Badische Erinnerungsorte (alternativ)

Wolfgang Vögele

Die Badische Landeskirche feiert in diesem Jahr 2021 das zweihundertjährige Jubiläum ihrer Unionsurkunde, welche reformierte und lutherische Kirchenteile des damaligen Großherzogtums konfessorisch vereinigte. Um das zu feiern, ist als Festschrift ein Band über „Erinnerungsorte des badischen Protestantismus“ erschienen (U. Bayer, H.-G. Ulrichs (Hg.), Erinnerungsorte des badischen Protestantismus, Neulingen 2020). Erkennbar ist das Vorhaben am berühmten Werk des französischen Verlegers und Historikers Pierre Nora orientiert. Leider wird sein Vorbild überhaupt nicht erreicht. Es dominiert in über der Hälfte der Beiträge dröge klerikale Honoratiorenprosa, die an die Jahrbücher von Heimatvereinen erinnert.

Ich beabsichtige hier nicht, eine Rezension dieses Werkes vorzulegen, aber ein sehr ärgerlicher Punkt soll doch hervorgehoben werden, und dieser besteht in der fast völligen Kulturvergessenheit dieses Werkes.

Architektur: Aus Karlsruhe stammt der Architekt Otto Bartning (1883-1959), der viele Jahre auch in Baden arbeitete. Nach dem Krieg war er verantwortlich für das Notkirchenprogramm. In ganz Deutschland und an prominenten Orten in Baden stehen solche Kirchen – wie übrigens auch andere Gebäude. Wie wenige andere war Bartning in der Lage, Theologie und Architektur zu verbinden, architektonisch und reflektierend.  Über zwei Erwähnungen in den ‚Erinnerungsorten‘ kommt Bartning nicht hinaus. Auch andere bedeutende architektonische Entwicklungen (Wiesbadener Programm, ökumenische Gemeindezentren, z.B. im Freiburger Rieselfeld etc. etc.) werden ausgelassen oder höchstens gestreift. Dass Glauben und Theologie sich in anspruchsvoller Architektur ausdrücken können, wird sträflich vernachlässigt.

Kirchenmusik: Ein einziger Artikel gilt der Geschichte badischer Gesangbücher. Dass die Kirchenmusik mittlerweile zu den tragenden Säulen des Gemeindelebens gehört, bleibt im Band vollständig unterbestimmt. Der badische Kirchenmusiker Martin Gotthard Schneider (1930-2017) hat mit dem Danke-Lied eines der bekanntesten neuen Kirchenlieder geschrieben, die weit über den binnenkirchlichen Raum einflussreich wurden (vgl. hier). Die „Ärzte“ haben dieses Lied parodiert, in Baden wird es ignoriert. Schneiders Name steht nicht im Personenverzeichnis des Bandes. Der badische Pfarrer und Karl-Barth-Schüler Dieter Schnebel (1930-2018) zählt als Komponist zu den bedeutendsten Vertretern Neuer Musik der Gegenwart. Seine Werke werden auf der ganzen Welt aufgeführt. Würde er noch leben, er hätte korrigierende Bemerkungen zu dem merkwürdigen Jubiläumsmotto (Unisono – Vielstimmig eins) machen können.

Kirchenchöre: Überall in der Landeskirche haben Kantoren in jahrzehntelanger Arbeit Oratorienchöre und kleinere Ensembles aufgebaut. Mit Ausnahme von Rolf Schweizer und seinem Pforzheimer Oratorienchor kommen diese Chöre nicht vor: die Heidelberger Studentenkantorei (Peter Schumann), der Bachchor Karlsruhe (Markus Raiser) oder der Chor der Johanneskirche Heidelberg, aus dem ein sehr erfolgreiches Ensemble für moderne Musik hervorgegangen ist (Schola Heidelberg, Walter Nußbaum), bleiben unerwähnt. Gerade der Artikel über die Heidelberger Heiliggeistkirche erwähnt die Kirchenmusik und die Orgel nur in zwei winzigen beiläufigen Formulierungen. Wer je die Begeisterung Peter Schumanns für Orgelspiel und Dirigate erlebt hat, findet diese Nichterwähnung merkwürdig. Und es ist völlig unverständlich, wieso dem Format der großen Oratorienkonzerte, die ihre eigene musikalisch-theologische und damit gemeindliche Bedeutung haben, kein Artikel gewidmet wurde.

Orgeln: Im Rahmen kirchenmusikalischer Bemühungen sind über die Jahrzehnte große Orgeln bekannter Orgelbaufirmen (Klais, Walcker) in badischen Kirchen entstanden. Wichtige Orgelbaufirmen residieren im badischen Raum und pflegen Verbindungen zur Landeskirche. Ich finde darüber in dem Band keinen eigenen Artikel.

Glocken: Passanten und Spaziergänger identifizieren Kirchen schon von weitem am Klang ihrer Glocken. In den Kirchentürmen badischer Kirchen sind bedeutende und historische Glocken aufgehängt und läuten dort bis heute, so zum Beispiel die ‚Türkenglocke‘ in Unteröwisheim oder die Friedensglocke der Karlsruher Christuskirche, eine der größten und am tiefsten klingenden Glocken Baden-Württembergs. Die Glockengussfirma Bachert, eine der bedeutendsten in Deutschland, residierte jahrzehntelang in Karlsruhe. Aber auch über Glocken findet sich in dem Band kein Beitrag, anders als in Noras ‚Lieux de Mémoire‘ (Bd. III,2) und in den ‚Deutschen Erinnerungsorten‘.

Bildende Kunst: In Wehr-Öflingen, außerhalb der Sichtweite Karlsruhes, wirkte jahrzehntelang der Pfarrer und Kunstsammler Paul Gräb (1921-2019). Er sorgte über die gesamte Nachkriegszeit für den Dialog zwischen moderner Gegenwartskunst und Kirche. Daraus entstanden ein riesiges Netzwerk, eine völlig unterschätzte Kunstsammlung und eine große diakonische Einrichtung. Die bekannte Geigerin Anne-Sophie Mutter half mehrfach mit Benefizkonzerten und trug so zu der Anerkennung für Gräb bei, die ihm in diesem Band versagt bleibt. Gräb gelang, was im Streit um die Schreiter-Fenster der Heidelberger Heiliggeistkirche, die wenigstens erwähnt werden, exemplarisch schief ging und wofür die kirchliche Verwaltung die Verantwortung trug. Und es wären hier weitere gelungene und misslungene Projekte zwischen Kirche und Kunst aufzuzählen gewesen.

Literatur: Als theologischer Schriftsteller ist in dem Band immerhin Jörg Erb vertreten, wenn auch der ‚Schild des Glaubens‘ zu den zwar viel nachgedruckten, aber eben doch zu den sehr konservativen religionspädagogischen Unternehmungen der Nachkriegszeit zählt. Daneben finden sich Passagen zu Schmitthenner und Hebel. Aber gerade in Lahr publizierte die religiöse Kinderbuchautorin Regine Schindler, höchst erfolgreich und weit über die badischen Landes­gren­zen hinausreichend. Die Lyrikerin Hilde Domin hatte Verbindungen zur Heidelberger Heiliggeistkirche. Die Zahl der Beispiele ließe sich erweitern. Auch hier wäre ein Artikel, der solche litera­risch-theologischen Verbindungen und wechselseitigen Befruchtungen untersucht, hilfreich gewesen.

Wer nun der Meinung ist, Kirchenmusik, Kirchenchöre, Glocken, Orgeln, Kunstwerke und andere Kulturgüter seien nicht wichtiger als das Gesetzes- und Verordnungsblatt, das selbstverständlich mit einem Beitrag vertreten ist, der werfe den ersten Stein. Die Herausgeber beanspruchen ausdrücklich keine Vollständigkeit, konzedieren, dass Orte, Personen, Ereignisse, Themen fehlen. Aber was hier bemängelt wird, ist das Fehlen einer theologisch relevanten Dimension. Den Vorwurf eines verweichlichten Kulturprotestantismus kann man gegenüber Herausgebern und Autoren dieses Bandes jedenfalls nicht in Stellung bringen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/130/nwv066.htm
© Wolfgang Vögele, 2021