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Magazin für Theologie und Ästhetik


Editorial


Liebe Leserinnen und Leser,

"Suchet der Stadt Bestes ... und betet für sie zum HERRN; denn wenn's ihr wohlgeht, so geht's auch euch wohl" sagt Jeremia und dieser Satz gilt für Juden, Christen und Muslime, und er ist gleich gültig, ob man sich in New York, Jerusalem oder Kabul befindet. Es ist ein Satz, gesprochen an Menschen im Exil und damit keinesfalls eine Verklärung der wohnlichen Heimat, sondern gesprochen mitten in die Konflikte des Alltags und der Kulturen. Eindrücklich wurde diese Suche nach dem Besten der Stadt mit der einmütigen Reaktion der Kultur, Kulturen und Religionen über alle Grenzen und Differenzen hinweg am 23.09.2001 in New York.

Dem Beitrag der Kirchen zur Stadtkultur ist das aktuelle Heft des Magazins für Theologie und Ästhetik gewidmet. Seit vielen Jahren gibt es auf diesem Gebiet angeregte Diskussionen, praktische Impulse und sogar eigene universitäre Forschungseinrichtungen. Faktisch ist jede religiöse Bildungsinstitution wie auch jede einzelne religiöse Gemeinde - sei sie jüdisch, christlich oder moslemisch - ein Beitrag zur Stadtkultur.

Die AUFSÄTZE enthalten diesmal ältere und neuere Texte aus der akademischen Reflexion:

Hermann Timm verbindet in seinem Beitrag phänomenologische Einsichten zum Grundakt des Heiligtums mit Überlegungen zur Kirche als Architop von Urbanität: die Kirche als Kult-Urort und Kultur-Ort.

Wolfgang Grünberg schreibt über die "städtische Identität im Wandel" und wie die kirchlichen symbolischen Markierungen und Strukturierungen der Stadtlandschaft aussehen könnten.

Wilhelm Gräb geht der Situation der Kirche im kulturellen und religiösen Pluralismus der Gegenwart nach, der Kirche im "Karneval der Kulturen". Die Kirche, so seine Forderung, muß ein Forum der Verständigung zwischen Kulturen und Religionen, Lebensdeutungen und Lebenseinstellungen, Sinnmustern, Normen und Werten bilden.

Eveline Valtink zeigt, wie dies in der konkreten Arbeit einer Evangelischen Stadtakademie aussehen kann. Leisten muß die Kirche vor Ort eine Theologie des Zwischen-Raums.

Zum Heftthema passend ist Eveline Valtinks Reflexion zur protestantischen Bildungsarbeit - entstanden im Auftrag der EKKW als Beitrag zur Kritik des EKD-Impulspapiers "Gestaltung und Kritik".

In den REVIEWS stellt Ulrich Engel die AORTA-Projektionen von Karin Veldhues und Gottfried Schumacher in Düsseldorf vor. Karin Wendt verweist auf Massimo Birindellis kritische Analyse des Petersplatzes in Rom, eine "Re-Lektüre der Geschichte von 'Kirche und Stadt-Kultur'". Andreas Mertin rezensiert Margaret Wertheims populärwissenschaftliches Buch "Die Türe zum Cyberspace", das der Kulturgeschichte des Raums nachgeht.

In den MARGINALIEN geht es um eine Eigenart des Films, die gegenwärtig auf dem Prüfstand steht: das Happy End. Julia Helmke wandelt "auf den Spuren eines gemeinen Filmtricks".

In den SPOTLIGHTS finden Sie wie gewohnt Kritiken und Vorstellungen von Videoclips und Netzauftritten aus der Feder von Andreas Mertin und Karin Wendt.


Der Beitrag der Kirchen zur Staatskultur hätte dieses Heft beinahe auch überschrieben sein können. Der Terror in den USA bildete den traurigen Anlass für das staatstragende Gespräch der Religionsführer Deutschlands mit dem Kanzler der Republik. Dass Bundeskanzler Schröder die Vertreter der Religionen eingeladen hatte, lag wohl weniger daran, dass der Islam und die Muslime in Deutschland zur Zielscheibe der Kritik zu werden drohten, als vielmehr daran, dass dem deutschen Staat - anders als etwa den Amerikanern - ein Konsens-Modell für nationale Konflikte fehlt und seine Repräsentanten auf so etwas wie eine religiöse Grundierung hoffen. Man wird dahinter nicht zu Unrecht einen weiteren Schritt zur bewußten Ausbildung einer "civil religion" in Deutschland entdecken können. Civil religion "soll Mindestelemente eines religiösen oder quasi-religiösen Glaubens bezeichnen, für den man bei allen Mitgliedern der Gesellschaft Konsens unterstellen kann. Hierzu gehört die Anerkennung dessen, was man in der deutschen politischen Diskussion gegenwärtig 'Grundwerte' nennt, also die Anerkennung der in der Verfassung kodifizierten Wertideen." (Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung III, S. 293.) Die Funktion einer "civil religion" können konsequenterweise nur solche Religionen ausüben und stützen, die für jedermann zugänglich sind und niemanden ausschließen. Nicht "die" Religionen waren zum Gespräch erwünscht, sondern nur bestimmte.


Was am 11. September 2001 geschah, hat Auswirkungen auch auf die Diskurse im Kontext von Theologie und Ästhetik. Die auch von manchen Theologen gepflegte Redeform vom Kino als Religionsersatz wurde durch die Wirklichkeit in Frage gestellt. Hollywood stellte unmittelbar nach der Katastrophe seine Arbeit ein und seine führenden Regisseure bekundeten, künftig würden Kinoproduktionen wohl anders aussehen als zuvor. Offensichtlich eignet sich das Kino nicht zur Kontingenzbewältigung, was Anhänger funktionaler Religionstheorien bei ihren Bezugnahmen auf alternative Sinnstiftungen künftig mitbedenken müssten. Auch die Popmusik wurde unmittelbar nach dem Anschlag (freiwilligen) Restriktionen unterworfen. Titel wie "First we take Manhattan (than we take Berlin)" werden nicht mehr ausgestrahlt, angesagt ist nur noch, was nicht anstößig ist bzw. nicht assoziativ mit Manhattan oder New York verknüpft werden kann. Die Popmusik wird wohl patriotischer werden.

Konsequenzen haben die Geschehnisse vom 11. September aber auch für die Ästhetik allgemein. Die Bilder der das World Trade Center durchschlagenden Flugzeuge haben die Wahrnehmung verändert. Vermutlich nur mit den ersten Bildern von Atombomben- oder Wasserstoffbombentests ("Heller als tausend Sonnen") oder den brennenden Städten des zweiten Weltkriegs vergleichbar (aber wer wollte diesen Vergleich ziehen?) wurde die Ästhetik des Schreckens - die keine Ästhetik der letzten Dinge war - um ein weiteres Szenario ergänzt. Ob und wie sich die Bilder ändern werden, wie die Bildende Kunst, die Literatur, die Musik auf die Geschehnisse reagieren, ist noch nicht absehbar. Aber eine Ausstellung wie seinerzeit zu Ernst Blochs 90. Geburtstag unter dem Titel "Apokalypse. Ein Prinzip Hoffnung" zeigt, dass die Kunst immer auf derartige Ereignisse reagiert hat. Eines der Bilder dieser Ausstellung ist Pieter Brueghels aquarellierte Federzeichnung "Die dulle Griet" (1562).