Literaturverzeichnisse, Referentenlisten
und andere Netzwerke

Eine Rezension

Wolfgang Vögele

Axel Schildt, Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik, hg. und mit einem Nachwort versehen von Gabriele Kandzora und Detlef Siegfried, Göttingen 2020

I.

Wer jemals an der Universität oder an einer Akademie eine Tagung oder einen Kongress organisiert hat, der verständigt sich in der Vorbereitungsgruppe in der Regel zunächst über inhaltliche Fragen. Genauso wichtig wie Inhalte sind die anzufragenden Referenten, die eine für möglichst viele Teilnehmer attraktive Tagung garantieren. Wen kann man für Hauptvorträge gewinnen? Wie viel Honorar könnte die Vorbereitungsgruppe zahlen? An welcher Stelle des Programms genügt es, einen Doktoranden einzusetzen, der noch kein Honorar verlangen kann und nur deshalb kommt, um wissenschaftliche Reputation zugewinnen? Aus solchen Fragen entstehen für jede Tagung Hierarchien der Aufmerksamkeit, des Rufes, den Referenten genießen und der Honorarzahlung. Tagungen funktionieren nach der einfachen Formel, dass intellektuell attraktive Referenten Teilnehmer anziehen. Offen wird über diese Hierarchien nicht gesprochen. Aber jeder Studienleiter und Konferenzorganisator kennt die Preise und pflegt die entsprechenden Netzwerke.

Als damals junger Studienleiter an der Evangelischen Akademie Loccum war ich mit dem Feld der historischen Wissenschaften nicht vertraut, als ich im Herbst 1998 eine Tagung über die Hannoversche Landeskirche in der ersten Nachkriegszeit organisierte. Auf kirchlicher Seite war das Feld organisiert, bestimmt vom landeskirchlichen Archiv, dem regionalen Verein für Kirchengeschichte und dem Landeskirchenamt in der Roten Reihe in Hannover. Aber das weite Feld der Nachkriegs- und Zeitgeschichte? Ich hatte keine Ahnung. Und deswegen war ich dankbar, als mir mein Kollege, der Historiker Jörg Calließ für einen ersten Vortrag den Hamburger Historiker Axel Schildt empfahl. Ich schrieb einen Einladungsbrief, erhielt umgehend eine Antwort. Zur Tagung erschien ein freundlicher Herr in mittleren Jahren, der nicht nur den Vortrag hielt, der in dieser Nummer der ‚tà katoptrizómena’ wieder abgedruckt ist. Der Referent erschien so pünktlich, dass ich nicht unruhig werden musste, was keine Selbstverständlichkeit ist im Tagungsgeschäft. Noch mehr: Er blieb auch bis zum Ende der Tagung, um sich nach dem Eingangsvortrag an der Schluss-Diskussion zu beteiligen. Genauso unkompliziert wie die Einladung verlief die Erstellung des Tagungsbandes. Ich erhielt umgehend den überarbeiteten Vortragstext, dazu die korrigierten Fahnen des Schlussvotums. Danach verlor ich Axel Schildt aus den Augen, ich las gelegentlich noch einen Essay von ihm in der ‚Zeit‘.

Axel Schildt wirkte selbst mit im intellektuellen Feld, das er historisch-analytisch bearbeiten sollte. Seine Mitwirkung bei historischen Debatten strahlte Ruhe, Sachlichkeit, Freundlichkeit aus. Er war keine jener intellektuellen Diven, deren schräge Launen und Honorarforderungen jeder Studienleiter fürchtet und deren Vorträge stets nur die längst bekannten Thesen aus bereits publizierten Büchern wiederholen.

II.

Wer kann wo publizieren? Wer tritt mit welchem Thema wo auf? Wer spricht bei dieser Konferenz und wer gibt jenen wichtigen Sammelband heraus? Das intellektuelle Feld der Gesellschaft ist gekennzeichnet vom Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit, um Auftritte und um Publikationsmöglichkeiten, in Zeitschriften, bei Kongressen, im Radio und seit den sechziger Jahren auch im Fernsehen. Axel Schildt partizipierte selbst an diesem Feld– wie die Loccumer Reminiszenz zeigte – und er beschäftigte sich in den letzten Jahren seines Lebens damit, eine Geschichte der Medienintellektuellen in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit[1] zu schreiben. Leider hat sein viel zu früher Tod verhindert, dass er das Werk vollendete. Schildts Ehefrau Gabriele Kandzora und Detlef Siegfried haben das voluminöse Werk nun als Torso herausgegeben. Es fehlen die Kapitel über die siebziger und achtziger Jahre sowie ein Schlusswort. Das aber nimmt der Lektüre überhaupt nichts von ihrem außerordentlichen Reiz. In einem Nachwort geben die Herausgeber Auskunft über ihre Grundentscheidungen. Außerdem enthält es eine autobiographische Skizze, in der Schildt über Herkunft und Werdegang[2] berichtet.

Eine Reihe von Rezensionen haben Schildts Werk vielfach in den höchsten Tönen gelobt. Das geschah völlig zu Recht und soll deshalb hier nur bestätigt, aber nicht wiederholt werden. Ich beschränke mich auf Fragen nach der Rolle des Intellektuellen in der Nachkriegsgesellschaft, nach der Darstellung von kirchlichem Einfluss auf das intellektuelle Feld sowie auf die Frage nach dem Verhältnis von Intellektualität und Kunst.

III.

In einer Einleitung beschäftigt sich Schildt mit der Figur des Intellektuellen. Den roten Faden seines Buches bildet die Verknüpfung von Intellektuellen, Medien und Öffentlichkeit (10). Intellektuelle haben die Funktion, Wirklichkeit zu deuten und in ihr Orientierung zu geben. Dazu kommt als zweites Element, dass sie diese Deutungen auch öffentlich verbreiten (22). Damit entwickelt Schildt die alte Ideen- und Begriffsgeschichte sowie die Intellectual History weiter. Wer Wirklichkeit deuten und diese Deutung seinerseits öffentlich machen will, der ist auf die Medien angewiesen (12) und zielt inhaltlich auf die Gesamtgesellschaft (13). Wer sich als Intellektueller am Wert der Aufmerksamkeit orientiert, der ordnet sein Denken den Medien unter. Er fragt sich, wo er publiziert, wo er redet, wie er möglichst viele Leser, Zuhörer und Zuschauer erreicht (16f.). Er fragt sich, wie er Vorträge in Büchern zusammenfassen kann, wie er gesprochene Radioessays in gedruckten Zeitungsartikeln ein zweites (oder drittes oder viertes) Mal unterbringen kann. Das Feld der Intellektuellen ist gekennzeichnet durch eine „heterogene Gruppe von Interpretationsgemeinschaften“ (27), die zusammengehalten werden durch Zeitschriften, Redaktionen, Buchreihen.

Schildt zeigt sich skeptisch gegenüber essentialistischen Definitionen des intellektuellen Typus (28). Es gehört gerade zu den Stärken seines Buches, dass er zeigen kann, wie sich intellektuelle Tätigkeit durch die Veränderung der Zeitschriftenlandschaft, durch den endgültigen Durchbruch des Radios als Medium sowie durch die beginnende Fernsehkultur jeweils erheblich verändert. Nicht zu Unrecht gebraucht er das Bild von einer sich verändernden Bühne, auf der intellektuelle Schauspieler agieren, während unten im Parkett die Zuschauer applaudieren oder in Buhrufe ausbrechen.

Im Anschluss an Pierre Bourdieu spricht Schildt von einem relativ autonomen intellektuellen Feld (29ff.), das aber gleichzeitig auf die Gesamtgesellschaft bezogen ist (32). Er interessiert sich für die Intellektuellen, die in den Medien (Zeitungen, Zeitschriften, Radio, Fernsehen) tätig waren. Andere Intellektuelle legten ihren Schwerpunkt auf Wirkung an der Universität, in einer Partei, in den Kirchen oder Gewerkschaften. Diese sieht Schildt aus seiner Untersuchung ausgeschlossen. Das aber markiert einen ersten Punkt der Nachfrage, denn die Grenze zwischen Medien-Intellektuellen und Intellektuellen anderen Typs kann nicht völlig trennscharf gezogen werden. Was die Religions-Intellektuellen (F.W.Graf) angeht, komme ich darauf gleich zurück.

Entscheidend ist, dass sich deutsche Intellektuelle der Nachkriegszeit über gemeinsam besuchte Internate (Salem, Odenwaldschule, Birklehof), über Religion (Pfadfinder, Jugendbünde) und über Generationenzugehörigkeit (Stichwort: Generationalität) zu Netzwerken zusammenschlossen, innerhalb derer sie sich gegenseitig förderten und in medial wichtige Positionen hievten. Selbstverständlich befehdeten sich diese Netzwerke gegenseitig und versuchten, sich unterein­ander in ihrer Deutungshoheit zu schwächen. Intellektuelle in diesen Netzwerken fungierten als „gatekeeper“ (332), die über Zugang oder Nichtzulassung etwa zu einer Zeitschrift entschieden. Oft war das von Streit und Aufsehen begleitet. An einer Stelle spricht Schildt von „marktübliche[r] Dramatisierung“ (518). Auf den Punkt gebracht: „Ein Intellektueller zeichnet sich in der Regel dadurch aus, daß er mindestens einmal mit einem Verlag oder einer Redaktion gebrochen oder sich zumindest zeitweise zerstritten hat.“ (41)

Mit diesem theoretischen Rüstzeug im Gepäck zeichnet Schildt nun die intellektuellen sozialen Landkarten nach, die sich vom Ende des 2. Weltkriegs bis zu den ausgehenden sechziger Jahren in der Bundesrepublik bildeten. Und daraus können die Leser eine Fülle von verblüffenden Einsichten in die intellektuelle Nachkriegsgeschichte gewinnen. Nur ganz gelegentlich führt dieser Ansatz zu ermüdend langen Namenslisten (z.B. 660). Schildt gelingt es überzeugend, große Linien darzustellen und immer exemplarische Fallstudien in diese Überblicke einzuflechten. Solche Fallstudien gelten der veränderten Rolle der vormaligen Hauptstadt Berlin (90ff.), dem Radio (107ff.), der Verlagslandschaft und der Veränderung intellektueller Zeitschriften (131ff.). Schildt beschreibt die Theorien des christlichen Abendlands der unmittelbaren Nachkriegszeit, den protestantisch geprägten Konservatismus, den Linkskatholizismus, den Aufbruch zu einer neuen Westorientierung ebenso wie den Nationalneutralismus (251ff.), den Antikommunismus sowie die Auseinandersetzung mit den Intellektuellen der DDR, die zögerliche Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit auch unter Intellektuellen (360ff.).

Detaillierte Einzelstudien gelten dem konservativen Revolutionär Kurt Ziesel (428ff.), Rowohlts Enzyklopädie (512ff.), Helmut Schelskys Bestseller ‚Soziologie der Sexualität‘ (521ff.), dem Fall Gerhard Szczesny (606ff.), der innerdeutschen Emigration Ernst Blochs (224ff., 705ff.), dem Hotel Bühler Höhe bei Baden-Baden als intellektueller Sommerfrische (241ff.) sowie dem konservativen Romancier Ernst Jünger (377ff.), um nur einige wenige Beispiele zu nennen.

Jenseits dieser sehr heterogenen Gruppen und Themen stand das Generalthema der skeptischen Nachkriegsgeneration (Helmut Schelsky): die „Ideologie der Ideologielosigkeit“ (487), die selbstverständlich keine solche war. Die Fallstudien machen deutlich, dass die (vorgebliche) Ideologielosigkeit sehr unterschiedlich geprägt war.

IV.

Besonders interessant erscheint die Frage, wie Schildt Intellektualität, Christentum und Kirchen einander zuordnet. In dem in dieser Nummer mit abgedruckten Vortrag Schildts[3] aus der Evangelischen Akademie Loccum wird sehr deutlich, wie er intellektuelle evangelische Publizistik und kirchliche Zeitgeschichte einander zuordnete. Die Publizistik erscheint als integraler Bestandteil der kirchlichen Zeitgeschichte, des Versuchs, erst in den Besatzungszonen, dann in der Bundesrepublik ein neues Selbstverständnis zu gewinnen. In Schildts Jahrzehnte später erschienenem opus magnum dagegen liegt der Akzent auf dem ersten Aspekt. Intellektuelle evangelische Publizistik konzentriert sich danach auf einen „christlich begründeten elitären Konservatismus“ (155; vgl. 270ff.), gefördert von Journalisten wie Klaus Harpprecht, Heinz Zahrnt, Theologen wie den Bischöfen Lilje (73f.) und Stählin sowie Politikern wie Eugen Gerstenmaier. Regelmäßig werden die Evangelischen Akademien als intellektuelle Diskussionsforen erwähnt.[4]

Auf der katholischen Seite gilt Schildts Aufmerksamkeit ebenfalls der konservativen Seite, der christlichen Abendlandideologie (z.B. 205. 256ff.) und ihren Propagandisten wie Romano Guardini, aber diese wird ausbalanciert durch die ausführliche Beschreibung der Tätigkeit des Linkskatholiken Walter Dirks (173ff.), Herausgeber der Frankfurter Hefte und einer der bekanntesten Intellektuellen der Nachkriegszeit.

Auf der evangelischen Seite fehlt weitgehend der linke und der liberale Protestantismus. Im Nachwort wird vermerkt, dass in den Kapiteln über die siebziger und achtziger Jahre Helmut Gollwitzer einige Aufmerksamkeit erfahren sollte (791), aber Gollwitzer war eben auch schon in den fünfziger Jahren prominent, durch seine Rolle bei den Demonstrationen gegen die Wiederbewaffnung der BRD und durch seinen Bestseller über seine Zeit in russischer Kriegsgefangenschaft: „…und führen, wohin du nicht willst“.[5] Zu denken wäre auch an die Rolle, die Martin Niemöller in der Nachkriegszeit spielte, auch wenn man darüber streiten kann, ob er ein Medien-Intellektueller war.[6]

Während bei Niemöller die Publizistik gegenüber politischer und kirchenpolitischer Aktion in den Hintergrund rückte, so verblüfft es doch, dass zwei weitere Theologen bei Schildt nicht vorkommen, die nun mit gutem Recht als Medien-Intellektuelle bezeichnet werden können. Gemeint sind Paul Tillich (1886-1965) und Karl Barth (1886-1968).

Tillich erscheint vor allem wegen seiner Emigrationsgeschichte interessant, die ihn in der Nachkriegszeit zum bewunderten Theologen machte. Bevor er 1933 nach seiner Entlassung durch Nationalsozialisten die Frankfurter Universität Richtung New York verließ, betreute er immerhin die Habilitation Adornos und gehörte dann nach dem Weltkrieg zu den einflussreichen Intellektuellen, die mittlerweile zwar auf Englisch schrieben, aber die Situation in der Bundesrepublik genau beobachteten und öffentlich kommentierten. 1962 wurde Tillich mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet[7]. Und das Netzwerk, das Tillich von Chicago aus zu deutschen Medienintellektuellen pflegte, funktionierte über seinen Freund Adorno weiterhin.

Auch Karl Barth nahm nach dem Ende des Weltkriegs die Situation in Deutschland, wo er bis zu seiner Entlassung in Bonn gelehrt hatte, genau in den Blick. Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt er vermutlich deshalb nicht, weil sein Engagement gegen die Wiederbewaffnung und für die Ökumene suspekt war. Er schaffte es im Jahr 1959 auf die Titelseite des „Spiegel“. Die dazugehörige Titelgeschichte gehört nach meiner Überzeugung zum Besten, was in dieser Zeitschrift je an Theologie zu lesen war.[8] Der sehr viel konservativere Helmut Thielicke, der in Hamburg lehrte, schaffte es wie Barth auf die Titelseite des ‚Spiegel‘, und er schaffte es – mit dieser Begründung – auch in das Buch von Schildt. 

Ich notiere dies nicht, um Defizite aufzuzeigen: Die Kirchen sind nicht das Thema von Schildts Arbeit. Vielmehr geht es, und dem hätte er sicherlich zugestimmt, um die Verknüpfung medienintellektueller Streitigkeiten innerhalb des Feldes mit den gesamtgesellschaftlichen und dann eben auch kirchlichen Entwicklungen auf katholischer wie evangelischer Seite. Und dazu würden dann auf kirchlicher Seite die sehr wichtige Öffnung der katholischen Kirche (Aggionarmento) des II. Vatikanums, die langsame Wendung des Protestantismus hin zur Demokratie und anderes mehr gehören. Erst in den achtziger Jahren, deren intellektuelle Entwicklung Schildt nicht mehr beschreiben konnte, gelang es den evangelischen Kirchen, sich von antidemokratischen Gesinnungen zu befreien. Schildt zitiert einen der berüchtigten Sätze des CDU-Politikers Eugen Gerstenmaier: „Das Menschenbild der Bibel ist auf keine Weise in Übereinstimmung zu bringen mit dem Lobpreis des Menschen, der in den demokratischen Verfassungen üblich geworden ist.“ (720)

V.

Der Medien-Intellektuelle ist kein eingetragener Ausbildungsberuf. Deswegen schillert dieser Begriff, und man kann über Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit streiten. Daraus ergeben sich dann weitere Themen, über die das Nachdenken gelohnt hätte, ohne dass damit irgendeine Kritik an Schildt geübt würde, der eine übergroße Fülle zeithistorischen Materials zusammengetragen und strukturiert hat. Ich will drei Beispiele anführen:

  1. Schildt erwähnt die Darmstädter Gespräche aus dem Jahr 1951 mit Vorträgen von Martin Heidegger und Ortega y Gasset. Heideggers Vortrag „Bauen Wohnen Denken“ zählt nicht nur zu den einflussreichsten und wirkungsvollsten Vorträgen der Nachkriegszeit. Diese Tagung wurde organisiert von Otto Bartning (1883-1959)[9], einem Architekten mit Anfängen im Expressionismus und als Kirchenbaumeister Schöpfer der bekannten Notkirchen. Bartning gehörte zu den Architekten, die über ihre eigene Arbeit reflektierten, darüber schrieben, in der Folge Tagungen organisierten und die als Juroren von Wettbewerben großen Einfluss auf die Baulandschaft der entstehenden Bundesrepublik ausübten. So war Bartning Mitglied der Jury, die über den Wiederaufbau bzw. Ergänzungsbau der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin beschloss. Er war ein ‚technischer‘ Intellektueller, dessen Auffassungen wie insgesamt die Themen Architektur und Stadtplanung in einer Geschichte von Medien­intellektuellen der Nachkriegszeit ebenfalls Aufmerksamkeit verdient hätten.

  2. Es fehlt auch der Name Erhart Kästners (1904-1974), der vor dem Weltkrieg als persönlicher Sekretär Gerhart Hauptmanns arbeitete, wie Helmut Gollwitzer nach dem Krieg einen Bucherfolg mit einem Bericht über seine Kriegsgefangenschaft in Ägypten[10] landete und schließlich lange Jahre als Direktor der Wolfenbütteler Bibliothek amtierte. Kästner war durch sein Verhalten in Krieg und Nationalsozialismus nicht unumstritten, veröffentlichte gleichzeitig nach dem Krieg wichtige Bücher über die christliche Orthodoxie in Griechenland[11]. Er publizierte die ganzen Jahre über im Suhrkamp- und Insel-Verlag, die nun beide ganz und gar nicht für diesen Typus des Medien-Intellektuellen, sondern für die zum stehenden Ausdruck gewordene „Suhrkamp-Kultur“ standen.

  3. Schließlich wäre noch der Philosoph Hans Blumenberg (1920-1996) zu nennen, der nur beiläufig bei Schildt auftaucht (701). Jüngere biographische Arbeiten über den Philosophen konnte Schildt noch nicht kennen[12], aber gerade die Biographie von Rüdiger Zill zeigt sehr sorgfältig die verschiedenen Schritte, die Blumenberg zur Publikation von Texten nicht nur in philosophischen Fachzeitschriften unternahm: von der Lektüre über Notizen auf Karteikarten zu Aufsatz- und Buchprojekten, die er nicht nur als Außenseiter der Suhrkamp-Kultur, sondern auch in Tageszeitungen wie der Frankfurter Allgemeinen und der Neuen Zürcher unterbrachte. Dabei erscheint mir an Blumenberg besonders interessant, dass er sich mit zunehmendem öffentlichen Interesse an seinen Schriften immer weiter aus dieser Öffentlichkeit, der universitären wie der publizistischen, zurückzog.
VI.

Die Qualität eines Buches zeigt sich nicht nur an der Darstellung des Feldes, sondern auch an den Fragen, die es aufwirft. Schildt beschreibt die Intellektuellengeschichte der Nachkriegszeit nüchtern und illusionslos. In der Übernahme von Bourdieus Feldtheorie des Intellektuellen zeigt sich eine gewisse skeptische Einschätzung von deren Rolle. Daraus ergeben sich zwei mögliche Lektüren. Eine ‚schwarze‘ Lektüre würde das Feld nur als die Chronik ideologischer Streitereien wahrnehmen, die von Lautsprechern, Agitatoren und Selbstdarstellern betrieben würde, wobei die Ideologie stets den realen politischen und sozialen Entwicklungen folgt. Eine zweite, ‚weiße‘ Lektüre würde hinauslaufen auf ein positiveres Bild von Intellektuellen; sie misst ihren öffentlichen Interventionen Gewicht bei, traut ihnen eine wichtige Rolle zu bei Orientierung, Aufklärung und Zuspitzung gesellschaftlich relevanter Fragen. Wie gesagt: Schildts Erzählung der westdeutschen Nachkriegs-Intellektuellengeschichte lässt beide Deutungen zu: den stetigen, aber eben kontingenten Wechsel zwischen konservativen und liberaleren Konjunkturen, unvorhersehbar wie das Wetter, oder eine langfristige Entwicklung zu einer liberaleren, westorientierten und demokratischeren Bundesrepublik. Ich neige zur vorsichtigen Favorisierung der zweiten Deutung, denn ich meine, es gab einen Unterschied zwischen der öffentlichen Philosophie Adornos und den rückwärtsgewandten Vertretern des christlichen Abendlandes.

Schildt wollte seine Darstellung offensichtlich mit der Zäsur der Deutschen Einheit beenden. Danach hat sich die Medienlandschaft durch Internet, Emails, Twitter und Blogs nochmals einschneidend verändert. Hätte Adorno sich für Twitter begeistern können? Wohl eher nicht. Schildts Darstellung der Nachkriegsjahrzehnte weist durch die Darstellung der Differenz intellektueller Tätigkeit zur Gegenwart aus, wie sehr sich die Verhältnisse gegenüber der Zeit vor 1989 verändert haben.

Es erhebt sich auch die Frage nach dem Vergleich deutscher Medienintellektualität mit den entsprechenden Feldern in Frankreich (Saint-Germain-de-Prés, die Cafés Coupole und Deux Magots, die Revue des deux mondes, Le monde und Libération), in den USA (Boston, Washington, D.C., New York Times, Atlantic Monthly und New Yorker) und England (Oxbridge, Fleet Street, London Review of Books, Times Literary Supplement). Beim europäischen und beim transatlantischen Vergleich erhebt sich die Frage nach intellektuellen Nationalkulturen.

Am Ende der Einleitung seines Buches schreibt Schildt: „Die einzige Gewißheit, von der wir ausgehen können (…), ist das sogar erhöhte Orientierungsbedürfnis des Publikums, das dem Universal-Intellektuellen ebenso wie dem ‚Experten‘, freilich in neuen Formen, seine Zukunft sichern wird.“ (57) Schildts Gewährsmann Pierre Bourdieu sprach ja von den ‚neuen Geistlichen‘, die die Gesellschaft nötig habe, um Orientierung, Ausrichtung und politische Planung zu gewährleisten. Schildts Anstrengung zeigt die ganze Ambivalenz dieses Bemühens um intellektuelle Orientierung für die Nachkriegszeit.

Anmerkungen


[1]    Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf das im Untertitel angegebene Werk Axel Schildts.

[2]    Dazu zwei Bemerkungen: a. Die Beiträge des Themenheftes „Theologie und Biographie“ von „tà katoptrizómena“ zeigen wie Schildts autobiographische Skizze die enge Verknüpfung von Intellektualität und Lebensgeschichte (vgl. www.theomag.de/129). b. Schildt erwähnt in dieser Skizze, dass er aus dem badischen Pforzheim stammt und sein Vater der „reformierten ‚badisch-unierten‘ Kirche angehörte“ (787). Das ist nicht ganz richtig: Unierte Kirchen wie die badische zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen der Unterschied zwischen reformierter und lutherischer Konfession aufgehoben ist. Der Konfessionsstand der Badischen Kirche ist also uniert, nicht reformiert.

[3]    Axel Schildt, Nach der Katastrophe: Neuorientierung in Kirche und Gesellschaft (1998), tà katoptrizómena, H. 130, 2021, https://theomag.de/130/as01.htm.

[4]    Z. B. 242, 306, 403, 495, 634 u.ö.. Vgl. zu den Evangelischen Akademien: Wolfgang Vögele, Öffentlichkeit in der Abgeschiedenheit. Zum theologischen Auftrag evangelischer Akademien, Informationes Theologiae Europae. Internationales ökumenisches Jahrbuch für Theologie 12, 2003, 149-160.

[5]    Helmut Gollwitzer, …und führen wohin du nicht willst. Bericht einer Gefangenschaft, Gütersloh 1951.

[6]    Zu Niemöller neuerdings ergänzend Benjamin Ziemann, Martin Niemöller. Ein Leben in Opposition, München 2019.

[7]    Zu dieser Rede und zum Begriff der Grenze bei Tillich vgl. Wolfgang Vögele, Grenzgänge. Paul Tillichs Emigration in die Vereinigten Staaten und sein theologisches Reden über die Grenze, in: D.Schößler, M.Plathow (Hg.), Multipolarität und bipolare Konfrontationen. Politische, theologische und weltanschauliche Aspekte transatlantischer Beziehungen, Transatlantische Beziehungen 2, Wiesbaden 2019, 175-203.

[8]    N.N., Kunde vom unbekannten Gott, Der Spiegel 1959, H. 52, https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/42623628. Interessanterweise führt Schildt in seinem Literaturverzeichnis Michael Trowitzschs Buch über Karl Barth auf (865), obwohl dieses eher systematisch-theologisch als zeitgeschichtlich orientiert ist. Dennoch findet Barths Name im Haupttext keine Erwähnung.

[9]    Vgl. dazu Otto Bartning, Vom neuen Kirchbau, hg. von Peter Schüz, Wien Köln Weimar 2019 (1919) sowie Akademie der Künste, Wüstenrot-Stiftung (Hg.), Otto Bartning – Architekt einer sozialen Moderne, Darmstadt Berlin 2017.

[10]   Erhart Kästner, Zeltbuch von Tumilat, Frankfurt 1992 (1949).

[11]   Ders., Die Stundentrommel vom heiligen Berg Athos, Frankfurt 1995 (1956) sowie ders., Der Aufstand der Dinge, Frankfurt 1971.

[12]   Vgl. dazu besonders Rüdiger Zill, Der absolute Leser. Hans Blumenberg. Eine intellektuelle Biographie, Berlin 2020.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/130/wv068.htm
© Wolfgang Vögele, 2021