greift in den Prozess der Bildwerdung auch direkt, um nicht zu sagen: gewaltsam ein. Das kann poetisch geschehen, aber es kann auch hart und gestaltüberlagernd sein, ganz im Sinne dessen, was Bruno Latour als „Iconoclash“ bezeichnet hat: Wir können "Iconoclash definieren als das, was eintritt, wenn Ungewissheit über die genaue Rolle der Hand besteht, die bei der Produktion eines Mittlers am Werk ist: Ist es eine Hand mit einem Hammer, die im Begriff ist, zu denunzieren, zu entlarven, aufzudecken, bloßzustellen, zu enttäuschen, zu entzaubern, Illusionen aufzulösen, Luft rauszulassen? Oder ist es im Gegenteil eine achtsame und vorsichtige Hand, mit offener Handfläche, wie um Wahrheit und Heiligkeit zu ergreifen, herauszuholen, hervorzulocken, in Empfang zu nehmen, hervorzubringen, aufzunehmen, aufrechtzuerhalten, zu sammeln?"[2]

Soweit die Notizen aus dem damaligen Text aus dem Jahr 2007.

Anlass, diesen Text fortzuschreiben ist das gerade veröffentlichte POEMAROID - Sofortbildphotographie trifft assoziative Poesie, ein Foto-Kunst-Literatur-Projekt als offener Dialog mit Polaroids von Wilfred H.G. Neuse sowie mit Poesie/Texten von Thomas Schubert.

Zu diesem Projekt schreiben die Verantwortlichen:

Der Fotokünstler nennt mittlerweile ein Archiv von hunderten/tausenden solcher Polaroids sein eigen. In seinem neuesten Crossover-Projekt „Poemaroid“, das als work in progress Konzept mit dem Autor Thomas Schubert angelegt ist, heben die beiden nach und nach die bestehenden Sofortbildschätze und beleben sie im Zusammenspiel von Fotokunst und Literatur neu.
     Der Texter, Thomas Schubert, nähert sich den ausgesuchten bildlichen Vorlagen intuitiv, lässt einzelne Bilder oder Serien auf sich wirken und schreibt assoziativ lyrische Texte dazu, die entweder völlig frei oder durch Hintergrundinformationen von Neuse unterstützt, die Bilder poetisch kommentieren bzw. diesen neue inhaltliche Interpretationen und Ebenen hinzufügen.
     „Poemaroid“ wächst auf diese Weise zu einem kreativen Foto-Kunst-Projekt, das seinen Reiz und seine Spannung durch den künstlerischen Dialog gewinnt.[3]

Auf der Projektseite findet man einführende Hinweise und eine Polaroid-Galerie als Überblick, die die folgenden Einzelpräsentationen in Zyklen bzw. thematische Schwerpunkte gliedert. Und dann folgen 48 Einzelpräsentationen, die links jeweils die entsprechenden Polaroids von Wilfried Neuse zeigen und rechts daneben die poetischen Assoziationen von Thomas Schubert.

Man kann aber auch durch Klick auf das einzelne Foto zunächst selbst der Bildsprache nachgehen und sozusagen eigene poetische Assoziationen erzeugen.

Normalerweise sind Zuordnungen von Worten zu Bildern immer ambivalent. Ich kenne Künstler*innen, die sich jeden erläuternden Kommentar (und dazu zählt dann eben auch die Poesie) zu ihrem Werk verbitten. Auf der anderen Seite hat die literarische Beschäftigung mit Werken der bildenden Kunst eine außerordentlich lange Tradition.

Allein in Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ wird auf 200 Kunstwerke verwiesen.[4] Andere Schriftsteller haben sich sozusagen ein imaginäres Museum zugelegt, durch das sie literarisch wandern.[5]

Die vielleicht berühmteste Zuordnung von Worten zu einem Bild im 20. Jahrhundert könnte Walter Benjamins Deutung des Angelus Novus von Paul Klee in seinen geschichtsphilosophischen Thesen sein.[6]

Auch das zweite Polaroid-Bild des Projekts wird in der assoziativen Poetik von Thomas Schubert mit dem jüdischen Philosophen verbunden: „Benjamin on my mind“. Dieses Polaroid zeigt einen älteren, häufig genutzten und etwas verwitterten blauen Gartentisch, auf dem zwei Gegenstände abgestellt sind: ein Glas mit etwas Rotwein und eine Rundbrille, wie sie auch von Walter Benjamin getragen wurde.

Der Tisch hat offenkundig schon des Öfteren als Ablage von Gläsern gedient, auf seiner Oberfläche haben sich Kringel eingebrannt. Durch das Rotweinglas wirft die Sonne einen Schatten, der auch die Bügel der Rundbrille erfasst. (Das wird gleich noch von Bedeutung sein.) An sich erfasst das Bild eine Situation, die merkwürdig vertraut erscheint: irgendwo im Süden, bei der Buch- oder Zeitungslektüre, entspannt zurückgelehnt am Tisch, im Sonnenschein. Das Polaroid-Bild erzeugt – anders als viele andere Fotos, die wie Bilder aus der und für die Ewigkeit wirken – das Gefühl einer Momentaufnahme, eines Stillstands in der Zeit, ein melancholischer Moment, der scheinbar nicht wiederkehrt. Aber die Tatsache, dass uns das Polaroid so vertraut erscheint, deutet an, dass die dargestellten Momente selbst eben doch häufiger auftreten, also reproduzierbar sind.

Der Blick auf den zugeordneten Text von Thomas Schubert zeigt, welche poetischen Assoziationen bei diesem durch das Kunstwerk ausgelöst wurden. Er verbindet das Polaroid-Bild mit dem Rotweinglas und der Rundbrille vor allem mit dem Philosophen und Schriftsteller Walter Benjamin und das im Blick auf zwei Aspekte: den der Einsamkeit und den der Reproduzierbarkeit.

Einsamkeit

Frag den Philosophen,
ob er jemals einsam war …[7]

… schreibt Schubert einleitend und verweist die Leser*innen so auf das Oeuvre von Benjamin. Und tatsächlich spielt das Thema in dessen Werk eine wichtige Rolle. Oft sinniert er nur über die Einsamkeit der Schriftsteller, über die er schreibt, manchmal aber auch über die eigene, insbesondere in seinen Briefwechseln und Aufzeichnungen. Er schreibt ein Sonett über Einsamkeit, verbindet diese aber auch, wie Entwürfe zum Passagenwerk zeigen, mit dem Tod:

Grundsätzlich sind wir aber selten einsam, befinden uns eher in einem permanenten Selbstgespräch. Das gilt verschärft für die Gegenwart. Heutzutage sind wir vielleicht allein, aber nicht mehr einsam. Damit hat sich verifiziert, was Walter Benjamin 1932 über den Klausner schreibt, der obwohl alleinlebend dennoch immer über den neuesten Klatsch im nächsten Dorf informiert war.[8] Nur dass heute nicht der Wind, sondern das Internet die Informationen bringt.

Reproduzierbarkeit versus Zeit

Alle Kunst ist reproduzierbar,
nur eines aber nicht –
die Zeit …

… schreibt Thomas Schubert, damit auf Benjamins kunstsoziologischen Klassiker „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ anspielend.[9] Nun sind die Werke von Neuse zwar abbildbar und auch kopierbar, aber bei bestem Willen nicht reproduzierbar. Man kann das Verfahren wiederholen (reproduzieren), nicht aber das Werk. Anders als beim Kinofilm oder bei der auflagenstarken Grafik, ja selbst anders als beim Ölgemälde (bei denen es zumindest noch die Dietz-Repliken[10] gibt), sind die Polaroid-Werke von Neuse durch die komplexen chemischen Prozesse einzigartig, sie sind Unikate.

Zeit dagegen ist ein Faktor, der auf den Polaroids von Wilfried Neuse eine wichtige Rolle spielt, denn man kann mit der Polaroid-Kamera nicht zwei Bilder gleichzeitig machen. Zwischen Polaroid-Bildern liegt immer eine – auf dem sich nach und nach entwickelnden Bild ablesbare – zeitliche Differenz. Und Abzüge können nur unvollkommene Kopien sein, die der Materialität des Kunst-Objekts nicht einmal ansatzweise nahekommen und vor allen Dingen nicht den notwendigen Veränderungsprozess von Polaroids aufweisen. Während Polaroids leben, sind Abzüge tot.

Manchmal fertigt Neuse aber mehrere Polaroids von einer Situation kurz hintereinander. Und hier kommt dann der Faktor Zeit bzw. Wahrnehmung von Zeit ins Spiel. Ich besitze eine Polaroid-Arbeit von Neuse, die nur wenige Sekunden / Minuten vor dem gerade betrachteten Polaroid angefertigt wurde. Ablesbar ist das am Schatten des Glases, der die Bügel der Rundbrille gerade erst am Rand erfasst hat. Zudem ist der Bildausschnitt minimal versetzt. Der Vergleich beider Arbeiten zeigt mir die Kostbarkeit des Augenblicks. „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen“ schreibt Heraklit in seinen Fragmenten, aber man kann eben auch nicht zweimal dieselbe Situation am Gartentisch fotografisch erfassen. Das erinnert an Cezannes zahlreiche Bilder vom Montagne Sainte-Victoire oder von den Badenden, die nie denselben Moment zeigen können, sondern nur die Variation der Berglandschaft im zeitlichen Fluss der Lichteinwirkungen. Zum einen dokumentieren also die beiden kurz nacheinander aufgenommenen Polaroids den Ablauf der Zeit, sie entwickeln sich aber auch im Verlauf der Zeit ganz unterschiedlich. Spätestens nach 20 Jahren – so heißt es auf einschlägigen Fachseiten[11] - beginnt sich das Polaroid-Bild noch einmal dramatisch zu verändern. Neuses Polaroids vom Gartentisch mit Rotwein-Glas und Rund-Brille sind jetzt gut 18 Jahre alt …

Veränderung / Vergänglichkeit

Werd ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zugrunde gehn![12]

Die zweite Arbeit aus diesem Zyklus von Polaroids mit Weinglas und runder Brille, die ich in meinem Arbeitszimmer hängen habe, ist eines jener Werke, die der Künstler bearbeitet und in dessen Entwicklungsprozess er quasi ‚gewaltsam‘ eingegriffen hat. Denn hier wurde die Vollendung des Abbildprozesses der äußeren Wirklichkeit an einem bestimmten Punkt unterbunden, man erkennt zwar im Vergleich zu den beiden vorherigen Kunstwerken noch die Gleichheit des Bildgegenstandes, aber alles andere ist quasi in Bewegung geraten, ist wie in der Folge eines Feuerbrandes scheinbar gewellt, farblich verblasst und lädiert. Das ist aber kein schädlicher Prozess, denn er ist vom Künstler gewollt, wurde von ihm zumindest in Gang gesetzt. Das Polaroid wird hier zum Material mit dem der Künstler arbeitet – und auf das prozessuale Endergebnis müssen die Rezipient*innen dann reagieren und in eigene poetische Kommentare umsetzen bzw. sich von den poetischen Assoziationen durch Thomas Schubert inspirieren lassen.

Anmerkungen

[1]    Adorno, Theodor W. (2014): Ästhetische Theorie. 5. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 1707).

[2]    Latour, Bruno (2002): Iconoclash oder Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkrieges? Berlin: Merve-Verl.

[4]    Vgl. dazu Karpeles, Eric (2010): Marcel Proust und die Gemälde aus der Verlorenen Zeit: DuMont Buchverlag.

[5]    Vgl. etwa Wellershoff, Dieter (2013): Was die Bilder erzählen. Ein Rundgang durch mein imaginäres Museum. Köln: Kiepenheuer & Witsch.

[6]    Benjamin, Walter (2013): Über den Begriff der Geschichte. In: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften I. 6. Aufl. Herausgegeben von Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser und Theodor W. Adorno et al. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 931), 691-704.

[7]    Thomas Schubert „Benjamin on my mind“.

[8]    Benjamin, Walter (2013): Aufzeichnungen 1906-1932. In: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften VI. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main, S. 455 (Spanien 1932): „So zeitlos aber ist auch die Einsamkeit nicht, daß sie nicht mit der Zeit sich ändert, wenn auch langsam. Heute ist sie nur noch ein Abfallprodukt der Gemeinschaft. Klausner gibt es nicht mehr und wer sich absondert, entdeckt keine neue Gemeinschaft sondern die alte. So hatte einer, der mit der Welt nicht zurechtkam, sich ins Innerste einer entlegnen Insel zurückgezogen. Wenige störten ihn auf, nichts aber wunderte sie so sehr wie die Beschlagenheit des Mannes in allen Vorfällen und Intrigen des Küstenlandes. Es war als hätte die Einsamkeit sein Ohr geschärft und der Wind ihm die Skandalgeschichten zugetragen, die der Großstädter am Telefon in sich aufnimmt. Wer von diesem Einsiedler Abschied genommen hatte, der fragte sich: »Wieviel Klatsch braucht der Mensch zum leben?«“

[9]    Benjamin, Walter (2003): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Edition Suhrkamp, 2424).

[11]   https://www.diafix.de/neues-leben-fuer-alte-sofortbilder-mit-dem-polaroid-scan/ Dort heißt es: Spätestens nach 20 Jahren beginnen die Farben zu erblassen und es kommt zur Bildung von Farbstichen.

[12]   Johann Wolfgang von Goethe: Faust - Der Tragödie erster Teil

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/131/am731.htm
© Andreas Mertin, 2021