Vorlesung

Ein Blick ins 14. Jahrhundert

Andreas Mertin


Laurentius de Voltolina: Aristoteles hält eine Vorlesung vor Studenten (Ausschnitt aus einem "liber ethicorum" des Frater Henricus de Alemannia = Heinrich von Friemar d. Älteren), Miniatur, Blattgröße 18,0 x 22,0 cm

Sozusagen ein Spiel über die Bande ist diese Miniatur aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, denn es ist nicht auf den ersten Blick klar, was eigentlich – abgesehen von der Tatsache, dass es sich um eine historische Vorlesung handelt – der Darstellungsgehalt des Bildes ist. So betiteln einige Webseiten wie etwa die Wikipedia den Bildinhalt als „Henricus de Alemannia vor seinen Schülern“ und datieren das dargestellte Ereignis somit in die ersten Jahre des 14. Jahrhunderts.

Denn in dieser Zeit schrieb Henricus de Alemannia (= Heinrich von Friemar d. Ältere) gerade seine Kommentare zu den „liber ethicorum“ des Aristoteles und lehrte zeitgleich über sie an der Universität in Paris. In einer späteren Ausgabe seines Kommentares von 1380 findet sich dann die von Laurentius de Voltolina gemalte Miniatur. 1380, als die Ausgabe erschien, war Henricus de Alemannia aber schon vierzig Jahre tot.

Wahrscheinlicher ist es daher, dass nicht Henricus de Alemannia während seiner Vorlesung in Paris gezeigt wird, sondern dem Philosophen Aristoteles (384-322 v.Chr.) eine mittelalterliche Vorlesung untergeschoben wird. Dementsprechend benennt das Berliner Kupferstichkabinett das Bild mit „Aristoteles hält eine Vorlesung vor Studenten“. Insbesondere der Turban des Dozenten – den man kaum einem deutschen Wissenschaftler zugeordnet hätte - lässt das plausibel erscheinen. Für eine antike Vorlesung irritierend sind aber die gotischen Fenster des Raumes, die zu Aristoteles und dem Lykeion in Athen wenig, zur Sorbonne aber schon eher passen. Da aber der Maler des Bildes, Laurentius de Voltolina, der Stadt Bologna zugeordnet wird, dürften wir hier aller Wahrscheinlichkeit eine imaginäre bzw. eklektizistische Szene aus einem Vorlesungssaal der Universität Bologna mit Aristoteles als Dozenten vor Augen geführt bekommen. Hier hatte Henricus de Alemannia sein Studium begonnen, bevor er nach Paris und dann nach Erfurt wechselte. Die Frage, wo die Vorlesung stattfindet, ist deshalb von Belang, weil die Antwort für die Deutung der dargestellten Studierenden bedeutsam ist. So war es zum Beispiel in Bologna für Frauen durchaus erlaubt, zu studieren, in Paris dagegen nicht. In Bologna bezahlten die Studierenden die Dozenten, in Paris wurden die Dozenten von der Kirche bzw. dem Staat bezahlt, was ein anderes Verhältnis von Lehrenden und Lernenden zur Folge hatte.


Die Studierenden

Der Blick auf die Studierenden zeigt uns fast schon eine moderne Charakterkunde des Verhaltens in Vorlesungen. Da gibt es die bildungsbeflissenen Lesenden, die unermüdlich Mitschreibenden, die am Mund des Dozenten Hängenden, die vom Anblick anderer Studierender Faszinierten und dadurch Abgelenkten, die meditativ in sich selbst Versunkenen, die Miteinander-Flüsterer, die penetranten Vorlesungsstörer und natürlich – die Schläfer. Würde man sich in der mittelalterlichen Kleidungskunde besser auskennen, könnten vermutlich auch anhand der Kleidungsstücke, der Schals und der Kopfbedeckungen noch weitere Charakterisierungen vorgenommen werden.

Wenn man bedenkt, dass die Vorlesungen im Mittelalter in aller Regel frühmorgens, etwa zwischen 5:00 und 6:00 Uhr begannen, dann kann man Verständnis dafür zeigen, dass der eine oder andere unter den Anwesenden etwas ermüdet die Vorlesung dazu nutzt, eventuell verpassten Schlaf nachzuholen. Gleichzeitig dürfte aber auch schon damals die Monotonie mancher Vorlesungen – zumal, wenn sie vom Blatt abgelesen wurden – das Erlöschen konzentrierter Aufmerksamkeit befördert haben.

Die Studierenden auf den letzten beiden Bänken zeigen sich mit einer Ausnahme allesamt wenig konzentriert auf das Vorlesungsgeschehen. Neben dem Schlafenden haben wir zwei Paare, die sich unterhalten und schon rein körperlich demonstrieren, dass sie sich für die Vorlesung nicht interessieren. Gespannte Aufmerksamkeit sieht anders aus.

Andererseits sehen wir in der vorletzten Bank auch einen Studierenden, der die Vorlesung offenbar mitschreibt (wenn er nicht einen Liebesbrief liest). Derartige Mitschriften waren auch damals nicht selten, gab es doch vor Gutenberg keine gedruckten Schriften und wenn es Abschriften gab, waren sie für die Studierenden oft unerschwinglich. In den Universitäts-Bibliotheken konnten sie vermutlich auf derartige Kopien der historischen Texte zugreifen, auf die Bücher ihrer Dozenten eher nicht. Also schrieb man mit. Von Martin Luthers Vorlesungen, die ja bereits im Gutenberg-Zeitalter stattfanden, gibt es einige studentische Nachschriften, von der Römerbrief-Vorlesung von 1515/16 insgesamt fünf.

Von den zehn Studierenden der ersten beiden Bankreihen direkt unter dem Dozentenpult haben zumindest sieben brav ein Skript vor sich (vermutlich den auszulegenden oder zu kommentierenden Text nach mittelalterlicher Universitätstradition), vier blicken neugierig direkt auf den Dozenten, vier sind in das Studium ihrer Skripte vertieft. Alle Studierenden tragen irgendwelche Kopfbedeckungen und seien es Perücken. Es sind keine historisierenden Kleidungsstücke, sondern zeitgenössische.

Vergleicht man sie mit dem ungefähr zeitgleich (1378-84) entstandenen Fresco der Beerdigung der Hl. Lucy im Oratorio di San Giorgio in Padua, auf dem Altichiero da Zevio (1330-1390) zeitgenössische Kleidungsstücke einsetzt, weil er auch konkrete Zeitgenossen im Bild darstellt, dann ergeben sich auffällige Überschneidungen.

Über die Bedeutung der verbleibenden Gruppe von Zuhörenden links unten, die quer zu den anderen platziert sind, bin ich mir nicht im Klaren. Entweder sind es weitere Studierende, aber es könnten auch Kollegen bzw. Assistenten des Dozenten sein.

Insgesamt aber wird die Atmosphäre einer Vorlesung an einer Universität ganz gut eingefangen – eigentlich sogar bis ins 21. Jahrhundert. Ja, der Kleidungsstil hat sich geändert (nicht aber dessen zeichenhafter Charakter), die Zusammensetzung der Zuhörenden auch – insbesondere was die Verteilung der Geschlechter betrifft. Ansonsten viel Kontinuität seit dem 14. Jahrhundert – in Bologna gibt es immerhin bereits seit 1239 Vorlesungen von Frauen an der Universität und es spricht einiges dafür, dass hier zumindest zwei studierende Frauen abgebildet sind.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/129/am720.htm
© Andreas Mertin, 2021