Lesen als Königsweg

Rüdiger Zills Blumenberg-Biographie

Wolfgang Vögele

Rüdiger Zill, Der absolute Leser. Hans Blumenberg. Eine intellektuelle Biographie, Berlin 2020

Das Foto auf dem Titelumschlag zeigt den Philosophen mit Sonnenbrille und einer dieser Jacken, die selbst in Schwarzweiß noch rentnerbraun wirken. Im Hintergrund erstreckt sich ein Gletschersee, dahinter wiederum das Matterhorn – ein typisches Familienfoto aus der Zeit der frühen Bundesrepublik. Auf dem Titel ist weniger der Philosoph als der Reisende und Familienvater zu sehen.

Der Philosoph Hans Blumenberg (1920-1996) gehört trotz seines immensen publizierten Werks zu den geheimnisvollen Gestalten der Philosophiegeschichte der deutschen Nachkriegszeit. Blumenberg gehörte zu der von Helmut Schelsky so apostrophierten skeptischen Generation, steht aber nicht als ihr Vertreter, sondern als ein Solitär, der sich einen eigenen Weg durch Philosophie und Universität bahnte. Zum hundertsten Geburtstag Blumenbergs sind eine Reihe von neuen Texten erschienen, von den insbesondere die Biographie Rüdiger Zills eine ganze Reihe von offenen Fragen aufklärt und der Mythenbildung, die vor allem durch einen sehr mittelmäßigen, also schwachen Roman über den einsamen nächtlichen Karteikartenschreiber befördert wurde, entgegenwirkt.

Um es vorweg zu sagen: Ich war von diesem Buch begeistert, und ich habe es in einem Zug gelesen, weil viele Fragen zur Lebensgeschichte des geheimnisumwitterten Philosophen beantwortet werden. Eine für den Theologen entscheidende Frage allerdings bleibt offen. Das Verhältnis Hans Blumenbergs zur Religion wird nicht richtig aufgeklärt. Blumenbergs Vater war katholisch und tief gläubig. Er nahm seinen Sohn sogar nach Münster mit, zur Bischofsweihe des Grafen von Galen. Blumenberg studierte nach dem Abitur während des Zweiten Weltkriegs zuerst Theologie an zwei katholischen Hochschulen, in St. Georgen und Paderborn. Danach werden wachsende Schwierigkeiten mit dem katholischen Glauben vermeldet, aber eben nicht erklärt. Zill schreibt von einem heftigen Streit Blumenbergs mit seinem Vater, hüllt sich aber über Details in Schweigen. Was die Familie angeht, so könnte diese Zurückhaltung in – berechtigter – Diskretion gegenüber dem allzu Privaten begründet sein. Zill schreibt überhaupt sehr wenig über den Einfluss der Familie, der Ehefrau und der Kinder. Was die Religion angeht, so erscheint mir allerdings dieses Schweigen nicht angemessen, zumal noch eines der letzten Bücher des Philosophen, ‚Matthäuspassion‘, eine formidable Religionskritik darstellt.

Blumenberg wirkte offensichtlich von Anfang an ein wenig verschroben und prätentiös und wirkte an diesem Selbstbild auch aktiv mit. Zill liefert dafür keine psychologischen Erklärungen, aber ein wenig mehr Aufmerksamkeit hätte dieser privaten und psychologischen Seite Blumenbergs schon gelten können.

Blumenberg bestand das Abitur als Jahrgangsbester an einem Lübecker Gymnasium. Weil er als ‚Halbjude‘ galt, durfte er bei der Abschlussfeier die Abiturrede nicht halten, und der Direktor des Gymnasiums verweigerte ihm bei der Überreichung des Zeugnisses den Handschlag, was dafür sorgte, dass das Verhältnis des Philosophen zu seiner Heimatstadt sein ganzes Leben hindurch gespannt blieb.

Rüdiger Zill hat seine Biographie dreigeteilt. Im ersten Teil beschreibt er Blumenbergs Lebensgeschichte, im zweiten Teil den Prozess des Verfassens philosophischer Monographien, Essays und Aufsätze, beginnend mit der weitverzweigten Lektüre über Exzerpte, die Einarbeitung dieser Notizen in einen Zettelkasten, die Konzeption von Gliederungen bis zum Kontakt mit Lektoren, Verlegern und Zeitungsredakteuren, der bevorzugt brieflich und telefonisch stattfand. Diesen zweiten Teil erscheint als außerordentlich erhellend. Der dritte Teil schließlich ist als eine Ideengeschichte des Blumenbergschen Denkens konzipiert. Aber Zill orientiert sich nicht an der Reihenfolge der großen Werke und ihrem Inhalt, sondern an vier Aufsätzen aus vier Jahrzehnten wissenschaftlicher Tätigkeit, gewidmet den Themen Nihilismus und Hermeneutik, Technik und Rationalität, Distanz und Metaphorologie, sowie Umwege und Anekdoten. Diese Aufsätze dienen Zill als Brennpunkte, von denen her sich die Blumenbergschen Denkweg erschließen und in eine Reihenfolge bringen lassen. Das ist aufschlussreich, zum Beispiel im Blick auf die bisher so noch nicht richtig wahrgenommene Bedeutung der Technik im Werk des Philosophen. Trotzdem kann Zills Paraphrase eine Werkgeschichte der Monographien Blumenbergs nicht ersetzen. Und vollständig widerlegt der Autor damit nicht den Einwand der Kritiker, Hans Blumenberg sei eher erzählender Philosophiehistoriker als argumentierender Philosoph gewesen. Blumenberg-Leser kennen die Erfahrung, dass der Philosoph in seinen Monographien kein feststehendes Programm verfolgt, sondern sich in dauernden Abschweifungen zu verlieren scheint, die erst im Gesamtzusammenhang der Lektüre ihren vollen Sinn zu entfalten scheinen. Das macht die Lektüre der Schriften Blumenbergs allerdings mühsam. Weil sie den roten Faden verlieren, drohen die Leser zu verzweifeln.

Das Vorurteil lautet: Blumenbergs Werke sind stets Fundgruben für konzise Gedanken und Aphorismen, aber ihnen lässt sich keine Ordnung, kein von Anfang bis Ende schlüssiger Gedankengang und schon gar keine Denkstruktur entnehmen. Zill als Anwalt Blumenbergs erklärt ausführlich die Methodologie des Umwegs und die sprachliche Suche nach zunächst unpräzisen Metaphern, die sich erst später zu konzisen Begriffen verdichten.

Seit seiner Berufung an die neu gegründete Reformuniversität Bochum im Jahr 1965 zog sich Blumenberg immer stärker aus Öffentlichkeit und Universität zurück. Zunächst hielt er nur noch Vorlesungen und gab keine Seminare mehr. In Münster legte er die Vorlesungen auf Randstunden am Freitagnachmittag. Als Emeritus wurde er zum Eremiten im eigenen Haus und zum Nachtarbeiter, der seine Texte in die berühmt gewordene Stenorette sprach. Zill führt diesen Rückzug sehr allgemein auf Konflikte in der Arbeitsgruppe ‚Poetik und Hermeneutik‘ und auf die Studentenunruhen von 1968 zurück. Blumenberg, so Zill, fühlte sich mit der Verwaltungsarbeit an der Reformuniversität Bochum überlastet und zog sich zurück, um mehr Zeit für seine eigene Schreib- und Denkarbeit zu finden. Das erscheint als plausibel, und doch fehlen hier Bemerkungen zur Psychologie oder Persönlichkeit des Philosophen, zu seinen politischen und bildungspolitischen Vorstellungen. Erklärungsbedürftig scheint die offensichtlich grundlegende Vorsicht und Empfindlichkeit, das Unsichere im Umgang mit anderen Menschen, Verlegern, Redakteuren, Kollegen und Studenten.

Zill nennt das Denksystem Blumenbergs eine „umfangreiche literarisch-theoretische Denkmaschinerie“. „Die Arbeit an dieser Maschinerie war eine an und mit Texten und erzeugte ihrerseits wieder Texte. Blumenberg lebte intensiv mit seinen Lektüren und in der Arbeit an seinen Manuskripten.“ Blumenberg dokumentierte Lektüren und Exzerpte in Lese-, Publikations-, Vortrags- und Vorlesungslisten. Er führte sogar eine „chronologische Auflistung der durchpaginierten Karteikarten“ (8f.) Es ist merkwürdig, wie sehr sich Blumenberg auf das Lesen konzentriert hat. Zill berichtet weder von Opern- noch Konzertbesuchen. Vor die Kinoleinwand scheint er sich auch nicht gesetzt zu haben. Er war ein reiner Leser und entwickelte für sich einen besonderen Kreislauf von Lesen und Schreiben. Beide Tätigkeiten gingen ineinander über.

Als das entscheidende Thema des Philosophen identifiziert Zill den „Weltbildverzicht“ (261, der Begriff von Blumenberg). Wer die Kästchen und Schubladen einer festen Weltsicht überwindet und sich daraus befreit, der errichtet erst die Lichtungen in einer unübersichtlichen intellektuellen Welt, innerhalb derer er sich frei für Werte und Prinzipien seines Lebens entscheiden kann. Blumenberg arbeitete daran, solche Weltbilder sprachlich (Metapher) und philosophisch zu verflüssigen. Auch die Religion redet ja im Übrigen von der Freiheit, in der Tradition des lutherischen Protestantismus von der Freiheit gegenüber und der Erlösung aus einer sündigen Welt. Deswegen erscheint es umso mehr als Versäumnis, wenn Zill der Theologie oder Anti-Theologie Blumenbergs so wenig Beachtung schenkt.

Blumenberg mochte die selbstgerechte linke Kritikkultur nicht, so wie er sich in Bochum der studentischen Protestkultur entfremdete. Aber Zill beschränkt sich in diesem Punkt leider auf allgemeine Urteile und belegt diese nicht richtig mit Beispielen. Stärker wirkt Zills Arbeit bei der Frage nach Blumenbergs Grundthemen. Der Mensch ist für ihn ein Wesen, das zu sich selbst Distanz nehmen kann. Distanz bedeutet Verlust der Unmittelbarkeit. Später steigert Blumenberg den Begriff der Distanz zum erwähnten ‚Umweg‘. Der Mensch ist das Wesen, das nicht auf geradem, rationalem Weg zum Ziel gelangt, sondern sich Abschweifungen und Umwege gestattet, um so eigene Identität herauszubilden. Kultur ist danach die Summe der Umwege, die Menschen gegangen sind.

An Zills Buch wird deutlich, wie sehr Blumenberg offensichtlich aus eigener Entscheidung seine Biographie in eine produktive Lese- und Schreibkultur umgeprägt hat, deren philosophische Ergebnisse noch in der Gegenwart viele Leser zu fesseln und zu faszinieren vermögen. Die verblüffende Menge der Publikationen Blumenbergs wird aber ausbalanciert durch Folgekosten dieser Grundentscheidung, die Zill andeutet, aber nicht in ihrer vollen Reichweite entfaltet. Trotzdem ist es ein hochspannendes Buch, das in jedem Fall die Lektüre lohnt.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/129/wv045.htm
© Wolfgang Vögele, 2021