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Magazin für Theologie und Ästhetik


La Machina eroica

Der Petersplatz des Gianlorenzo Bernini

Karin Wendt

Es gibt Bauwerke, die Geschichte so massiv verkörpern, dass sie ihre eigene Konstruktionsgeschichte gleichsam verschlucken. Um so aufschlussreicher kann eine Analyse sein, die über die räumlichen Achsen der Baugestalt eben diese Geschichte zu rekonstruieren versucht. Der semantische Radius eines Baus ist in den meisten Fällen wesentlich größer, als man zu wissen meint.

Massimo Birindellis kritische Analyse des Petersplatzes in Rom, mit dem Titel "Ortsbindung"[1] bereits 1987 erschienen, gehört zu den wirklichen Entdeckungen auf diesem Gebiet. Seine Studie soll daher als eine beispielhafte Re-Lektüre der Geschichte von 'Kirche und Stadtkultur' vorgestellt werden.

Berninis Zeichnung

Am 31. Juli 1656 in der Kongregationssitzung unter Alexander VII erhält der Architekt Gianlorenzo Bernini den Auftrag, eine Zeichnung für die Neugestaltung des Platzes vor St. Peter anzufertigen. Ziel ist es, aus dem uneinheitlichen Ensemble verschiedener Bauphasen der vergangenen 120 Jahre, während derer 20 Päpste im Amt und 10 Architekten am Werk waren, eine architektonische Einheit zu machen. Integrierendes Moment soll ein symmetrisch geschlossener Hauptplatz sein. Nach Vorlage verschiedener Entwürfe entscheidet man sich für den breitovalen Grundriss, weil mit ihm eine Sichtachse in zwei Richtungen hergestellt ist: Er garantiert die Überschaubarkeit des Platzes vom Palastfenster aus, und er garantiert die zentrale Sichtbarkeit eben dieses Fensters vom Borgo Nuovo aus, dem Straßenzug, von dem aus die Pilger kamen, die der Papst segnete. Nimmt man diese Informationen, scheint eigentlich kein Anlass gegeben, die Baukonzeption einer erneuten Untersuchung zu unterziehen. Was Massimo Birindelli, Professor am Istituto di Fondamenti dell'Architettura in Rom, jedoch auffiel und was bis dahin niemand gesehen hatte, waren geometrische Beziehungen, die von der Symmetrie des Gesamtensembles abweichen: Asymmetrien im Verhältnis zum Idealgrundriss, die offenbar nicht zufälliger Natur sind, sondern vielmehr Bezüge kennzeichnen, die weit über St. Peter hinaus in das städtische Gefüge von Rom hinausreichen.

Die Straßen von Rom

Prägend für das barocke Rom ist das sogenannte 'Sixtinische Gefüge', das Gesamt der Straßenordnungen, die im Laufe des 16. Jahrhunderts realisiert wurden. Erklärtes Ziel der neuen Straßen war es, "denen den Weg zu erleichtern, die durch ihre Ergebenheit oder aufgrund ihrer Frömmigkeit oftmals die heiligen Stätten Rom zu besuchen pflegten und dabei besonders die Sieben Kathedralen, die wegen ihres Ablasses und ihrer Reliquien so verehrt werden." [2]

Mit der ersten von Sixtus V. gebauten Straße, der Via Felice, "verband er Borgo Nuovo über die Via Trinitatis mit der Via Gregoriana und schuf damit eine Verkehrsachse, die den mittelalterlichen Stadtkern von außen umgeht und sich vollkommen vom strahlenförmig angeordneten Straßennetz der Antike löst." Der Borgo Nuovo, die Straße nach St. Peter, war zum Segment dieser wichtigen Verkehrsachse geworden. Zugleich fehlten jedoch eindeutige geometrische Beziehungen zwischen beiden: Wer zu Zeiten Berninis vom Borgo Nuovo aus nach St. Peter pilgerte, konnte von der Kirche kaum etwas erkennen.

Sichtweisen

Bis heute gilt Berninis Entwurf - die beiden Kolonnadenhalbrunde und der mittig platzierte Obelisk - als vorbildliche Lösung für eine geschlossene Gesamtanlage: ein barockes Oval, das die Kirche St. Peter in Entgegensetzung zur Stadtumgebung als autonomes Bauwerk definiert. Birindellis Studie zeigt dagegen, dass Bernini sehr wohl auch kontextuell gedacht und mit seiner Architektur gezielt auf die Stadt Rom, speziell auf den Borgo Nuovo, Bezug genommen hat.

So fällt die Achsenidentität zwischen dem Borgo Nuovo, dem nördlichen Korridor und den ersten beiden Abschnitten der Scala Regia - der repräsentative Zugang zu den vatikanischen Palästen - auf [1a]. Weiter erkennt man, dass die Ostfront des Palazzo Nuovo auf einer der radialen Linien des Kolonnadenhalbrunds liegt [2a], und schließlich verläuft die Südfassade des Palazzo Nuovo parallel zu einer der Stirnseiten der Kolonnaden [3a].

La Macchina Heorica

Um diese Beziehungen herzustellen, hat Bernini architektonische Mehrdeutigkeiten in Kauf genommen und systematische Verformungen - 'vitruvianische Regelverstöße' - begangen. "Man stößt auf Anomalien, nur scheinbare Symmetrien, ungewöhnliche Lösungen, versteckte Ausbesserungen und einfach hingenommene brüske Verbindungen, Anpassungen an die Hindernisse, die sich aus vorgängig existierenden Elementen ergaben, und Kunstgriffe, um deren Unregemäßigkeiten zu verbergen. Es ist sein sehr komplexes, mit großer Aufmerksamkeit konzipiertes Netz." In einer Fülle von Einzelanalysen und fotografischen Rekonstruktionen erläutert Birindelli die Entscheidungen des Architekten. Auch für den Laien sofort erkennbar ist etwa, dass der Obelisk leicht nach Norden versetzt ist und damit die eigentliche Symmetrieachse zugunsten des Achsenverlaufs in Richtung Borgo Nuovo vernachlässigt wird. Blickt man auf die Vielzahl der Bezüge, die der Petersplatz zu seiner Umgebung aufbaut, so erschließt sich nach und nach ein asymmetrisches, nach allen Seiten hin erweiterbares städtebauliches System - ein System, in dem sich die Eigensprache der Architektur mit der Herrschaftsform der Kirche verschränkt: die "Machina eroica", von der Bernini gesprochen hatte. [3]

Seit der Borgo Nuovo, die zentrale Verbindungsachse, 1936 durch Mussolini zerstört wurde, liegt die gigantische Maschinerie brach. Heute kann man St. Peter als Überlagerung zweier heterogener Systeme lesen: "Das eine hat den Grundriss, den ausnahmslos alle Reiseführer reproduzieren, das andere kann heute nur noch rekonstruiert werden, denn Borgo Nuovo gibt es nicht mehr. [...] Das eine scheint auf den ersten Blick nichts anderes ins Spiel zu bringen, als 'unsere Erziehung durch die Renaissance' und wird daher ohne Schwierigkeiten wahrgenommen, das andere erfordert davon völlig verschiedene Denkgewohnheiten, zu deren Zensur uns gerade die 'Erziehung durch die Renaissance' verführt."


Anmerkungen

[1] Massimo Birindelli: Ortsbindung. Eine architekturkritische Entdeckung: Der Petersplatz des Gianlorenzo Bernini, übersetzt von Ulrich Hausmann, Braunschweig/Wiesbaden 1987, nicht ausgewiesene Zitate im Text ebd.

[2] Dario Fontana: Della Trasportazione dell'Obelisco Vaticano et delle Fabbriche di Nostro Signore Sisto V, Rom 1590, 1. Buch, S. 87, zitiert nach Birindelli, a.a.O., S. 139.

[3] Vgl. dazu auch Werner Braunfels: Abendländische Stadtbaukunst. Herrschaftsform und Baugestalt, Köln 1976.


© Karin Wendt 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 13/2001
https://www.theomag.de/13/kw9.htm