Dem Walfisch eine Tonne vorwerfen

2 – Über Anstand, Anstandsbücher und Gebotslisten

Andreas Mertin

Mit Gewalt ist wider die Sinnlichkeit in den Neigungen nichts
ausgerichtet; man muss sie überlisten, und … dem Walfisch
eine Tonne zum Spiel hingeben, um das Schiff zu retten.

Anstand

Als Anstand wird … ein als selbstverständlich empfundener Maßstab für ethisch-moralischen Anspruch und Erwartung an gutes oder richtiges Verhalten bezeichnet. Der Anstand bestimmt die Umgangsformen und die Lebensart. Von der Sittlichkeit wird der Anstand insofern unterschieden, als er etwas in erster Linie Augenfälliges ist, das den Charakter einer Person nicht notwendigerweise widerspiegelt, während die Sittlichkeit in der Gesinnung einer Person verankert ist. Das Wort erlebte im Laufe der letzten 200 Jahre einen mehrfachen Bedeutungswandel.[1] (Wikipedia; Artikel Anstand)

Wenn wir heute auf das Wortprofil von „Anstand“ im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) schauen, dann finden wir lauter assoziativ mit dem Wort verbundene Begriffe, die wir ganz gut nachvollziehen können, weil sie – mehr oder weniger – unserem eigenen Sprachgebrauch entsprechen. In der Hauptsache sind es (in absteigender Reihenfolge) Sitte, Moral, Würde, Fairness, Ehrlichkeit, Höflichkeit und Benehmen.[2] Später tauchen dann auch Worte wie Menschlichkeit, Aufrichtigkeit, Sauberkeit, Ehrgefühl, Fleiß und (neuerdings, d.h. seit 2000[3]) Gebot auf. Schauen wir auf die damit verbundenen Verben, dann stoßen wir auf wahren, verletzen und schon an dritter Stelle predigen.[4] Als Adjektivattribut taucht am häufigsten politischen, menschlichen, öffentlichen, bürgerlichen und demokratischen auf.

Aber schon ein zweiter Blick zeigt uns, dass damit noch nicht die Wirklichkeit umschrieben ist. In der FAZ gab es vor einigen Jahren einen Leitartikel unter der Überschrift „Wenn der Anstand gegen das Recht anrennt“, der vor einigen Wochen um Zusammenhang mit Korruptionsvorwürfen gegen Politiker wieder Aktualität bekommen hat. Und in diesem Artikel heißt es:

Anstand ist in der Politik ein Kampfbegriff zur gesellschaftlichen Isolierung
oder gar Niedermachung eines Gegners, dem man anders nicht beikommt.
[5]

Es gibt gute Gründe, dies nicht nur für den Bereich der Politik in Anschlag zu bringen, sondern es auf alle gesellschaftlichen Debatten, auch der kirchlichen zu erweitern. Das sollte uns warnen, allzu selbstverständlich dem Charme des Anstands zu erliegen, sondern seiner (Wort-) Geschichte in Bibel und Gesellschaft genauer nachzugehen.

Denn noch etwas anderes wird spätestens dann deutlich, wenn wir statt Anstand ‚anständig‘ in die Wortsuche des DWDS eingeben. Nun erst zeigen sich die anständigen Kerle und (un-)anständigen Frauen, das (un-)anständige Verhalten usw., die im Alltag weiterhin eine Rolle spielen.


Anstand in der Bibel

Das Wort Anstand, das mit #anstanddigital so eifrig beworben wird, taucht in der hebräischen Bibel und ihrer neutestamentlichen Auslegung außerordentlich selten auf und wenn doch einmal, dann ist es eher eine zeitgenössische Eintragung der Übersetzer und könnte ebenso mit anderen, unbelasteten Worten beschrieben werden.

Die Bibel in gerechter Sprache kennt nur eine Stelle, bei der sie das Wort „Anstand“ für die Übersetzung eines Begriffes verwendet und das ist der schon erwähnte Psalm 119, 66: „Güte, Anstand (טַ֣עַם) und Erkenntnis lehre mich, denn auf deine Gebote verlasse ich mich.“ Und das könnte man wahrscheinlich auch übersetzen mit „Güte, Geschmack und Wissen lehre mich … “. Bei der traditionellen Stelle, bei der die Mehrzahl der Übersetzungen „Anstand“ verwendet, nämlich 1. Tim. 2,9 übersetzt die BigS: „dass die Frauen durch ordentliche Kleidung ihrer Schamhaftigkeit und anständigen Selbstbezähmung Ausdruck geben“ und macht in einer Anmerkung auf den Klassencharakter dieser Äußerung im Kontext aufmerksam: „Da die angesprochenen Frauen offensichtlich wohlhabend sind, kann der Hinweis auf die guten Werke außerdem die Erwartung beinhalten, dass sie ihr Vermögen zugunsten der Gemeinde einsetzen“.[6]

Die Lutherbibel 2017 kennt zwei Stellen, neben dem noch ausführlicher zu besprechenden 1. Tim. 2,9 noch 1. Tim. 5,3: „die älteren Frauen wie Mütter, die jüngeren wie Schwestern, mit allem Anstand (τίμα)“.

Die Zürcher Bibel nennt neben 1. Tim 2, 9 noch 1. Kor 7,35: „Das sage ich aber zu eurem Besten, nicht um euch eine Schlinge überzuwerfen, sondern damit ihr in Anstand (εὔσχημον) und Würde lebt und euch an den Herrn haltet, ohne euch ablenken zu lassen.“

Die Einheitsübersetzung kennt drei explizite Nennungen: zum einen 1Kor 12,23 „Denen, die wir für weniger edel ansehen, erweisen wir umso mehr Ehre und unseren weniger anständigen (ἀτιμότερα) Gliedern begegnen wir mit umso mehr Anstand (εὐσχημοσύνην)“. Zum zweiten 1Kor 14,40 „Doch alles soll in Anstand (εὐσχημόνως) und Ordnung geschehen“. Zum Dritten 1Tim 3,4 „Er muss seinem eigenen Haus gut vorstehen, seine Kinder in Gehorsam und allem Anstand (σεμνότητος) erziehen.“

Die Hoffnung für alle verortet das Wort Anstand in Sprüche 11, 22: „An einer Frau ohne Anstand (טָֽעַם) wirkt Schönheit wie ein goldener Ring im Rüssel einer Sau.“ Ganz ähnlich aber rhythmischer formuliert ist die sprachliche Konstruktion in der neuen evangelistischen Übersetzung, die den gleichen Vers folgendermaßen übersetzt: „Wie ein goldener Ring im Rüssel einer Sau / ist eine schöne Frau, die keinen Anstand hat.“

Erkennbar wird, dass es keinen festen Begriff gibt, den man mit Anstand übersetzen müsste. Am ehesten kommt das neutestamentliche εὐσχημον dem heutigen Wort Anstand am nächsten, es meint: vornehm, hochgestellt, angesehen, aus anständiger Familie, aber auch anständig gekleidet,[7] beinhaltet also durchaus das moderne Bedeutungsspektrum von „Anstand“.

Eine Fundstelle dominiert wirkungsgeschichtlich alle anderen. Sie stammt aus dem 1. Tim 2 und lautet in der Lutherübersetzung von 2017:

So will ich nun, dass die Männer beten an allen Orten und aufheben heilige Hände ohne Zorn und Zweifel. Desgleichen, dass die Frauen in schicklicher Kleidung sich schmücken mit Anstand (αἰδοῦς)[8] und Besonnenheit (σωφροσύνης), nicht mit Haarflechten und Gold oder Perlen oder kostbarem Gewand, sondern, wie sich's ziemt für Frauen, die ihre Frömmigkeit bekunden wollen, mit guten Werken. Eine Frau lerne in der Stille mit aller Unterordnung. Einer Frau gestatte ich nicht, dass sie lehre, auch nicht, dass sie über den Mann herrsche, sondern sie sei still. Denn Adam wurde zuerst gemacht, danach Eva. Und Adam wurde nicht verführt, die Frau aber wurde verführt und übertrat das Gebot. Sie wird aber gerettet werden dadurch, dass sie Kinder zur Welt bringt, wenn sie bleiben mit Besonnenheit im Glauben und in der Liebe und in der Heiligung.[9]

Im religiösen Kontext, davon ist meines Erachtens auszugehen, entkommt man dieser spezifischen Aufladung des Wortes „Anstand“ als Umschreibung des „schicklichen“ Verhaltens von Frauen seit den Zeiten der frühchristlichen Gemeinde nicht. Man kann das überprüfen, indem man in der Google-Bildersuche das Wort „modestly“ eingibt, das Ergebnis ist erschreckend.  

„Anstand“ hat zudem im 19. Jahrhundert eine Bedeutung bekommen, die sich zum unterdrückenden Normativen wandelte und alles überlagerte.

Dieser normative Geist des angeblich Schicklichen ist nach meiner Hermeneutik des Verdachts auch der Geist, der die Elf Gebote beflügelt. Unanständig ist, wer nicht rechtzeitig schweigt, sich nicht unterordnet und eigene Lehren von sich gibt. So sinnvoll das Wort „Anstand“ in seiner ursprünglichen Bedeutung als Friedensschluss in Kriegszeiten gewesen sein mag,[10] so sehr ist es seit dem 18. und 19. Jahrhundert durch das bürgerlich Schickliche und Sittliche überformt.

Anstand ist für mich ein kontaminiertes Wort. Und nach 1945 lässt es sich gar nicht mehr gebrauchen – wie kann gerade in Deutschland von Anstand noch sinnvoll gesprochen werden? Von Henryk Broder gibt es ein ebenso bitterböses wie treffendes Diktum zum Thema:

„Ganz zum Schluss standen Dr. Kohn und Dr. Levy nackt und wehrlos in der Schlange zum Duschraum, und als sie an der Tür, die vom Leben zum Tode führte, angekommen waren, sagte Dr. Levy zu Dr. Kohn: 'Nach Ihnen, Herr Doktor!' Da hatten die Juden noch Anstand und Manieren. Doch dann beschlossen sie, aus der Geschichte auszusteigen und als Opfer nicht mehr zur Verfügung zu stehen.“

Schauen wir aber zuerst noch einmal in die Sprachgeschichte des Wortes. Das Grammatisch-Kritische Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, der nach seinem Herausgeber benannte Adelung, schreibt 1793 zum Wort:

„Dasjenige, was anstehet, so fern dieses Verbum das Schickliche in dem äußern Betragen ausdruckt, das Verhältniß des äußern Betragens mit den innern Vollkommenheiten, die man hat, oder doch vermöge seines Standes und Berufes, und der jedesmahligen Umstände haben sollte. Ein guter, ein schlechter Anstand. Er tanzt mit einem vortrefflichen Anstande. Der Redner hat einen schlechten Anstand. In seiner Kleidung herrscht ein unverbesserlicher Anstand. Welch edler Anstand herrscht in seiner jungen Miene! ... In engerer Bedeutung, der gute Anstand. Er hat den rechten Anstand, der sich für einen Hofmann schickt ...
Der Anstand … ist ein Theil des Wohlstandes.“[11]

Bewusst gesetzte Distinktionen wohin man nur schaut. Vor allem der letzte (von mir hervorgehobene) Satz ist ein zentraler Punkt, den man sorgfältig im Hinterkopf behalten muss: wer kann sich eigentlich Anstand leisten?

„Man rede dem Arbeiter nichts von Anstand, Höflichkeit und guten Sitten, wenn man ihm nicht gleichzeitig die Bedingungen gibt, dass er anständig und höflich bleiben kann. Dreck und Schweiß färben ab, nach innen mehr als nach außen.“ (B. Traven)

Meine erste These ist also, dass das Wort „Anstand“ weiterhin von der Klassensprache, ursprünglich aus der obrigkeitsorientierten Sprache der aufsteigenden Mittelschichten bzw. der sich etablierenden Oberschichten geprägt ist. Es ist ein Begriff, der von Distinktion umgeben ist: Ein guter, ein schlechter Anstand, z.B. in der Kleidung. Und im Zweifelsfall ist der schlechte Anstand bei den gemeinen und gewöhnlichen Menschen, jenen, denen der richtige (oder sollte man treffender sagen: der rechte) Anstand erst noch beigebracht werden muss.

Meine zweite Vermutung lautet, angestoßen durch die oben zitierten Verse aus dem Timotheus-Brief und noch weiteren zu nennenden Quellen, dass es sich bei ‚Anstand‘ um ein programmatisches und damit weiterhin belastetes Wort aus der Unterdrückungsgeschichte von Frauen handelt. Es geht um die Absetzung / Distinktion der anständigen von den ‚unanständigen‘.

Zunächst aber ein Blick auf Kants 1796/97 verfasste und 1798 erschienene Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, die man im Geiste der Aufklärung und des Humanismus lesen muss:

„Die Natur hat den Hang, sich gerne täuschen zu lassen, dem Menschen weislich eingepflanzt, selbst um die Tugend zu retten, oder doch zu ihr hinzuleiten. Der gute, ehrbare Anstand ist ein äußerer Schein, der andern Achtung einflößt (sich nicht gemein zu machen). Zwar würde das Frauenzimmer damit schlecht zufrieden sein, wenn das männliche Geschlecht ihren Reizen nicht zu huldigen schiene.
     Aber Sittsamkeit (pudicitia), ein Selbstzwang, der die Leidenschaft versteckt, ist doch als Illusion sehr heilsam, um zwischen einem und dem anderen Geschlecht den Abstand zu bewirken, der nöthig ist, um nicht das eine zum bloßen Werkzeuge des Genusses des anderen abzuwürdigen. – Überhaupt ist Alles, was man Wohlanständigkeit (decorum) nennt, von derselben Art, nämlich nichts als schöner Schein.“[12]

Wer, wie der Verfasser, die Göttin Pudicitia bisher noch nicht kannte, sei kurz informiert:

Pudicitia (lateinisch), die Schamhaftigkeit; als Personifikation dargestellt auf römischen Münzen als eine sittsam in ihr Gewand gehüllte matrona oder als Frau, die sich zu verschleiern im Begriff ist. Ihre Statue durfte nur von einer univira, einer nur einmal verheirateten Frau, berührt werden.
     In Rom gab es einen Tempel der Pudicitia patricia und einen anderen der Pudicitia plebeia. Laut Livius wurde der Kult der Letzteren gegründet, als es zum Streit vor dem Senat darüber kam, ob eine mit einem Plebejer verheiratete Frau aus patrizischer Familie weiterhin am Kult teilnehmen dürfe.[13]

Auch daraus dürfte deutlich werden, dass Anstand seit frühesten Zeiten immer auch etwas mit Geschlechterverhältnissen und Klassenverhältnissen zu tun hatte. Dazu im Folgenden noch ein weiterer Beleg.

Das zwischen 1834 und 1838 erschienene zehnbändige Damen-Conversations-Lexikon, das für bildungsinteressierte Frauen des Bürgertums geschrieben wurde, hat in seinem ersten Band auch einen Artikel zum Lexem „Anstand“. Dort heißt es:

„Anstand, ist die Uebereinstimmung unseres Handelns mit Stand und Lebensverhältnissen. Wir sollen nichts thun und nichts unterlassen, was unser Geschlecht, Alter, Glückszustand und unsere bürgerliche Stellung fordert. So will es die Convenienz – der nothwendige Anstand – zum Unterschiede vom natürlichen, den man Schicklichkeitsgefühl nennt. –
Letzteres vor Allem ist ein Prärogativ der Frauen, es ist das Kaleidoskop der weiblichen Seele, die so leicht die Strahlen der Außenwelt in sich aufnimmt und mit dem Farbenschmucke des innern Lebens auf ihre nächsten Umgebungen zurückwirft. – Es ist die Tonleiter, deren Akkorde, mit Wohllaut und Einklang bis in die feinsten Nerven des Haus- und Gesellschaftslebens dringen. – Es ist der weibliche Nimbus, der Wort und Laut mit jenem Zauber umgibt, der gleich mächtig zur Verehrung und Huldigung auffordert.“[14]

Ja, der natürliche Anstand als Prärogativ der Frauen, das Schicklichkeitsgefühl als Kaleidoskop der weiblichen Seele, die so leicht die Strahlen der Außenwelt in sich aufnimmt. Demgegenüber wirkt selbst Shania Twain progressiv, der bisher einzigen Popkünstlerin, die es geschafft hat, das Wort Prärogativ in einem Songtext unterzugbringen: The best thing about being a woman / Is the prerogative to have a little fun.

Gibt es denn keine Alternativen zum Wort Anstand, das doch seit 1800 auf einer gut begründeten Talfahrt auf seiner Wortverlaufskurve ist? Nicht wegen des jeweiligen Inhalts, sondern wegen seines unvermeidbaren Framings, das mit ihm gesetzt wird? Und warum reicht den Anstands-Apologeten nicht die Netiquette, die das Internet schon selbst aus sich heraus entwickelt hat, ohne auf die Anstands-Theologen zu warten? Und warum muss „Anstand“ unbedingt mit den biblischen Geboten in Verbindung gebracht werden?


Anstandsbücher

Einordnen lassen müssen sich Gebote für digitalen Anstand aber auch in die nun schon etwas längere Geschichte der nahezu unzählbaren Anstandsbücher in Deutschland. Es gibt eine interessante, 2004 von Werner Zillig herausgegebene Sammlung von „Anstandsbüchern von Knigge bis heute“[15], die, weil sie digital vorliegt, sich für eine Erschließung ganz gut eignet. Den Blick in diese Sammlung kann ich jedem/jeder Leser*in nur empfehlen. In seiner Einleitung schreibt der Herausgeber:

Die differenzierte Analyse von Anstandsbüchern lehrt die gesellschaftlichen Mechanismen von Hierarchisierung und Machtverwaltung zu verstehen.[16]

Das kann man wohl sagen, es ist zum Teil belustigend, häufiger erschreckend, aber eben auch aufklärerisch, was man dort findet. Freilich ist der aufklärerische Teil noch der geringste:

… ist doch ihr Inhalt nicht selten eine triviale Ansammlung von wohlgemeinten, doch schlecht formulierten und zudem nicht selten in besserwisserischem Ton vorgetragenen Allerweltsweisheiten. Als Ratgeber stehen die Benimmbücher allzu oft in der gleichen Ecke, in der Kochbücher und Anleitungen für Heimwerker angesiedelt sind, mit dem einen Unterschied: daß Kochbücher und Heimwerkerbücher, vorausgesetzt sie sind mit Sachverstand verfaßt und verständlich geschrieben, in jedem Fall nützlich sein können, während der unmittelbare praktische Nutzen bei den Benehmensratgebern bisher in Frage gestellt wurde.[17]

Das liegt nicht zuletzt an ihrem Zeitindex, der das im selbstgefälligen Ton Vorgetragene schon nach wenigen Jahren problematisch werden lässt.

Deutlich wird aber auch, dass die Unanständigen keinesfalls das Zielpublikum der Anstandsbücher sind, sondern die Verunsicherten, die sich dem gesellschaftlich von ihnen scheinbar Erwarteten anpassen wollen, aber nicht wissen, was gerade angesagt ist. Das zeigt ein Anstandsbuch auch mit dem Titel: „Willst genau du wissen, was sich schickt?[18] Ein anderes ist überschrieben mit: „Willst du erfahren was sich ziemt? Ein lustiges und lehrreiches Handbuch für die Jugend im Dritten Reich“.[19] Ja, auch im „Braunvolk“ wurde vorgeblich Wert auf Anstand gelegt, um gleichzeitig das Judentum und andere Gruppierungen herabsetzen zu können (was in diesem ‚Anstandsbuch‘ dann auch geschieht). Wir werden noch sehen, dass im Auschwitzprozess die 10 Gebote für die Kriegführung des deutschen Soldaten eine Rolle spielten, die jeder Soldat im Tornister hatte, um sich dann im Krieg umso entschiedener nicht daran zu halten. Anstandsbücher und Anstandsregeln scheinen ihren Sinn oftmals dadurch zu haben, dass sie überhaupt aufgestellt werden, ohne dass man sich an sie halten müsste. Man trägt sie ja mit sich. Aber eine regulative Wirkung entfalten sie ganz offenkundig nicht.


אָֽנֹכִ֖י֙ יְהוָ֣ה אֱלֹהֶ֑֔יךָ – Die 10 Gebote

Rufen wir uns zunächst die biblischen Zehn Gebote in Erinnerung:

  1. Ich bin JHWH, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.
  2. Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation; bei denen, die mich lieben und auf meine Gebote achten, erweise ich Tausenden meine Huld.
  3. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen missbraucht.
  4. Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig! Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Vieh und der Fremde, der in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meer gemacht und alles, was dazugehört; am siebten Tag ruhte er. Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn für heilig erklärt.
  5. Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt.
  6. Du sollst nicht morden.
  7. Du sollst nicht die Ehe brechen.
  8. Du sollst nicht stehlen.
  9. Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen.
  10. Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen. Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen, nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin, seinem Rind oder seinem Esel oder nach irgendetwas, das deinem Nächsten gehört.

Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet fasst die Bedeutung der Zehn Gebote in der hebräischen Bibel bündig zusammen:

Der Dekalog erscheint in Ex 20 als erstes Gotteswort am Sinai und als einziges, welches das Volk ohne den Mittler Mose aus Gottes Mund unmittelbar vernimmt. Schon dadurch ist er aus allen anderen Willensoffenbarungen Gottes herausgehoben. … Doppelte Über­lieferung am Sinai und im Lande Moab, Vorordnung des Dekalogs vor alle Gesetze, Unmittelbarkeit der Willenskundgabe Gottes, Verschriftung durch Gott selbst, Urkunde des Bundes und unbeschränkter Geltungsbereich markieren die einzigartige Stellung des Dekalogs in der Bibel.[20]

Die zehn Gebote sind zugleich aber auch ein einzigartiges kulturgeschichtliches Dokument und von einer fortwirkenden sprachlichen Prägnanz, an den Fingern abzähl- und memorierbar:

Sachlich gründet diese Vorstellung (scil. vom überzeitlichen Ethos des Dekalogs) in der sprachlichen und erinnerungstechnischen Prägnanz des Dekalogs, in dessen kulturgeschichtlicher Bedeutung als einer wesentlichen Größe des kollektiven Gedächtnisses der vom Judentum und Christentum geprägten Gesellschaften sowie in dessen prinzipieller Möglichkeit der Verallgemeinerung und Realisierung. Insofern der Mensch aufgrund seiner Geschöpflichkeit und der damit verbundenen Begrenztheit immer wieder an der Umsetzung einzelner Gebote sowohl hinsichtlich deren grundlegender Funktion, Leben in Achtung der von Gott allen Menschen geschenkten Freiheit zu schützen und zu ordnen, als auch hinsichtlich der konkreten Einzelforderungen scheitert (vgl. Rom 7,19), ist der Gottesbezug, wie er in der „ersten Tafel" begründet wird, bleibender Richtpunkt einer Ethik.[21]

Zugleich müssen die Zehn Gebote aber auch immer in ihre Zeit übersetzt werden, damit sie verständlich werden. Auch die von uns nach der Lutherfassung memorierten Gebote sind Anpassungen, denn bei Luther wird der implizite rentenrechtliche Aspekt des fünften Gebotes unterschlagen: Wir sollen Vater und Mutter versorgen. „So besagt das Elterngebot, dass diese »für dich Gewicht haben sollen« (Dtn 5,16), indem sie im Alter geehrt, also respektiert und versorgt werden (Ex 20,12).“[22]

Einen derartigen Versuch einer aktualisierenden Reformulierung der 10 Gebote unternahm der alte Evangelische Erwachsenenkatechismus unter der Überschrift „Gottes Gebote als Protest?“[23]

  1. Weil in den Geboten Gott als der spricht, der ein Gegner aller Mächte ist, von denen Menschen sich abhängig oder unterdrückt fühlen müssen;
  2. weil Gott nicht will, dass sein Name zur Verteidigung veralteter Strukturen oder zur Propagierung gewagter Neuerungen missbraucht wird;
  3. weil Gott nicht damit einverstanden ist, dass Menschen pausenlos verplant und eingesetzt werden; weil sie zu sich selber kommen sollen;
  4. weil die Konflikte zwischen den Generationen von Politikern, Ideologen und Geschäftemachern nach Gottes Willen nicht ausgenützt oder hochgespielt werden dürfen;
  5. weil die junge Generation weder von der Mitbestimmung ferngehalten werden noch allein den Ton angeben darf; weil es nicht dazu kommen darf, dass die Alten nichts mehr gelten;
  6. weil Gott nicht einverstanden ist, dass menschliches Leben durch Kriege, Morde, Folterungen, Straßenverkehr oder Hunger zerstört wird;
  7. weil Gott nicht damit einverstanden ist, dass Kinder Schäden erleiden, weil ihnen die Geborgenheit des Elternhauses vorenthalten wird; weil Gott will, dass den vielen Tragödien vorgebeugt wird, die durch Rücksichtslosigkeit und Untreue entstehen;
  8. weil Gott nicht damit einverstanden ist, dass sich die einen auf Kosten anderer bereichern, dass unbeholfene Leute um ihre Habe gebracht werden und die Arbeitskraft von Abhängigen ausgebeutet wird;
  9. weil Gott nicht will, dass durch tendenziöse Berichterstattung und mit psychologisch raffinierten Methoden Tatsachen verschleiert, Unsicherheit hervorgerufen und politische oder persönliche Gegner in ein schiefes Licht gerückt werden;
  10. weil Gott auch nicht damit einverstanden ist, dass jeder meint, er müsse besitzen, was andere besitzen, dass durch Propaganda und Reklame falsche Bedürfnisse geweckt und eingeredet werden und dass sich einige Wenige Dinge leisten, die auf Kosten der vielen gehen.

Aneignungen und Trivialisierungen

Im Folgenden will ich einigen Texten nachgehen, die im Verlauf der letzten Jahrhunderte Gebote aufgestellt oder gebotsähnliche Aufforderungen aufgelistet haben. Lange Zeit gab es nur Kommentare zu den 10 Geboten, aber nach und nach stößt man auf immer mehr neu formulierte Zehn-Gebote-Tafeln, zunächst oftmals aus dem satirischen Bereich, der sich seit dem 19. Jahrhundert vor allem an der Religion abarbeitet.

Ein Beispiel wären die 1872 erschienenen, invers gestalteten zehn Gebote der Adele Spitzeder, welche die Dummheit der Opfer dieser ersten betrügerischen Bankerin Deutschlands karikieren: „Ich bin die Göttin des Dachauerbankschwindels, Du sollst keine anderen Banken neben mir haben“.[24]

Ähnlich verhält es sich mit dem Kleinen Katechismus der Liebe für Mädchen, den der österreichische Schriftsteller Joachim Perinet 1786 schreibt (in Wirklichkeit ein „Unterricht in Wollust und Koketterie“) und darin natürlich ebenfalls wiederholt 10 Gebote aufstellt: „Du sollst wenigstens zwanzig Gegenstände lieben.“ – „Du sollst nicht lieben aus ganzem deinem Herzen, noch aus ganzem deinem Gemüthe, aber aus allen deinen Kräften“.[25]

Beide Beispiele erweisen den Zehn Geboten insofern noch ‚Respekt‘, als sie sich als bewusste Inversionen darstellen. Ihre Wirkung entfalten sie dadurch, dass sie die zehn Gebote noch voraussetzen, aber lebensweltlich konterkarieren, indem sie die Realitäten des Alltags dagegensetzen.

Spätestens im 19. Jahrhundert setzt die Trivialisierung der Zehn Gebote durch das Bürgertum ein. Die Zehn Gebote werden transformiert zu kleinbürgerlichen formalen Anstandsregeln, die mit den ursprünglichen zehn Geboten nichts mehr zu tun haben. In Wolf Graf und Eva Gräfin Baudissins goldenem Buch der Sitte gibt es für das „Benehmen im Theater“ unter Berufung auf das französische Wochenmagazin „Monde artiste“ zehn Gebote für Theaterbesucher, deren grundlegend erstes lautet: „Komme nie zu spät“. Ich weiß nicht, ob die Leserinnen und Leser zu Beginn des 20. Jahrhunderts religiös schon so abgestumpft waren, dass sie den himmelschreienden Kontrast zur Selbstvorstellung Gottes im ersten Gebot der Bibel gar nicht mehr empfunden haben, oder ob die Zehn Gebote im Kontext der Kirche schon so formelhaft repetiert wurden, dass sich ihr elementarer Sinn gar nicht mehr erschloss.

Und schon bald findet sich zu nahezu jedem Thema etwas, zu dem Zehn Gebote formuliert werden: Beziehungsratgeber (Zehn Gebote: in guten Beziehungen leben[26]; Die zehn Gebote: An-Gebote zum Leben[27]), Philosophenschulen (Zehn Gebote für das philosophische Schreiben[28]), Exotheologen (Zehn Gebote der Außerirdischen[29]), Tierfreunde (Ich, dein Kater und die zehn Gebote[30]), Möchtegern-Bosse (Das ist ALPHA!: Die 10 Boss-Gebote[31]; 10 Gebote für erfolgreiche Frauen[32]; Die 10 Gebote für ein gesundes Unternehmen[33]) und so weiter und so fort. Und nicht zuletzt gibt es natürlich auch schon im Bereich der Kommunikationskultur Gebotsfetischisten (Die Netzwerkbibel. Zehn Gebote für ein erfolgreiches Networking[34]; Leadership-Sprache - Zehn Gebote für ausdrucksstarke und überzeugende Kommunikation[35]). Letztlich überrascht es angesichts dessen nicht, dass auch zeitgeistige Theologen an diesem (durch und durch kommerzialisierten) Gebote-Hype partizipieren wollen und zehn bzw. elf Gebote für eine anzustrebende anständige Internet-Kommunikation aufstellen. Aber sie sollten doch wenigsten ein bisschen auf die Tradition(en) achten, in die sie sich da einordnen.

Neben den Trivialisierungen gibt es aber auch Transformationen und Aneignungen, etwa wenn Künstler versuchen, die Zehn Gebote auf ihr Arbeitsfeld zu beziehen. Bei Caspar David Friedrich geschieht das 1830 noch sehr stark bezogen auf die biblischen Gebote und die sich mit Schleiermacher entwickelnde Auffassung von Religion als „Sinn und Geschmack für das Unendliche“, bei Otto Pankok sind es 100 Jahre später nur noch entfernte sprachliche Anklänge. Bei Caspar David Friedrich lauten die (bei ihm nicht nummerierten) Zehn Gebote so:

„Es sei mir vergönnt, noch einmal in aller Kürze meine Ansichten über das, was Kunst und Kunstgeist in dem Menschen ist, zu zeigen.
Du sollst Gott mehr gehorchen denn den Menschen. Jeder trägt das Gesetz von Recht und Unrecht in sich; sein Gewissen sagt ihm: dieses zu tun, jenes zu lassen. Die heiligen Zehn Gebote sind der reine, lautere Ausspruch unser aller Erkenntnis vom Wahrhaften und Guten. Jeder erkennt sie unbedingt als die Stimme des Innern, niemand kann sich dagegen empören. Willst du dich also der Kunst widmen, fühlst du eine Berufung, ihr dein Leben zu weihen, oh, so achte auf die Stimme deines Innern, denn sie ist Kunst in uns.
Hüte dich vor kalter Vielwisserei vor frevelhaftem Vernünfteln, denn sie tötet das Herz, und wo das Herz und Gemüt im Menschen erstorben sind, da kann die Kunst nicht wohnen.
Bewahre einen reinen, kindlichen Sinn in dir und folge unbedingt der Stimme deines Innern, denn sie ist das Göttliche in uns und führt uns nicht irre.
Heilig sollst du halten jede reine Regung deines Gemütes; heilig achten jede fromme Ahndung, denn sie ist Kunst in uns! In begeisternder Stunde wird sie zu anschaulichen Form; und diese Form ist dein Bild.
Keiner soll mit fremdem Gute wuchern und sein eignes Pfund vergraben! Nur das ist dein eignes Pfund, was du in deinem Innern für wahr und schön, für edel und gut anerkennst.
Mit eignem Auge sollst du sehen und, wie dir die Gegenstände erscheinen, sie treulich wiedergeben; wie alles auf dich wirkt, so gib es im Bilde wieder!
Vielen wurde wenig, wenigen viel zuteil: Jedem offenbart sich der Geist der Natur anders, darum darf auch keiner dem andern seine Lehren und Regeln als untrügliches Gesetz aufbürden.
Keiner ist Maßstab für alle, jeder nur Maßstab für sich und für die mehr oder weniger ihm verwandten Gemüter.
So ist der Mensch dem Menschen nicht als unbedingtes Vorbild gesetzt, sondern das Göttliche, Unendliche ist sein Ziel.
Die Kunst ist’s, nicht der Künstler, wonach er streben soll! Die Kunst ist unendlich, endlich aller Künstler Wissen und Können.“[36]

Man könnte meinen, Caspar David Friedrichs „Zehn Gebote“ gehörten eigentlich nicht in den Zusammenhang dieses Artikels, aber das stimmt nicht. Friedrich orientiert sich nämlich nicht nur formal an den biblischen Geboten, er nimmt sie überaus ernst und sucht sie in einer Zeit, in der sich das Phänomen der Religion dramatisch in Richtung subjektiver Innerlichkeit ändert, für seine eigene Lebenswirklichkeit fruchtbar zu machen. Man kann seine Zehn Gebote durchaus als religiöse Rede würdigen.

Dagegen liegt bei Otto Pankok eine Mischung von künstlerischer Aneignung und satirischer Verfremdung vor. Es sind mehr als bloß künstlerische Benimmregeln, es sind kunstpolitische Äußerungen, stellenweise wirkt der Text wie eine Polemik gegen kritische Einwände.

  1. Du sollst den Kitsch riskieren.
  2. Du sollst nicht für Ausstellungen malen.
  3. Du sollst einen Baum für wichtiger halten als eine Erfindung von Picasso.
  4. Du sollst dich vor dem persönlichen Stil hüten.
  5. Du sollst nur deinen Träumen trauen.
  6. Du sollst deine schlechten Bilder schnell vergessen.
  7. Du sollst deine guten Bilder nicht anbeten.
  8. Du sollst vor jedem Bild, das du beginnst, das Gefühl haben, es wäre dein erstes.
  9. Du sollst krass ablehnen, was dir nicht passt, und wäre es Rembrandt oder Chagall.
  10. Du sollst das Publikum nicht für dümmer halten als dich selbst.

Von den biblischen Geboten übernimmt Otto Pankok eigentlich nur die Zahl 10 und die Formulierung „Du sollst“, wobei er nur eine bzw. zwei negative Formulierungen nutzt. Alles weitere ist von seinen künstlerischen und kunstpolitischen Vorstellungen geprägt. Bei Pankok transformieren sich die 10 Gebote in eine Art subjektiver Spruchweisheit.


Antiphrase

Mir war nicht bewusst, dass es so etwas wie das folgende Merkblatt mit 10 Geboten für die Kriegsführung des deutschen Soldaten gab. Darauf gestoßen bin ich, weil ich in meiner Digitalen Bibliothek[37] nach den diversen Ingebrauchnahmen der „Zehn Gebote“ gesucht hatte und dabei in den Akten des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses auf das Merkblatt für Soldaten stieß.[38] Dort dient es der Kontrastierung von normativer Ethik und faktischer Übertretung nahezu aller dort aufgestellter Gebote durch die deutsche Wehrmacht. Auch in der späteren Auseinandersetzung um die Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung spielte das Dokument eine Rolle, beriefen sich ehemalige Wehrmachtsangehörige doch darauf, diese Gebote im Soldbuch gehabt zu haben – als wenn das ihre Verbrechen verhindert hätte. Der konkrete Text lautet wie folgt:

»In der Wehrmacht des Dritten Reiches sind die Soldaten durch Unterricht, Dienstanweisung und Befehle eingehend mit den für sie in Betracht kommenden völkerrechtlichen Bestimmungen vertraut gemacht worden. Jeder deutsche Soldat hat als Merkblatt folgende 10 Gebote für die Kriegführung des deutschen Soldaten in seinen Händen.

  1. Der deutsche Soldat kämpft ritterlich für den Sieg seines Volkes. Grausamkeiten und nutzlose Zerstörungen sind seiner unwürdig.
  2. Der Kämpfer muß uniformiert oder mit einem besonders eingeführten weithin sichtbaren Abzeichen versehen sein. Kämpfen in Zivilkleidung ohne ein solches Abzeichen ist verboten.
  3. Es darf kein Gegner getötet werden, der sich ergibt, auch nicht der Freischärler und der Spion. Diese erhalten ihre gerechte Strafe durch die Gerichte.
  4. Kriegsgefangene dürfen nicht misshandelt oder beleidigt werden. Waffen, Pläne und Aufzeichnungen sind abzunehmen, von ihrer Habe darf sonst nichts weggenommen werden.
  5. Dum-Dum-Geschosse sind verboten. Geschosse dürfen auch nicht in solche umgewandelt werden.
  6. Das Rote Kreuz ist unverletzlich. Verwundete Gegner sind menschlich zu behandeln. Sanitätspersonal und Feldgeistliche dürfen in ihrer ärztlichen bzw. seelsorgerischen Tätigkeit nicht gehindert werden.
  7. Die Zivilbevölkerung ist unverletzlich. Der Soldat darf nicht plündern oder mutwillig zerstören. Geschichtliche Denkmäler und Gebäude, die dem Gottesdienst, der Kunst, Wissenschaft oder Wohltätigkeit dienen, sind besonders zu achten. Natural- und Dienstleistungen von der Bevölkerung dürfen nur auf Befehl von Vorgesetzten gegen Entschädigung beansprucht werden.
  8. Neutrales Gebiet darf weder durch Betreten oder Überfliegen noch durch Beschießen in die Kriegshandlungen einbezogen werden.
  9. Gerät ein deutscher Soldat in Gefangenschaft, so muß er auf Befragen seinen Namen und Dienstgrad angeben. Unter keinen Umständen darf er über Zugehörigkeit zu seinem Truppenteil und über militärische, politische und wirtschaftliche Verhältnisse auf der deutschen Seite aussagen. Weder durch Versprechungen noch durch Drohungen darf er sich dazu verleiten lassen.
  10. Zuwiderhandlungen gegen die vorstehenden Befehle in Dienstsachen sind strafbar. Verstöße des Feindes gegen die unter 1 bis 8 angeführten Grundsätze sind zu melden. Vergeltungsmaßregeln sind nur auf Befehl der höheren Truppenführung zulässig.

Das Soldbuch dient für den jeweiligen Soldaten als Personalausweis. Auf der Rückseite des Einbandes gab es eine Falttasche zum Einlegen von Merkblättern. Seit 1942 lag dem Soldbuch das oben vorgestellte Merkblatt bei. Und das geschah drei Jahre nachdem Adolf Hitler vor den Befehlshabern der Wehrmacht Folgendes ausführte und anordnete:

Ich habe Befehl gegeben – und ich lasse jeden füsilieren, der auch nur ein Wort der Kritik äußert –, dass das Kriegsziel nicht im Erreichen von bestimmten Linien, sondern in der physischen Vernichtung des Gegners besteht. So habe ich, einstweilen nur im Osten, meine Totenkopfverbände bereitgestellt mit dem Befehl, unbarmherzig und mitleidslos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken … Polen wird entvölkert und mit Deutschen besiedelt … Seien Sie hart, seien Sie schonungslos, handeln Sie schneller und brutaler als die andern. Die Bürger Westeuropas müssen vor Entsetzen erbeben. Das ist die humanste Kriegsführung.[39]

Das macht deutlich, wie bewusst bösartig das Merkblatt mit den 10 Geboten unter die Soldaten verteilt wurde. Das Merkblatt ist eine perfekte Antiphrase,[40] es diente als Tarnung und Verschleierung, nicht aber als Anleitung für den Soldaten. Die Aufstellung von Geboten, das können wir daraus lernen, macht ihre Verfasser noch nicht zu guten Menschen, manchmal ist genau das Gegenteil der Fall.


Alternative Gebote

Die Wikipedia hat einen eigenen Artikel über „Alternative Zehn Gebote“. Er beginnt mit dem Satz: „In Anlehnung an die biblischen Zehn Gebote wurden mehrere Alternative Zehn Gebote erstellt, über die kein Konsens besteht.“

Erstes Beispiel dafür sind Walter Ulbrichts 1958 verkündeten „Zehn Gebote der sozialistischen Moral und Ethik“, die ausschließlich aus Sätzen bestehen, die mit „Du sollst“ beginnen. Sie ordnen sich ein in die sozialistischen Versuche, die Traditionen der Kirche staatlich zu beerben und zur Formierung der Menschen zu instrumentalisieren. Die folgenden Gebotslisten stammen von Religionskritikern, die im optimalen Fall humanistische Grundsätze im religiösen Stil aufstellen, oder im suboptimalen Fall nur wild gegen die Religion polemisieren.[41] Am peinlichsten sind die 2007 vom SPIEGEL zusammengefassten 10 Gebote des Neuen Atheismus, die eröffnen mit „Du sollst nicht glauben“ und damit gleich zu Beginn eines der elementaren Menschenrechte infrage stellen. Noch dümmer ist das siebte Gebot: „Du sollst keine anderen Götter neben der Wissenschaft haben.“ Das fordert die Vergötzung der Wissenschaft ganz so, also ob es die „Dialektik der Ausklärung“[42] nie gegeben hätte.


Apokalypse

Die Georgia Guidestones, 1980 im Namen von unbekannten Auftraggebern errichtet, sollten als quasi-ethische Leitlinien nach einer atomar-apokalyptischen Katastrophe der Menschheit dienen. Auch wenn Verschwörungstheoretiker gerne etwas anderes aus ihnen lesen, spiegeln sie schlicht den Zeitgeist der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts, in denen allgemein mit einem dritten Weltkrieg unter Einsatz der großen Atombombenarsenale gerechnet wurde. Und die Guidestones stellen die Frage, wie geht es danach weiter, was waren die zentralen Fehler der Menschheit und wie kann man sie künftig vermeiden. Und hier kommen dann die auf den Guidestones festgehaltenen zehn Gebote in diversen Sprachen ins Spiel.

  1. Halte die Menschheit unter 500.000.000 in fortwährendem Gleichgewicht mit der Natur
  2. Lenke die Fortpflanzung weise – um Tauglichkeit und Vielfalt zu verbessern
  3. Vereine die Menschheit mit einer neuen, lebenden Sprache
  4. Beherrsche Leidenschaft – Glauben – Tradition und alles Sonstige mit gemäßigter Vernunft
  5. Schütze die Menschen und Nationen durch gerechte Gesetze und gerechte Gerichte
  6. Lass alle Nationen ihre eigenen Angelegenheiten selbst / intern regeln und internationale Streitfälle vor einem Weltgericht beilegen
  7. Vermeide belanglose Gesetze und unnütze Beamte
  8. Schaffe ein Gleichgewicht zwischen den persönlichen Rechten und den gesellschaftlichen / sozialen Pflichten
  9. Würdige Wahrheit – Schönheit – Liebe – im Streben nach Harmonie mit dem Unendlichen
  10. Sei kein Krebsgeschwür für diese Erde – lass der Natur Raum – lass der Natur Raum

Das atmet manches von der öko-spirituellen Stimmung der damaligen Zeit. Zugleich offenbart es viel von der Problematik der Idee, für die Menschheit verbindliche neue Gebote aufzustellen, die befürchtete Entwicklungen verhindern sollen. Die Hälfte dieser Gebote funktioniert ja nicht ohne staatliche Bevormundung und Betreuungspolitik, wer soll schließlich „die Fortpflanzung weise lenken“, wenn nicht der Staat? Man wird wohl nicht zufällig an die chinesische Ein-Kind-Politik erinnert, deren Beginn auch in diese Zeit datiert. Demokratisch und humanistisch sind die Georgia Guidestones spätestens auf den zweiten Blick nicht mehr.

Die digitalen Welten waren damals erst in Ansätzen entwickelt, die Durchlöcherung der Hauswände durch Glasfaserkabel noch nicht absehbar.[43] Würde man jedoch die ablesbare Ethik der Georgia Guidestones auf die digitale Welt extrapolieren, käme vermutlich nichts anderes als ein staatlicher Kontrollmechanismus heraus – mit Uploadfiltern, Verhaltensrestriktionen, Vorratsspeicherung und Kontrollmechanismen.

Anmerkungen

[3]    Um das nachzuvollziehen kann man das den Zeitfluss visualisierende DiaCollo des Digitalen Wörterbuchs nutzen:  https://www.dwds.de/dstar/zeit_www/diacollo/?query=Anstand&format=cloud&corpus=zeit DiaCollo ist die Kollokationsanalyse in diachroner Perspektive.

[6]    Bail, Ulrike; Crüsemann, Frank; Crüsemann, Marlene, et al. (Hg.) (2007): Bibel in gerechter Sprache: Gütersloh.

[7]    Bauer, Walter (2012): Griechisch-Deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur. Hawthorne.

[8]    Statt Anstand schreiben andere Übersetzungen Schamgefühl, Schamhaftigkeit, verantwortungsbewusst oder Sinn für das richtige Maß. Bauers Wörterbuch zum NT nennt präzise „die Schamhaftigkeit von Frauen“.

[10]   Das Grimmsche Wörterbuch nennt zwei interessante Sprachbeispiele; einmal Luther (die Römer haben mit den Jüden einen friede und anstand gemacht) und einmal Melanchthon (ein listiger ebenthewrer machte in kriegsleuften einen friedlichen anstand auf etliche tage und plünderte doch nichts deste weniger bei der nacht seines gegentheils flecke und dörfer). Ich glaube im vorliegenden fall läuft es auf Letzteres hinaus.

[11]   „Anstand“, Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart (Ausgabe letzter Hand, Leipzig 1793–1801), digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, <https://www.woerterbuchnetz.de/Adelung?lemid=A02656>, abgerufen am 02.04.2021.

[12]   Anthropologie in pragmatischer Hinsicht

[13]   https://de.wikipedia.org/wiki/Pudicitia

[14]   Herloßsohn, Karl (Hg.) (1834-1838): Damen-Conversations-Lexikon. Neusatz und Faks. der 10-bd. Ausg. Leipzig, 1834 - 1838. Berlin: Directmedia Publ, 2005 (Digitale Bibliothek, 118). Band 1, S. 235.

[15]   Gutes Benehmen. Anstandsbücher von Knigge bis heute (2004). Berlin: Directmedia Publ (Digitale Bibliothek, 108).

[16]   Ebd., S. 35f.

[17]   Ebd., S. 39.

[18]   Bartz, Marie Luise (1912): Willst genau du wissen, was sich schickt? Für Mädchen und Frauen. Potsdam.

[19]   Schütte, Karl (1934): Willst du erfahren, was sich ziemt? Ein lustiges und lehrreiches Handbuch für die Jugend im Dritten Reich. Caputh-Potsdam.

[21]   Witte, Markus (2008): Artikel "Dekalog". In: Horn, Friedrich Wilhelm; Nüssel, Friederike (Hg.): Taschenlexikon Religion und Theologie. [TRT]. 5. Aufl. 3 Bände. Göttingen, Band 1, S. 242–246.

[22]   Bibel in gerechter Sprache zum Stichwort „kavod“.

[23]   Jentsch, Werner; Jetter, Hartmut; Kießig, Manfred, et al. (Hg.) (1977): Evangelischer Erwachsenenkatechismus. Kursbuch des Glaubens. 3. Aufl. Gütersloh, hier S. 249f.

[25]   Perinet, Joachim (1786): Kleiner Katechismus (Catechismus) der Liebe für Mädchen.

[26]   Münch, Stephan (2013): Zehn Gebote. In guten Beziehungen leben. Kassel.

[27]   Wolf, Notker; Drobinski, Matthias (2008): Regeln zum Leben. Die Zehn Gebote - Provokation und Orientierung für heute. Freiburg, Br, Basel, Wien.

[28]   Hübner, Dietmar (2013): Zehn Gebote für das philosophische Schreiben. Göttingen.

[29]   Voigt, Rainer (2012): Die zehn Gebote der Ausserirdischen. Das Geheimnis der Dimensionen.

[30]   Schmidt, Dorothea (2007): Ich, dein Kater und die zehn Gebote. Norderstedt: Books on Demand.

[31]   Kollegah (2018): Das ist Alpha! Die 10 Boss-Gebote. Originalausgabe, München

[32]   Nuber, Ursula (2009): 10 Gebote für erfolgreiche Frauen. Frankfurt am Main

[33]   Fournier, Cay von (2010): Die 10 Gebote für ein gesundes Unternehmen. Frankfurt am Main:

[34]   Onaran, Tijen (2020): Die Netzwerkbibel. Zehn Gebote für erfolgreiches Networking. [S.l.]: SPRINGER.

[35]   Ahrens, Cynthia; Ahrens, Leif (2015): Leadership-Sprache - Zehn Gebote für ausdrucksstarke und überzeugende Kommunikation. Wiesbaden

[36]   Friedrich, Caspar David (1974): Über Kunst und Kunstgeist. Die zehn Gebote der Kunst. In: Hofmann, Werner (Hg.): Caspar David Friedrich. 1774 - 1840; München, S. 9. Ursprünglich publiziert in einem Manuskript „Äußerung bei Betrachtung einer Sammlung von Gemälden von größtenteils noch lebenden und unlängst verstorbenen Künstlern.“

[37]   Digitale Bibliothek 5. Directmedia Publishing 1997ff.

[38]   Sachverständigengutachten von Hans-Adolf Jacobsen über den Kommissarbefehl, Auszug aus zeitgenössischer Darstellung des geltenden Kriegsrechts. Anatomie des SS-Staates. Der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozeß, S. 41792

[39]   Akten zur deutschen Auswärtigen Politik 1918-1945. Aus dem Archiv des Deutschen Auswärtigen Amtes, Serie D (1937– 45), Band 7. Baden-Baden: Impr. Nationale, Frankfurt /Main 1961.

[40]   Als Antiphrasis oder Antiphrase (griech.) bezeichnet man eine Redefigur, die das Entgegengesetzte von dem ausdrücken soll, was das Wort eigentlich besagt.

[41]   Etwa „Die Zehn Angebote des evolutionären Humanismus“ von Michael Schmidt-Salomon, deren erstes Gebot folgendermaßen lautet: „Diene weder fremden noch heimischen ‚Göttern‘, sondern dem großen Ideal der Ethik, das Leid in der Welt zu mindern!“. Das kommt über die abstrakte Negation nicht hinaus.

[42]   Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W. (2003): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/Main.

[43]   Flusser, Vilém (2005): Häuser bauen. In: Flusser, Vilém: Medienkultur. 4. Aufl. Frankfurt/Main, S. 160–163.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/131/am725b.htm
© Andreas Mertin, 2021