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Magazin für Theologie und Ästhetik


Die Inszenierung städtischer Identität
und die Aufgaben der Kirchen

Eine Problemskizze

Wolfgang Grünberg
I. Städtische Identität im Wandel
1. Die Stadtmitte

Eines der ältesten Stadtsymbole, ist das altägyptische Sonnenrad, also ein Kreis, der durch ein Achsenkreuz zu einem Rad mit vier Speichen geworden ist. Dieses Ursymbol der Stadt meint folgendes: Die Stadt ist die irdische Sonne, von ihr geht Orientierung aus, die Himmelsrichtungen schneiden sich in der Stadt und im Schnittpunkt der Himmelsrichtungen ist die Stadtmitte. In diesem Symbol ist noch deutlich beieinander, was erst in diesem Jahrhundert ganz auseinander fällt. Die geographische Orientierung wird zum formalen Ordnungsmodell. Der Anspruch, dass von der Stadtmitte Orientierung ausgeht, verflüchtigt sich. Im mittelalterlichen Stadtschema gibt es eine selbstverständliche Stadtmitte, nämlich den Marktplatz, an dessen einer Seite das Rathaus, an dessen anderer Seite die Stadtkirche liegt. Politische Macht (Rathaus), ökonomische Macht (Markt) und geistliche Macht (Kirche) bilden zusammen die Stadtmitte. Dieses Dreiergestirn, das sich wechselseitig in Schach hält, also ein ebenso konfliktgeladenes wie kreatives Konkurrenzverhältnis darstellt, ist das dynamische Zentrum, von dem Orientierung ausgeht. Schon die römischen Meilensteine waren orientiert am Forum Romanum, am Marktplatz von Rom. Bis heute sind die Kilometerangaben orientiert an der Stadtmitte und diese liegt am Rathaus. Aber die ökonomische, die ideologische und die politische Macht sind räumlich nicht mehr so eindeutig zu lokalisieren wie im mittelalterlichen Stadtschema. Und dennoch gilt: Die Mächtigen versuchen bis heute die "Stadtmitte" zu besetzen. Das führt zur Aufwertung des Citybereiches, also des Bereiches, der, wie z.B. in Frankfurt oder Hamburg mit dem Stadtbereich innerhalb der alten Festungsmauern bzw. der Wallanlagen zusammenfällt. Von diesem City-Bereich soll bis heute Orientierung ausgehen. Es ist ein Bereich, der zwar nicht mehr die Himmelsrichtungen sichtbar macht, wohl aber Trends, also auch Richtungen aufzeigt.

2. Die Segensmacht der repräsentativen Stadtkirche

Früher waren es die Stadtkirchen, die für die Stadt die Heilsmitte sichtbar machen sollten. Die Stadtkirche ist die bürgerliche Manifestation der in eigene Regie übernommenen religiösen Versorgung der Stadtbewohner im Unterschied zur Bischofskirche. Die Stadtkirche repräsentierte die Heilsmitte der Stadt. Man kann dies glänzend sichtbar machen, z.B. an der Geschichte des Ulmer Münsters, oder von St. Marien in Lübeck, oder vieler anderer klassischer Stadtkirchen. Vermutlich muß man den neogotischen Stil vieler Kirchen, die in der Urbanisierungsphase der großen Städte am Ende des 19.Jahrhunderts gebaut wurden, als beschwörende Geste deuten, unter neuzeitlichen Bedingungen noch einmal eine repräsentative Heilsmitte baulich zu gestalten, in der Hoffnung, dass von dieser repräsentativen Heilsmitte aus auch das Heil und das Wohl und Wehe der Stadt beeinflusst werden würden.

Der Grundgedanke, dass es keine orientierende Stadtmitte ohne eine repräsentative Heilsmitte geben könne, ist übrigens auch für Stadtteile immer maßgeblich gewesen. Die Kirchspiele sind, historisch gesehen, die Keimzellen der Stadtteile. Häufig hat erst das Leitbild der autogerechten Stadt nach der Zerstörung durch den zweiten Weltkrieg im Zuge einer zweiten Stadtzerstörung die Kirchespiele als Grundordnungsmuster der Stadt zerstört und abgelöst. Bis zum Ende des zweiten Weltkrieges war es mehr oder weniger selbstverständlich, dass man sich ein Dorf nicht ohne Kirche, einen Stadtteil nicht ohne Stadtteilkirche, eine Stadtmitte nicht ohne eine repräsentative Stadtkirche vorstellen konnte. Generell ist zu sagen, dass die Städte immer ein Bewußtsein ihrer eigenen Zerbrechlichkeit, ihrer Verletzlichkeit, auch ihrer destruktiven Potenz gehabt haben und schlicht deswegen hatten die Stadtväter ein Interesse daran, dass die Kirche, gleichsam als Mutter, als Lebens-, Heils- und Segensspenderin in das Stadtgefüge zu integrieren war. Man kann bis in Einzelheiten nachweisen, dass Stadtkirchen funktionalisiert wurden, damit von der Macht, die in der Kirche angebetet wird, Segen für das Wohl und Wehe der Stadt ausgehen möge. Das Geschick von Sodom und Gomorrha, also die Zerstörungen von Städten als Folgen eigener destruktiver Potentiale und Handlungsstrategien bleiben unvergessen.

3. Die Demokratisierung des Heilsmonopols

Bis zum Ende des zweiten Weltkrieges kann man einen prinzipiellen Konsens darüber feststellen, dass die Kirchen in der Stadt, in der City, im Zentrum der Stadt oder des Stadtteils eine zentrale Rolle einnehmen mussten. Erst in den letzten 50 Jahren seit dem zweiten Weltkrieg hat sich dies geändert. Ich deute dies so: die Demokratisierung der Heilsvorstellungen hat zum Abschied vom Repräsentationsmonopol der Heilsmitte geführt und zu einer Pluralisierung der Heilsvorstellungen geführt, die jetzt jeweils aktuell inszeniert werden.

Aber damit ist die Idee der Stadtmitte nicht vom Tisch. Im Gegenteil, orientierungslos geworden, kommt dem Citybereich wieder die Funktion zu, "richtungsweisend", "ton(an)gebend", "Maßstab setzend" zu fungieren. Aber dies nicht im Sinne einer statisch feststehenden Repräsentation des Heils, sondern im Sinne eines demokratisch-konkurrierenden Inszenierungsmodells, also im Sinne des Marktmodells: Sollen doch alle kommen, die sich um das Wohl und Wehe der Menschen bemühen und ihre Heilsmittel anpreisen, feilbieten, sichtbar machen!

4. Orientierung durch Inszenierung

Stadtmitte gibt es in diesem Sinne nicht mehr als statischen Begriff, sondern als dynamische Größe. Sie ist derzeit nur zu haben als Inszenierung, als konkurrierende Repräsentation von "Heilsmitteln" durch unterschiedliche "Anbieter". Ich will auf drei Aspekte solcher Inszenierung kurz hinweisen.

Hamburg hat sich, trotz extremer Finanzknappheit, den Luxus erlaubt, die Kunsthalle durch einen repräsentativen Bau von Ungers zu erweitern und einen typischen Bau der 60er Jahre dafür abzureißen. Es ist die Krönung der "Kunstmeile", die von der Alster bis zu den Deichtorhallen, also bis zum Hafenbereich verläuft, und die wie an einer Perlenschnur verschiedene Museen, also Kunsthalle, das Schauspielhaus, das Museum für Kunst und Gewerbe, die Markthalle, Kunstverein, die Deichtorhallen verbindet.

Hier ist, fast in der Tradition alter Zunftstraßen, die Zunft der Künste als zentrale Orientierungsachse innerhalb der Stadtmitte repräsentiert. Diese Kunstmeile muß, um als solche ins öffentliche Bewußtsein zu treten, sich selbst durch wechselnde Ausstellungen, bestimmte Beiprogramme in Szene setzen. Kooperation und Konkurrenz liegen hier dicht beieinander. In Hamburg fungiert die Kunstmeile als Inszenierung von Orientierungsmöglichkeiten, von der Impulse, Maßstäbe, Richtungen ausgehen sollen - also als inszenierte "Stadtmitte".

Das gleiche kann man für den Bereich des Kommerzes sagen. Nach Mailänder Muster ist in der regenverhangenen Stadt Hamburg ein Netz von Passagen entstanden, die vom Design her fast sakrale Gemäuer zu sein scheinen. Es sind Waren des gehobenen Bedarfs, eigentlich das schöne Überflüssige, das in diesen Passagen feilgeboten wird. Der Flaneur, der von einem zum anderen Geschäft bummelnde, verweilende, kaufkräftige Upperclass-Mensch, ist hier das gesuchte Objekt der Begierde der Verkaufenden, wobei fast alles auf Design und Inszenierung ankommt. Es geht nicht nur um primitive Verkaufstechniken, sondern es geht darum, dass der Einzelne sich in den jeweiligen Läden in seinen Sehnsüchten wiedererkennt, also nicht nur etwas kauft, sondern sich selbst als Teil der Inszenierung begreift. Das System der Passagen inszeniert Sehnsüchte und Paradiese mittels Ästhetik und Design für viele Geschmäcker, gleichzeitig und nebeneinander. Auch hier liegen Kooperation und Konkurrenz nahe beieinander. Auch hier werden "Heilsmittel" so feilgeboten, dass man, als Verweilender von Station zu Station voranschreitend, sich in einer bestimmten "Aura" aufgehoben findet, die "Heilendes" und "Heilvolles" verspricht.

In diesen Passagen nur "Konsumtempel" zu sehen und mit Tempelreinigungsstrategien darauf reagieren zu wollen, ist zu kurz gegriffen. Zunächst ist radikal ernst zu nehmen, dass in einer demokratischen Gesellschaft Stadtmitte, d.h. Orientierungsmitte nicht mehr monopolartig von einer Autorität ausgehen kann, sondern um das, was heilvoll, orientierend, maßstabsetzend ist, konkurrierend gestritten werden muß. Anders gesagt, Orientierung muß inszeniert werden und es müssen Menschen geworben werden, die sich diesen Heilsmitteln verschreiben.

Je unübersichtlicher, je apokalyptischer die Weltszenarien insgesamt erscheinen, umso größer scheint das Bedürfnis zu werden, im überschaubaren Bereich der City oder der Stadtmitte auf "Kunst-, Kultur- oder Konsummeilen" zu stoßen, die, religionsphänomenologisch gesprochen, sich als Prozessionswege anbieten.

5. Theologische Deutungsansätze

Die hier vorgetragene Darstellung der Stadtmitte als - demokratischer - Inszenierung unterschiedlicher Orientierungshilfen unterscheidet sich erheblich von der Deutung, die Harvey Cox 1992 in Hamburg vorgetragen hat[1]. Cox beruft sich auf Ludwig Feuerbach, der 1843 schrieb: Unser Zeitalter zieht "das Bild der Sache (vor), die Kopie dem Original, die Vorstellung der Wirklichkeit, den Schein, dem Wesen". Cox: "Wir müssen erkennen, dass der Markt, sobald er vorherrscht, nicht nur überwacht was wir tun - er bestimmt auch, wer wir sind. Er verzerrt unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit, indem er sowohl unsere Sinne als auch unsere Seelen verkümmern lässt."[2] Des weiteren beruft sich Cox auf die Untersuchung von Guy Debord, dessen Buch: "The Society of the Spectacels"[3], dessen Titel in deutsch nicht vorliegt, aber etwa "Gesellschaft als Inszenierung" zu übersetzen wäre. Cox meint, dass wir durch die inszenierten Bildwelten die uns in Reklame, Medien und Schaustellung umgeben, allmählich unfähig werden zwischen "Schein und Sein" zu unterscheiden. Wir begeben uns in die Bilder hinein und bemerken nicht die Veränderung an uns selbst. "Auf diese Weise werde eine Art Massenbewusstlosigkeit gefördert. Dies sei ein echter seelischer Defekt, der nur selten erkannt werde, da ihn fast jeder habe."[4] Schließlich wird die Bulimie, also das unaufhörliche Herunterschlingen von Nahrung und ihr Erbrechen zum Symbol unserer Zeit: "Es ist der vergebliche Versuch, einen inneren Hunger zu stillen"[5]. Es ist nur konsequent, wenn Cox am Ende seiner Ausführungen dazu aufruft, dass wir, wenn wir die Natur unserer Gefangenschaft verstünden, Nein zu unseren "Pharao" zu sagen hätten und "beherzt aufbrechen in die Wüste"[6]. Dies klingt in der Radikalität fast schon wieder ähnlich der "Predigt ans Großstadtvolk", die Richard Dehmel um die Jahrhundertwende veröffentlichte, in der er das Leben in der Stadt vergleicht mit dem freiwilligen Bauen von Zuchthausmauern und in der er mit der Aufforderung schließt: "So geht doch, schafft Euch Land! Land! Rührt Euch! Vorwärts! Rück aus!"[7] Es geht nicht darum, die neueste Wendung einer kapitalistischen Stadtkritik bei Cox hier im Zusammenhang seines eigenen Werkes nachzuzeichnen, sondern darum, ob seine Argumentation analytisch und phänomenologisch korrekt die europäische Stadtsituation trifft. Ich habe hier meine Bedenken. Zwar ist die Kulturpolitik Teil der sog. Standortpolitik geworden, d.h. sie soll helfen, städtische Identität zu fördern und in Symbolen, Ritualen, Strategien hier eine auch nach außen werbewirksame Kontur zu geben. So ist also gar nicht daran zu zweifeln, dass Städte "sich inszenieren" und dabei Bilder und Symbole, kurz ein bestimmtes Zeichenrepertoire als primäres Kommunikationsmittel fungiert. Aber kulturelle Inszenierungen ausschließlich unter den Aspekt der Totalisierung von Markt zu stellen, übersieht, dass in solchen Inszenierungen nicht nur "Lügen" inszeniert werden, sondern dass in ihnen Erinnerungen und Sehnsüchte in gleicher Weise transportiert werden (können).

Die großen stadthistorischen Erinnerungstage, die 50 Jahre nach Ende des zweiten Weltkrieges allenthalben gefeiert wurden, transportieren nicht nur Lügen, sondern wecken Erinnerungen an verdrängte Leiden und geben so auch den Opfern ein Zeugnis lebendiger Erinnerung. Die Historisierungstendenz im gegenwärtigen Stadtdesign und in der Denkmalspflege mag in anderer Weise als Unfähigkeit kritisierbar sein, dem gegenwärtigen Zeitgeist eine angemessene Gestaltung zu geben. Aber auch diese Kritik übersieht, dass im allgemeinen Bewußtsein der Erinnerung, also der Geschichte, wieder eine ungleich stärkere Funktion zugetraut wird, und dass diese Erinnerungskultur in allen Sparten von Bildung, Religion und Kultur ein demokratisch inszenierter Wettbewerb ist, um nach Orientierungshilfen für die gegenwärtigen Zeitläufe zu suchen.

Die Verkaufsstrategien in den Einkaufspassagen, in den "Konsumtempeln" inszenieren Sehnsüchte und Hoffnungen auf das "bessere Leben". Kulturelle Erinnerungen und kommerzielle Stimulierungen der besseren Zukunft sind in einem durchaus vergleichbar: im Ungenügen darin, dass die gegenwärtigen Verhältnisse, so wie sie sind, noch nicht das letzte sein können, sondern in einem Wandel, in potentieller Veränderung bestehen. Dass gleichzeitig die Marktgesetze all diese Aspekte totalisieren und kommerzialisieren, soll damit nicht bestritten werden. Aber davon unberührt bleibt, dass auch unter dem kapitalistischen Diktat, jedenfalls in demokratischen Gemeinwesen, Inszenierungschancen für je ihre Wertevorstellungen auch diejenigen haben, die Alternativen gegenüber gängigen Mustern aufzuzeigen zu suchen. Die Lage ist also nicht so eindeutig, wie Cox vorzugeben scheint. Man denke nur, um ein anderes Beispiel zu nehmen, an die Blockade-Aktionen in Gorleben. Auf der Ebene der Kapitalismustheorie hat der französische Soziologe Pierre Bourdieu gezeigt, dass "Bildung" und "soziale Kompetenz" auch als "Kapital" aufzufassen sind und auf diese Weise deren "Mehrwertstrategien" analytisch beschreibbar werden. Ich bleibe also bei der These, dass weder Stadtflucht noch Tempelreinigungsstrategien angemessen sind, um auf die gegenwärtige Lage zu reagieren. Vielmehr ist es gerade die Aufgabe auch der Kirchen im Prozeß demokratisch konkurrierender Inszenierungen sich selbst nicht zu verweigern, sondern sich selbst zu Wort und zur Sache zu melden. Dies geschieht nicht mehr von privilegiertem Ort aus und nicht mehr im Selbstbewusstsein, "ex cathedra" der "Welt" den Spiegel vorhalten zu können und das "Heil" zu "verwalten". Die demokratische "Einbindung" und "Domestizierung" kirchlicher Einflüsse ist nicht zu bejammern. Wir stehen vor einem neuen Glaubwürdigkeitstest.

II. Die Aufgaben der Kirchen und das Problem der städtischen Identität
1. Kirchen als Teil der "Stadtkrone"

In den Wappen vieler Städte und in den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadtbildern spielen die Kirchtürme und Symbole der Stadtpatrone eine entscheidende Rolle. Wehrtürme, Rathaustürme, Kirchtürme bilden das Ensemble des Stadtgesichtes, des "Prospekts" einer Stadt, die als lebendiges Gemeinwesen vorgestellt, eine individuelle Signatur auch im bildlichen Bereich bekam durch die Form gebende Kraft gerade auch der Kirchen. Die berühmte Stadtansicht Hamburgs von Luhns aus dem Jahre 1663 ist bis heute für die Hamburger Stadtidentität wichtig. Die Türme der Hauptkirchen bilden mit dem Rathausturm die "Stadtkrone", die auch von Stadtvätern und Stadtmüttern der Gegenwart gegen Versuche verteidigt werden, das Stadtbild nur noch durch kommerzielle oder administrative Baukörper bestimmt sein zu lassen. Es gibt ein emotionales Langzeitgedächtnis, das, kollektiv geworden, Teil der Identität des jeweiligen Ortes geworden ist, in dem religiös-geistliche Erinnerungen, gleichsam latenten Hoffnungspotentials aufbewahrt sind. Wiederum am Beispiel Hamburgs: die Elbe und der "Michel", also die Hauptkirche St. Michaelis hoch über dem Hafen, sind fast mythisch anmutende Symbole des Hamburger Selbstgefühls. Die Kontinuität "hanseatischer" Identität über die Jahrhunderte hinweg ist ein Faktum. Alle gegenwärtigen Inszenierungsversuche städtischer Identität in Kunst, Kultur und Kommerz berücksichtigt diesen emotional präsenten Ausdruck des "genius loci" und rechnet mit ihm. Ausgerechnet die Kirchen selbst aber haben, sofern sie sich nur als Gemeindekirchen verstehen und nicht als Stadtkirchen, für diese Zusammenhänge wenig Sinn, weil sich in Ihnen in der Tat ein heterodoxes Selbstverständnis manifestiert: Die "Stadt im Fluss"[8] akzeptiert die Kirchen als öffentliche Symbole und Veranstaltungsorte, aber begrenzt deren Einfluss durch Einbindung in ein gesamtstädtisches Bewußtsein. Ein ausschließlich kirchliches Selbstverständnis kann weder die Öffentlichkeit von religiöser Symbolik angemessen würdigen, noch die Erwartungshaltung vieler "Distanzierter" an diese Kirchen verstehen und dechiffrieren.

2. Prozessionen: Symbolische Markierungen der Stadtlandschaft

Die Aufgabe der Kirchen ist darum, jedenfalls im Horizont der Stadtmitte, selbst einen konstruktiven Beitrag zu leisten, d.h. Orientierung zu inszenieren und dies nicht mehr isoliert sondern, analog der Kunstmeile, durchaus im Konnex, also in der Mischung von Kooperation und Konkurrenz. An zwei Beispielen soll dies noch einmal deutlich gemacht werden.

Leipzig hat mit der Nikolai-Kirche, Dresden mit der Frauenkirche, Hamburg mit der Ruine der Nikolai-Kirche - und die Aufzählung ließe sich beliebig verlängern - Orte, die an politisch und theologisch relevante Zusammenhänge erinnern, von denen bis heute Inszenierungsimpulse ausgehen können. Stadtprozessionen, die an die Stadtzerstörungen erinnern, sind im einzelnen ganz unterschiedlich inszeniert worden, aber sofern die Kirchen diese Inszenierungen städtischer Öffentlichkeit und Erinnerung selber mitgetragen haben, sind hierbei immer die Aspekte von öffentlicher Buße, Mahnung zur Versöhnung, zur Gerechtigkeit, zur Erinnerung an das Leiden unschuldiger Menschen, usw. zum Ausdruck gebracht worden.[9] Über das Individuelle hinaus, haben hier die Kirchen, häufig durch Kooperationen unterstützt, eine wichtige Aufgabe, ihre Anteile an städtischer Öffentlichkeit, an der Bildung von Stadtidentität, zu leisten. Gerade die Beispiele Leipzig und Dresden zeigen, wie nach der "Wende" die symbolische Kraft der Erinnerungskirchen von anderen eingefordert wird, wenn die Kirche in ihrer Enge nur noch gemeindekirchlich argumentieren möchte.

Die Stadtkirchen von Hamburg haben anlässlich der 50. Wiederkehr des Feuersturms d.h. der Stadtzerstörung durch die "Aktion Gomorrha" bei der über 30.000 Menschen ums Leben kamen, 1993 in einem demonstrativen Prozessionsweg und vielen einzelnen symbolträchtigen Aktionen (Buch der Lebenden und Buch der Toten) erheblich dazu beigetragen, Stadtmitte als Inszenierung kirchlich und religiös mitzuprägen.[10]

In der Gegenwart könnte man anlässlich der neuen Armutsproblematik ebenfalls symbolträchtige Inszenierungsmodelle entwickeln, die Orte der Armut, Kirchen, öffentliche Plätze, sowie Orte des Reichtums prozessual vernetzten und auf diese Weise das Gemeinwesen als Ganzes exemplarisch gedeutet wird, in der Hoffnung auf Solidarisierung durch Begehung.

In Hamburg kann man bis heute an der Kirche St. Georg den Zielpunkt eines Kreuzweges erkennen, der einst vom Dom bis nach St. Georg, also vor die Tore der Stadt führte, der, jahrhundertelang begangen, nicht nur religiöse Erinnerungen einte, sondern auch die Stationen gegenwärtigen Leidens mit markierte.

III. Urbane Zeitlandschaften und die Frage nach ihren religiös-symbolischen Strukturierungen.

Die Läuteordnungen der Kirchen spiegeln etwas von den Versuchen in früherer Zeit, Zeitlandschaften zu strukturieren. Nicht nur der Stundenschlag, der das Maß der Zeit markiert war wichtig, sondern die unterschiedlichen Glocken hatten in ihrem Zusammenspiel klar definierte und für jedermann dechiffrierbare Funktionen. Die Totenglocke oder die Hochzeitsglocke, die Vaterunser-Glocke oder das Zusammenspiel bestimmter Glocken markieren nicht nur Arbeits- und Gottesdienstzeiten oder besondere Anlässe, sondern strukturieren dadurch die Zeit. In vorindustrieller agrarischer Welt bedeutete das siebenmalige Läuten der Vaterunser-Glocke automatisch eine Unterbrechung der Arbeit und eine Teilnahme am Geschehen in der Kirche, etwa anlässlich einer Trauerfeier, auch aus der Entfernung.

Johann Baptist Metz hat Religion als "heilsame Unterbrechung" bezeichnet. Angesichts sich überlappender Zeitlandschaften im urbanen Kontext ist völlig neu danach zu fragen, wie die "heilsame Unterbrechung" ihren Ort und ihre Zeit finden kann. Denn bewusst ist von Zeitlandschaften im Plural zu sprechen, da die Ausdifferenzierung der Zeitnutzungen soweit fortgeschritten ist, dass die Markierungspunkte unterschiedlicher Zeitlandschaften nicht mehr erkennbar sind und das dauernde Fließen, die Hektik, die Unstrukturiertheit gerade zur Metapher für großstädtisches Flair geworden ist: "Durchgehend geöffnet". Bei genauerem Hinsehen verführt der Überlappungsprozess verschiedener Zeitlandschaften zum Fehlurteil ewig fließender unstrukturierter Zeit. Dass das Thema der "Zeitlandschaften" heute eine besondere Rolle im öffentlichen Diskurs spielt, hängt mit der Globalisierung wirtschaftlicher Interessen zusammen. Der Kampf gegen die Sonntagsruhe, also gegen das elementare Modell von Arbeitszeit und Ruhezeit, das sich im Tagesschema von Arbeit und Feierabend ja nur wiederholt, dieser Kampf ist in vollem Gange.

Der Begriff der Zeitlandschaft soll hier nur andeuten, wie z.B. neue Arbeitszeitregelungen, aber auch urbane Lebensstile auf Tages-, Wochen-, Jahres- und Lebenszeit bezogen, dazu führen, neue "Zeitzonen" und "Zeitlandschaften" zu bilden, in denen sich unterschiedliche Gruppierungen von Menschen jeweils aufhalten (müssen). Obwohl sich die Zeitstrukturierungen der einzelnen Individuen extrem unterscheiden - früher machte man diese Extreme am Tageslauf eines Schichtarbeiters und eines Professors deutlich - gibt es für das Gemeinwesen als ganzes, doch erkennbare Zeitstrukturierungen, auf die sich z.B. die Zeitpläne des öffentlichen Nahverkehrs einstellen. Wenn man die Zeit- und Nutzungsfrequenzen des öffentlichen Nahverkehrs, im Tages- und Wochenrhythmus visualisieren würde, würde eine "Stadtnutzungsfrequenz" sichtbar, die sich rhythmisch gliedert und urbane Zeitlandschaften (häufig auch noch sektoral aufgliederbar in unterschiedliche Stadtbereiche) sichtbar machte. All dies kann hier nur angedeutet werden, wobei zu beachten ist, dass solche urbane Zeitlandschaften ständig im Wandel begriffen sind und sich auch beeinflussen lassen.

Zu konstatieren ist weiter, dass die Kirche in früheren Zeiten sowohl für den Tageslauf, für die Woche, für das Jahr, für den Lebenslauf, Strukturierungshilfen als geistlich-symbolische Prägungen angeboten und mit ihnen auch gearbeitet hat. Religion als "heilsame Unterbrechung" kann aber, bezogen auf Zeitnutzung und Zeitlandschaften, ganz unterschiedlich in Szene gesetzt werden: Entweder man kümmert sich überhaupt nicht um die veränderten kontextuellen Bedingungen und sieht im Jahresfestkreis der Kirche, in der Heiligung des Sonntags mit dem Gottesdienst am Vormittag und in den Morgens-, Mittags- und Abendsgebetzeiten des Tages gleichsam ewige Muster, die gerade in ihrer Widerständigkeit und Nichtverrechenbarkeit mit den Bedürfnissen und angeblichen Notwendigkeiten gesellschaftlicher Trends ein erinnernd mahnendes Zeichen für die göttliche Bestimmung des Humanums markieren. Ich möchte diese Haltung die eines fundamentalistischen Trotzes nennen, die durchaus Sympathie abnötigen kann und nicht zu verunglimpfen ist, wenn sie nicht naiv traditional ist, sondern reflektiert und nicht intolerant daherkommt.

Man kann aber auch von einem ganz anderen Punkt aus, dieses Problem angehen. Getreu der jesuanischen Weisung, dass der Sabbat um des Menschen willen da ist, kann man vom Leiden der Menschen ausgehen, die unter eingespielten oder aufoktroyierten Zeitlandschaftsbedingungen existieren. Nimmt man diesen Ausgangspunkt, ist es mit der Einheitskultur kirchlicher Feste und Feiertage vorbei und ein ausdifferenziertes System wird an seine Stelle treten müssen.

Da wird vielerorts die "Abend-" oder "Nachtkirche" als Wärmehalle und als Asylort mit Beköstigungsmöglichkeiten für Arme neu entdeckt und die Tradition der Schrippenkirche weitergeführt und aktualisiert (z.B. in Stuttgart, Berlin und anderswo). Da ist die Donnerstag-Abend oder Freitag-Mittag-Kirche zu entdecken, die das Wochenende einläutet, markiert, gestaltet, konturiert. Da werden, in Analogie zu Schulanfänger- und Schulentlassungsgottesdiensten, z.B. mit den Handwerksinnungen Gesellen- oder Meisterprüfungen feierlich in der Kirche begangen (wie in Hamburg), oder da wird auch der Eintritt in den Ruhestand zusammen mit Menschen, die sich darauf vorbereitet haben, besonders gestaltet. All dies sind Beispiele aus der Praxis, die deutlich machen, wie individuelle und kollektive Zeitlandschaften im urbanen Kontext den Kirchen weit mehr Möglichkeiten bieten als sie bislang zu nutzen weiß. Es muß zu denken geben, dass in Managerkursen Meditationsübungen fast pflichtgemäß angeboten werden und die Einrichtung "Kloster auf Zeit" mehr und mehr von Menschen frequentiert wird, die nach neuen Zeitstrukturierungen für ihr Leben suchen, während zugleich viele Stadtkirchen als Orte verwaist und geschlossen sind. Dabei ist die Kirche als Gebäude selbst die Repräsentation der Einheit der Zeitstufen, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umgreift. Epitaphe erinnern an die Vergangenheit, Altar und Kanzel an die Gegenwart und die Bilder vom jüngsten Gericht an die Zukunft. Die Kirchen sind per se Orientierungssymbole in der Stadt. Werden sie die Chancen und Aufgaben erkennen und wahrnehmen? Die sich formierende "Citykirchenvernetzung" ist ein ermutigendes Beispiel.[11]


Zuerst veröffentlicht in:
Kulte, Kulturen, Gottesdienste; Öffentliche Inszenierung des Lebens, Hg. Von P. Stolt, W. Grünberg, U. Suhr, Göttingen 1996


Anmerkungen
  1. H. Cox, Konsumreligion und Bilderwelt, in: S.v. Kortzfleisch, P. Cornehl (Hg.), Medienkult - Medienkultur, Berlin 1993, 93-104
  2. a.a.O., 95
  3. Guy Debord, Society of the Spectacles, New York 2/1994, Ursprünglich: La société du spectacle, 1967
  4. a.a.O., 95
  5. a.a.O., 96
  6. a.a.O., 103
  7. Zitiert nach: Deutsche Großstadtlyrik. Vom Naturalismus zur Gegenwart. W.Roth (Hg.), Stuttgart 1973
  8. E.Kossak, Hamburg Stadt im Fluss, Hamburg 1993
  9. Vgl. Erinnern und Gedenken. Mit Beiträgen aus Coventry, Dresden, Hamburg, Hannover, Kassel und Rotterdam, Hamburg 1991 (Kirche in der Stadt, Bd.1) und die im Erscheinen begriffene Studie von O. Meyer, Vom Leiden und Hoffen der Städte. Öffentliches Gedenken an die Kriegszerstörungen in Dresden, Coventry, Warschau und St. Petersburg, Hamburg 1996 (Urbane Theologie, Bd.1)
  10. Vgl. P.Stolt, Bericht über das Feuersturm-Gedenken in Hamburg (unveröff. Manuskript August 1993)
  11. Vgl. Citykirchen, Bilanz und Perspektiven, Hamburg 1995 (Kirche in der Stadt, Bd.5)

© Wolfgang Grünberg 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 13/2001
https://www.theomag.de/13/wog1.htm