Schach in Gelee (Teil II)

Bemerkungen zum Verhältnis von öffentlicher Theologie und politischer Ethik der Macht, dargestellt am Beispiel der Serie ‚House of Cards‘ und der Tudor-Romane Hilary Mantels

Wolfgang Vögele

VII.      Frank und Crumb: Alte weiße Männer im Vergleich

Selbstverständlich ist es schwierig, eine Fernsehserie und eine Romantrilogie miteinander zu vergleichen. Aber mir kommt es auf die politische Ethik an, die jeweils am Beispiel der Hauptfiguren demonstriert wird. Dabei fällt auch der zeitliche Unterschied von mehreren Jahrhunderten nicht so sehr ins Gewicht. Denn Mantel hat Thomas Cromwell sozusagen mit einem modernen Bewusstsein aufgepumpt, das ihn zum pragmatischen Modellpolitiker stilisiert, der sich von Brexiteers, politischen Glücksspielern und korrupten Volksvertretern der Gegenwart und der Vergangenheit unterscheidet. Umgekehrt ist Frank Underwood – siehe das Schlachtenpanorama mit den Zinnsoldaten, siehe seine philosophischen Räsonnements – mit genügend historischem Bewußtsein ausgestattet. Das macht ihn zur idealen Vergleichsfigur für Cromwell, denn Underwood denkt kontinuierlich darüber nach, wie sich seine neue Politik vom aufgeklärt-republikanischen Politikbegriff der amerikanischen Gründungsväter unterscheidet.

‚House of Cards‘ ist aus der Perspektive des Präsidenten, Machthabers inszeniert, während Cromwell das Geschehen aus der Perspektive des Beraters für den Machthaber gestaltet. Die unterschiedlichen Perspektiven ändern nichts daran, dass beide vor ähnlichen Aufgaben stehen, wenn sie sich an der Macht halten wollen. Sie achten auf den Einfluss, den Konkurrenten, Gegner und (vermeintliche) Freunde auf das Geschehen und die öffentliche Meinung nehmen. Sie müssen also Analytiker eines politischen Machtgefüges sein. Darin haben es beide zu großer intellektueller Virtuosität gebracht. Und das gilt, auch wenn Frank Underwood eher Heinrich Manns Henri IV. oder Marguerite Yourcenars Hadrian gleicht und Cromwell eher dem biblischen Joseph.[79]

Beide, der Präsident und der Berater, haben ein tiefes Gespür dafür, dass die Handlungstiefe der Vernunft nicht besonders weit reicht. Und das gilt, obwohl sie sich beide, soweit es eben möglich ist, dieser Vernunft bedienen. Aber sie überschätzen die Vernunft nicht als intellektuelles Instrument oder als Medium einer Geschichtsphilosophie, in der es genügen würde, die intellektuellen Mittel zur Verwirklichung einer Utopie bereitzustellen.

Sie missverstehen die Vernunft nicht als Medium der Einspurung in den Fortschritt. Sie haben beide eine tiefe Intuition für die übermächtige und unberechenbare Ambivalenz der Wirklichkeit. Sie wissen darüber Bescheid, dass sie Dinge in der richtigen Richtung auf den Weg bringen können, aber sie wissen auch, dass in der Wirklichkeit gute politische Entwicklungen auch scheitern können.

Dieses Gefühl für die Ambivalenz der Wirklichkeit wird ergänzt durch ein Misstrauen gegenüber anderen Personen und ihren Interessen. Beide, Cromwell wie Underwood, lassen in ihrer unmittelbaren Nähe nur wenige Personen zu, denen sie unbedingt vertrauen. Sie rechnen stets damit, dass diejenigen, mit denen sie kooperieren, eher ihre eigenen Interessen verfolgen könnten als sich auf gegebene Zusagen zu verlassen. Beiden eignet ein gleichsam lutherisches Verständnis von der Verderbtheit, theologisch gesprochen der Sünde des Menschen, auch wenn sich diese Diagnose aus Erfahrung und Beobachtungen und nicht aus biblischer Lektüre speist.

Beider Politikbegriff, der in diesem Abschnitt verglichen werden soll, speist sich aus diesen drei Grundannahmen: geringe Reichweite der Vernunft, Ambivalenz der Wirklichkeit und Bosheit/Verderbtheit des Menschen. Beide Male wird eine Theorie der Politik entfaltet, die das Zustandekommen ethischer Entscheidungen erklärt. Beide Männer scheitern schließlich. Es kann offenbleiben, ob sie an sich selbst oder an den Verhältnissen scheitern.

Beide Male stehen zwei alte weiße Männer gegen den Rest der Welt. Diese Konstellation wirkt noch sehr alteuropäisch. Weder Mantel noch die Macher von ‚House of Cards‘ nehmen in den Blick, dass gleichzeitig mit Underwood und Cromwell die anderen Mitspieler und Mitspielerinnen ja ähnliche strategische Überlegungen anstellen. Wenn an der Serie und am Roman, die ich beide auf ihre Weise für großartig halte, also etwas zu kritisieren wäre, dann die verengte Perspektive auf einen Mann. An deren Stelle hätte die Beschreibung eines politischen Feldes und die Beschreibung von unterschiedlichen Interessen und Optionen treten können. In ‚House of Cards‘ wird diese männliche Perspektive in der letzten Staffel aufgelöst, aber diese Lösung durch die schwangere Präsidentin Claire Underwood ist mit ihren je eigenen Ambivalenzen und Ironien versehen. Darauf komme ich zurück. Im Folgenden sollen Underwoods und Cromwells politische Ethik in einer Reihe von Punkten miteinander verglichen werden.


1.    Alltägliches und Außerordentliches

Serie wie Trilogie zeichnen sich dadurch aus, dass sie Alltägliches und Außerordentliches miteinander verbinden. Der oberflächliche Blick auf die Macht als Repräsentationsprinzip für die Öffentlichkeit wäre langweilig, Zuschauer wie Leser kennen eine solche Perspektive schon aus den Fernsehnachrichten. Beide Serien richten ihren Blick deshalb auch auf den privaten Bereich prominenter Politiker. Underwood wird beim heimlichen Rauchen, beim Konsum von Pornographie, beim Rippchenessen, beim Ruder- oder Spinningtraining gezeigt. Er bastelt an Schlachtenpanoramen mit Zinnsoldaten.

Cromwell ist bei der Jagd, beim Bogenschießen, beim Reiten zu sehen. Er ist beim Hofzeremoniell präsent. Und Mantel zeigt ihn auch dann, wenn er sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen hat, um zu grübeln und seine Entscheidungen vorzubereiten. Das wäre ein möglicher Unterschied zu Underwood: Mantel kann – im Buch – den inneren Bewusstseinsstrom sichtbar machen, was in einer auf Bilder angelegten Fernsehserie nicht möglich ist. Underwood grübelt und reflektiert ebenfalls, nämlich in seinen virtuellen Dialogen durch die vierte Wand.

Im jeweiligen Privaten ist zu sehen, wie sehr das Politische das Alltagsleben bestimmt und darauf durchschlägt. Politische Figuren haben kaum ein Privatleben. Beide, Mantel wie die Macher von ‚House of Cards‘ befriedigen die voyeuristische Neugier der Zuschauer und Leser auf das im Normalfall nicht sichtbare Privatleben von bekannten Politikern oder historischen Figuren. Für Serie und Trilogie ist die Vermischung von politischen Haupt- und Staatsaktionen sowie von alltäglicher Banalität charakteristisch.


2.    Familiäre Herkunft

Underwood hat ja bekanntlich auf den Grabstein seines Vaters gepinkelt. Er wollte mit dem Pfirsichfarmer, der sich nicht um seine Familie geschert hat, nichts mehr zu tun haben. Cromwell kam aus einem schwierigen Elternhaus. Sein Vater hat ihn verprügelt. Er hat unter seinem Vater gelitten und er ist vor ihm geflohen, er hat sich eine ganze Reihe von Ersatzvätern gesucht, angefangen von seinen florentinischen Ausbilder-Kaufleuten bis zum Kardinal Wolsey. Beide Väter, der Schmied Cromwell und der Pfirsichfarmer Underwood, litten schwer unter Alkoholsucht. Wie Underwood unternimmt Cromwell den Versuch, sich gegen die psychologische Übermacht seines toten Vaters zu wehren. Aber während das Thema für Underwood nach der Szene auf dem Friedhof praktisch erledigt ist, weiß der sehr viel grüblerischere Cromwell, dass er seine Herkunft aus einem einfachen Handwerkerhaushalt nicht so einfach abstreifen kann. Das verhindern seine Gegner, das verhindert er selbst.

Frank Underwood sucht im Gegensatz zu Cromwell nicht nach Ersatzvätern. Aber auch der Versuch unabhängig zu sein und ein Leben ohne Ersatzväter zu führen, lässt sich als Reaktion auf die schlechten Kindheitserfahrungen mit dem Vater verstehen.

Cromwell wird seine niedrige Herkunft dauernd vorgehalten, vom König, von seinen adligen Gegnern, von den Leuten, die auf der Straße gegen ihn demonstrieren. Bei Underwood fehlen solche Szenen. Die beiden Ausnahmen: Claires reiche Mutter hat ihren Schwiegersohn stets abgelehnt und nie empfangen. Aber Frank Underwood nimmt das als völlig selbstverständlich, und er scheint sich nicht groß daran zu stören. Bei der Teilnahme am Waldcamp der Meritokraten fühlt er sich nicht wohl, was er durch die vierte Wand mitteilt, und in einer Diskussion hält er mit seinem pragmatischen Politikbegriff offensiv gegen die verschwurbelten Vorstellungen der Milliardäre. Die sechste Staffel zeigt den Versuch einer sehr reichen Industriellenfamilie, sich im Weißen Haus Einfluss zu verschaffen, aber Claire Underwood setzt sich energisch gegen diese Interessen durch, nicht anders, als es ihr verstorbener Mann getan hätte. Man kann die Unterschiede damit erklären, dass im England des 16.Jahrhunderts Standesunterschiede und Hierarchien eine sehr viel größere Rolle spielten als in den demokratischen Vereinigten Staaten des späten 20.Jahrhunderts. Es ist eine ironische Pointe, dass Claire Underwood, die als Feministin ihren verstorbenen Mann endlich abgelöst hat als Präsidentin, mit ihrer Schwangerschaft ganz offensichtlich eine neue Dynastie begründen will. Sie kehrt also zum alten monarchischen Machtmodell zurück, das auf familiärer Generationenfolge beruht.

Politik ist, so die Essenz beider Fallstudien, auch ein psychologisches Geschehen. Cromwell kämpft stets mit seinem Vater oder den Ersatzvätern. Er bleibt – auch politisch – immer ein Sohn. Das Weibliche und das Erotische interessieren ihn nicht besonders. Underwood bleibt auch stets ein Sohn, aber im Gegensatz zu Cromwell sucht er sich keine Ersatzväter, sondern er will sein Heil in einer vaterlosen Unabhängigkeit finden. Kämpfen aber muss er wie Cromwell. Underwood kämpft mit seiner Frau, die ihm von Staffel zu Staffel ebenbürtiger wird, um die Macht. Beide führen – um es scharf zu formulieren – keine Ehe, sondern einen politischen Machtkampf.


3.    Demokratie und Monarchie

Cromwell bewegt sich in einer doppelt hierarchisch segmentierten Gesellschaft. Die eine Hierarchie führt vom Volk über die freien Bürger und den Adel zum Hofstaat und schließlich zum König. Die zweite Hierarchie führt von den Laien über die Priester bis zu den Bischöfen. Die erste Hierarchie schätzt Cromwell als die deutlich wichtigere ein, wenn er auch die klerikale Hierarchie nicht unterschätzt, zumal sie mit der sozialen Hierarchie vielfältig verflochten ist. Beiden Hierarchien eignet ein statisches, antidynamisches Moment. Der König an der Spitze der sozialen Hierarchie übt eine Vermittlerfunktion zwischen Gott und den Menschen aus. Da Cromwell von den Feinheiten der Machtausübung des Königs abhängig ist, studiert er diese funktionalen und repräsentativen Ordnungen sehr genau. Macht wird in der sozialen Hierarchie innerfamiliär bzw. dynastisch weitergegeben. Deswegen hat die Frage nach männlichen Nachkommen solch eine enorm große Bedeutung, wobei sich für König Henry dynastische Interessen mit erotischen Eskapaden verbinden, was Cromwell mit einer gewissen Befremdung wahrnimmt. Frauen spielen in dieser sozialen Hierarchie eine eher untergeordnete Rolle. Auch sie üben Macht aus, aber sie tun das nur indirekt. Anne Boleyn ist für Cromwell (und Mantel) der Musterfall dafür, dass sie die hierarchisch sozialen Verhältnisse falsch einschätzt und genau deswegen ihr Leben verliert.

Dieses sozialpolitische Umfeld verteilt sich in Washington, D.C. völlig anders. Ämter werden nicht vererbt, sondern durch Wahl vergeben. Deswegen spielen Überlegungen zur Wahl in der amerikanischen Demokratie eine ähnliche Rolle wie Überlegungen zu Nachkommen und Dynastie im England des 16. Jahrhunderts. An die Stelle einer familiären Erb-Hierarchie ist in Washington eine funktionale Hierarchie getreten ist. Diejenigen, die in Washington als Abgeordnete, Senatoren etc. gewählt worden sind, stehen höher als die funktionalen Eliten in den Hauptstädten der Bundesstaaten, und beide zusammen stehen höher als die einfachen Wähler, denen öffentlich ein Bild von Politik vorgegaukelt wird, das vor allem Wahlerfolge oder Wiederwahlen garantieren soll. Die religiöse Hierarchisierung im Blick auf die Macht ist in den USA weggefallen. ‚House of Cards‘ thematisiert zwar in den Staatsbegräbnissen getöteter Soldaten noch die Civil Religion der fünfziger und sechziger Jahre, aber diese besitzt eher ornamentalen Charakter, was – wie ausführlich erläutert – Frank Underwood nicht von ausführlichen theologischen Reflexionen abhält. Aber er begnügt sich damit, grundsätzliche Fragen zu stellen, die er nicht öffentlich, sondern nur für sich selbst beantworten will. Er macht an keiner Stelle den Versuch, die amerikanische Civil Religion für seine politischen Zwecke zu instrumentalisieren.

Gemeinsam jedoch ist den politischen Systemen bei allen Differenzen, dass sich Demokratie wie Monarchie als Felder von Machtausübung darstellen, bei denen es darauf ankommt, die Kraftfelder richtig zu lesen und die eigenen Interessen so zu platzieren, dass politische Ziele sich verwirklichen lassen. In beiden Fällen steht an erster Stelle vor allen anderen Zielen die Erhaltung der eigenen Macht.


4.    Präsident und Chefberater

Underwood und Cromwell gleichen sich darin, dass sie skrupellose, vermeintlich unsympathische Figuren sind, die vor Straftaten und Mord nicht zurückschrecken. Dennoch fühlt der Leser und Zuschauer in beiden Fällen Sympathie mit ihnen. Underwood holt sozusagen das Publikum zu sich heran, indem er es direkt anspricht. Er macht es zu seinem Komplizen, was so weit geht, dass er den Zuschauern vorhält, aus Sympathie zu ihm Vorwürfe und Einwände gegen seine Intrigen und Verbrechen zurückzuhalten. Bei Cromwell verhält es sich anders. Der Cromwell der Serie ist ein trauriger, schlecht aussehender Schluffi, der sich als Spion in der Szene versteckt und darum eine blasse Persönlichkeit bleibt. Der Cromwell der Bücher-Trilogie schenkt dem Leser Einblicke in seinen stream of consciousness, und dennoch bleibt die Distanz zum Leser erhalten. Die fünfhundert Jahre Abstand zur Renaissance und Reformation lassen sich nicht überbrücken. Manches erinnert an die großartige Luther-Biographie von Lyndal Roper.[80] Diese war als wissenschaftliche Monographie konzipiert, ihr fehlten die konkreten Passagen und der imaginative Blick mitten hinein in die Seele des Protagonisten. Roper versteht sich als Psychohistorikerin, die im Grunde genommen die gleichen Fragen stellt wie die Schriftstellerin, aber mangels Quellenmaterials kann sie die Fragen, die sich stellen, nicht beantworten. Für die Schriftstellerin Mantel bietet das Fehlen von Zeitquellen kein Hindernis. Ihr stehen andere Methoden zu Gebote, um diese Fragen zu beantworten.

Es macht die Stärke von Mantels Roman aus, dass sie in ihrem Roman sehr genau analysiert, wie Cromwell von seiner zuerst kleinen, aber dann stetig wachsenden Macht innerhalb eines hierarchischen Kräftefeldes Gebrauch macht. Keiner der Protagonisten ist in seinem Machtgebrauch völlig frei von intellektuellen oder sozialen Restriktionen. Das gilt auch für König Heinrich, der keineswegs als ein absoluter Herrscher im Sinne des Absolutismus des 18.Jahrhunderts zu verstehen ist. Cromwell steigt zum Chefberater auf, er gelangt sozusagen neben die Hauptmacht. Das heißt: Er kann nicht einfach anordnen, was politisch geschehen soll, sondern er braucht für jede dieser Anordnungen die vorherige Zustimmung des Königs. Deswegen ist es auch ganz entscheidend für ihn, die Stimmungen, die Psychologie, die Mentalitätsbiographie des Königs zu kennen, weil es nur so möglich ist, die richtigen Zeitpunkte für bestimmte Themen abzuwarten. Genau darin, in der umfassenden Kenntnis und Einschätzung von Henrys psychologischer, biographischer und intellektueller Disposition liegt Cromwells große Stärke. Die Stärke wird zur Schwäche deshalb, weil er über der Konzentration auf den König seine adligen Gegner vergisst oder mindestens unterschätzt.

Während Cromwell als Seiltänzer im Kräftefeld der royalen Macht ein großer Könner ist, kann man bei Underwood sehen, dass ihm Cromwells Vorsicht, Demut und Zurückhaltung fehlen, gerade deshalb, weil er sich mit dem Präsidentenamt an der Spitze der Macht wähnt. Auch als Präsident weiß er selbstverständlich, dass er nicht tun kann, was er will. Das Scheitern dieses Versuches war gerade am Beispiel des 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten zu sehen. Aber die nonchalante Arroganz, mit der Underwood gelegentlich seine Unterstützer und Verbündeten behandelt, schafft ihm keine Freunde, weder unter seinen Ministern (Beispiel Catherine Durant) noch unter den Lobbyisten noch unter den Kongressabgeordneten.

Die Einzige, die Underwood als gleichberechtigte Politikerin akzeptiert, ist seine Ehefrau Claire. Dafür allerdings benötigt Frank sehr viel Zeit, mehrere Staffeln der Serie, bis er resignierend und sterbend akzeptiert hat, dass ihm seine ehrgeizige Frau über den Kopf gewachsen ist.

Beide, Cromwell wie Underwood, haben in der Politik nicht viele Freunde. Diejenigen, denen sie vertrauen, nehmen keine Position auf Augenhöhe ein. Claire, Franks Ehefrau wird zur Rivalin. Der Stabschef Doug Stamper und der Personenschützer Edward Meechum werden als Vertraute akzeptiert, aber sie agieren eben nicht auf einer Ebene mit Frank. Bei Cromwell verhält sich das ähnlich: Er hat eine Gruppe von Mitarbeitern um sich versammelt, darunter sein Sohn, sein Ziehsohn, einige Diener und Wriothesley, ein höfischer Bürokrat. Letzterer wird genau derjenige sein, der in der Rolle des Judas vor seiner Verhaftung die entscheidenden Hinweise an seine Gegner weitergibt. Cromwell und Underwood haben gemeinsam, dass sie den wenigsten Personen aus ihrer Umgebung vertrauen. Allerdings: Vor seiner Hinrichtung sorgt Cromwell noch dafür, dass sein Sohn nicht in den Strudel seines Sturzes hineingerissen wird und nach ein paar Jahren des Exils vom Hof dorthin zurückkehren kann.


5.    Gattinnen

Cromwell macht Politik in einer Männerwelt, die nicht richtig wahrhaben will, dass sie in einem entscheidenden Punkt auf Frauen angewiesen ist. Die Frauen sind es, die potentielle Nachfolger gebären. Ob eine schwangere Königin ein Mädchen oder einen Jungen gebiert, ist ein biologischer Prozess, der sich den medizinischen Handlungsmöglichkeiten damaliger Ärzte und Hebammen entzog. Die Männer sind also fixiert auf Schwangerschaft und Geburt, und die Frauen wissen darum – als Gefahr wie als Instrument der Einflussnahme im Erfolgsfall des ‚richtigen‘, also des starken, gesunden, überlebensfähigen männlichen Nachkommen. Im Gegensatz zum König erscheint Cromwell immun gegenüber sämtlichen erotischen Avancen von Frauen. Seine eigene Frau ist zusammen mit beiden Töchtern an der Pest gestorben. Cromwell überlegt, ob er sich in die schöne Anne Boleyn verlieben soll, aber diese Gefühle kommen über den Zustand der verstohlenen Grübelei nicht hinaus. Eher befremdet nimmt Cromwell zur Kenntnis, wie wichtig solche erotischen Avancen für den König sind. Das zeigt sich zum Beispiel an seiner Heirat mit Anna von Kleve. Während Cromwell diese ‚Zusammenführung‘ als einen rein politischen Akt betrachtet, besteht Henry auf Ölbildern, teuren Vorläufern des ‚Selfies‘, um die in Aussicht genommene Dame vorher zu sehen. Zum Eklat kommt es, als die beiden sich zum ersten Mal begegnen. Dabei triumphieren die Gefühle über die Politik, und die gegenseitige Abneigung lässt sich nicht kitten. Cromwell wird später dafür verantwortlich gemacht, und diese Episode trägt dazu bei, dass er beim König in Ungnade fällt.

Cromwell erscheint in diesen Zusammenhängen als unbeteiligter Beobachter der vom König hervorgetriebenen erotischen Szenerien. Ich würde auch vermuten, dass er das Emotionale unterschätzt. Im Grunde kann man sagen, dass Cromwell schließlich auch an seiner Fehleinschätzung des emotionalen Moments gescheitert ist.

Underwood lebt in der ersten Staffel von ‚House of Cards‘ seine Affäre mit Zoe Barnes aus, die er später ermorden wird. Danach tritt das Erotische zurück, er hat bis auf die erwähnten Andeutungen homosexueller Episoden, keine Affären mehr mit anderen Frauen. Er toleriert die Beziehung seiner eigenen Frau zum Schriftsteller Tom Yates. Er hat sehr genau verstanden, dass Claire mit zunehmender Dauer der Serie im Grunde nicht mehr seine Ehefrau, sondern seine politische Rivalin geworden ist. Claire nimmt damit eine Rolle ein, die Anne Boleyn gerne innegehabt hätte, die ihr aber verwehrt war. Mit dem Wechsel von Ehefrau zu Rivalin, von Familie und Erotik zu Politik ändert sich aber auch der Beziehungsstatus zwischen Claire und Frank Underwood. Aus der Partnerschaft wird ein Kampf, aus dem schließlich Claire siegreich hervorgeht. Die letzte Szene der letzten Staffel inszeniert diesen Sieg als Triumph der Weiblichkeit. Leider wird die Serie nicht in einer siebten Staffel weitergeführt, man hätte in einer solchen Fortsetzung vermutlich sehen können, dass sich Claire in dieselben Machtkonflikte verstrickt wie Frank. Auch sie wäre vermutlich daran gescheitert.


6.    Civil Religion und Staatskirche

Die Kirche, mit der Cromwell zu tun hat, ist eine politische Macht. Zu den hartnäckigsten Gegnern Cromwells gehört sein Rivale, Bischof Gardiner, zu seinen hilfreichsten Verbündeten gehört der Erzbischof Cranmer. Cromwell selbst hat Ämter bei Hofe und in der Kirche inne. In dieser Doppelperspektive setzt er sich für eine gemäßigte Kirchenreform ein. Er schreckt davor zurück, sich zum Fürsprecher der kontinentaleuropäischen Reformation zu machen, weil er um die katholische Prägung und Erziehung Henrys weiß. Abgesehen aber von dieser Zurückhaltung bekämpft er alles, was pragmatische Politik verhindert, also Magie, Aberglauben, oberflächliche Frömmigkeit, und er fördert umgekehrt alles, was den pragmatischen Gebrauch der Vernunft in Alltagsleben und Politik weiterbringt. Er setzt sich für die Übersetzung der Bibel ins Englische ein, weil er – zu Recht – wie sich zeigen sollte – überzeugt war, dass die Religion sich von innen heraus reformieren lässt, wenn die Gläubigen sich ein eigenes Urteil bilden und nicht mehr auf die theologischen Einflüsterer hören, die doch nur eigensüchtige Interessen verfolgen. Schon diese vorsichtige Öffnung für Reformen erwies sich für Cromwell als riskante Unternehmung, denn je mehr seine Politik mit der lutherischen Reformation identifiziert werden konnte, desto angreifbarer wurde er für Anklagen wegen Häresie.

In den Vereinigten Staaten des 20. Jahrhunderts ist die Religion keine Macht mehr, aber Underwood setzt sich mit theologischen Fragen auseinander. Das findet seinen ästhetischen Höhepunkt in der Szene in der Kapelle, als er zu einer Anklage gegen den Gekreuzigten ansetzt und das Kreuz pathetisch zu Boden stürzt – in Aufnahme der entsprechenden Bilderklischees aus den Filmen über Don Camillo und Peppone. In Aufnahme der Religionsfreiheit sieht sich Underwood als Präsident mit den Symbolen anderer Religionen konfrontiert, zuvorderst mit dem von den Mönchen gestäubten Mandala. Underwood steht nicht mehr unter dem Zwang, ein Religionspolitiker sein zu müssen. Das hindert ihn aber nicht, theologische Fragen nach dem Sinn von Politik zu stellen. An die Stelle eines Gottesglaubens ist im Ergebnis bei ihm eine Akzeptanz (nicht Verehrung) der Kontingenz getreten.


7.    Risikofolgen und abwägende Vernunft

Drei Gemeinsamkeiten der politischen Ethik von Underwood und Cromwell habe ich schon genannt: die These von der geringen Handlungstiefe der Vernunft, die Ambivalenz der Welt und die Verderbtheit des Menschen. Beide kommen zusätzlich darin überein, Politik als Machtspiel zu verstehen; dieses wird allerdings (leider) nicht nach feststehenden, sondern nach wechselnden Regeln gespielt. Cromwell, der ständig von willkürlicher Anklage und damit von Hinrichtung bedroht ist, lässt sich auf das ein, was er vom italienischen Philosophen Machiavelli gelernt hat. Er versucht, das politische Spiel zu durchschauen und, wo es möglich ist, Reformen durchzusetzen. Für Cromwell ist Politik ein Schachspiel (vgl. den Titel dieses Essays), dessen Regeln er nicht immer kennt. Darum wird er nicht zum weltvergessenen Idealisten, der versucht, seine Ideen mit Brachialgewalt durchzusetzen. Alle, die zu Lebzeiten Cromwells mit Sturheit und Rechthaberei für ihre Ideen kämpften wie Thomas More und einige englische Anhänger der Reformation, sind auf dem Schafott geendet. Stattdessen hält Cromwell pragmatisch an seinen Zielen fest, und versucht, sich auf das Machbare an Reformen zu beschränken. Er weiß, dass er auch mit diesem politischen Programm auf einer Rasierklinge zwischen Abgründen tanzt. Aber mutig wie er ist, scheut er vor dem Versuch nicht zurück, und das hat ihm fünfhundert Jahre später die Sympathie Hilary Mantels und eine Romantrilogie eingebracht.

Der Grad an kritischer Selbstreflexion, den Cromwell zeigt, übertrifft denjenigen von Underwood bei weitem. Bei Cromwell ist auch noch eine gewisse Wertorientierung zu sehen, die Underwood völlig fehlt. Beide kommen zusammen in einem erheblichen Maß von Verschlagenheit und Risikobereitschaft. Allerdings denkt sich Underwood in eine Gegenwart hinein, in der Werte nichts mehr zählen und in der darum Machterhalt (Wiederwahl) zum einzigen Wert wird, der wichtig ist.

Sowohl Underwood wie Cromwell haben nüchtern und illusionslos die große Macht der Kontingenz für Politik und Leben erkannt. Cromwell begegnet dieser Kontingenz in der Willkür und in der Launenhaftigkeit des Königs. Er hat viel damit zu tun, sein Projekt pragmatischer Politik gegen beides abzufedern. Underwood dagegen hat sich dem ‚Flipism‘ verschrieben: Für ihn spielt keine Rolle mehr, was entschieden wird, solange es nicht den Erhalt seiner Macht gefährdet. Underwood lebt in einer Welt mit einem unbekannten, verborgenen Gott, ohne Werte und ohne Ziel.

So sehr beide die Begrenztheit der Vernunft erkannt haben, so verfolgen beide damit doch unterschiedliche Ziele. Bei Underwood ist die Vernunft dekonstruiert, das Zeitalter der Aufklärung wird abgelöst. Vernunft sinkt endgültig herab zum Instrument der Verfolgung selbst definierter Interessen. Cromwell, in einem voraufgeklärten Zeitalter lebend, hat die Hoffnung auf eine Rationalisierung der Politik im guten Sinne noch nicht begraben. Für beide gilt, dass sie ihre Politik aus der genauen Beobachtung und Wahrnehmung der anderen Politiker um sie herum entwickeln. Mantel zeigt in Cromwell allerdings eine Person, die sehr genau abwägt. Solche vernünftigen Abwägungen werden gelegentlich bis an die Grenze der Grübelei ausgedehnt, während dieses Grübeln Underwood ganz fremd ist, vielleicht deshalb, weil es in bewegten Filmbildern nur schlecht dargestellt werden kann. Mit Ausnahme des Schriftstellers und Redenschreibers Tom Yates ist der Serie alles Intellektuelle ganz fremd, während Cromwell sozusagen in seinem Nachdenken hinter dem Schreibtisch und im Tagebuch das Intellektuelle repräsentiert. Abwägen, Nachdenken, Grübelei kann besser in Schriftform als in Bildern gezeigt werden, ein Grund dafür, weshalb im Fall Cromwells die Serie weit hinter der Trilogie zurückbleibt.

Cromwells politische Ethik ist emotional grundiert, und das zeigt sich im Grübeln über die Toten, denen er meint, nicht gerecht geworden zu sein: Anne Boleyn und ihren vermeintlichen Liebhabern, Thomas More, Kardinal Wolsey, dem Aaljungen, den er ermordet hat, und vor allen anderen seinem Vater. Underwood sind solche Grübeleien fremd. Die beiden Menschen, die er umgebracht hat, Peter Russo, den Kongressabgeordneten und die Journalistin Zoe Barnes, über sie denkt er nicht mehr nach. Der Vater, der Pfirsichfarmer, ist präsent, aber es ist nicht richtig zu spüren, dass er als Erinnerung auch psychologischen Einfluss ausübt. Eine Ausnahme bilden die Alpträume, die Underwood quälen, als er nach dem Attentat operiert werden muss und im Koma liegt. Alpträume lassen sich leicht bebildern für eine Fernsehserie. Insofern werden sie gezeigt, aber es ist nicht zu spüren, dass die beiden ermordeten Personen oder Vater noch irgendeinen psychologischen Einfluss auf Underwoods Handeln und Denken haben. Mir scheint Cromwell, der trotz Kühle, Vernunft und Pragmatik dem Sog der Erinnerung an die Toten wenigstens ein kleines Stück nachgibt, nein: nachgeben muss, psychologisch ein wenig adäquater dargestellt als Frank Underwood, dessen psychologische Unabhängigkeit nicht völlig glaubwürdig wirkt. Die Drehbuchschreiber wollten offensichtlich diesen psychologischen Themen keinen größeren Raum geben.


8.    Moral und Unmoral

Cromwell und Underwood vertreten beide einen Begriff von Politik, der offensichtlich unmoralische Handlungen für legitime Mittel der Politik hält: die Todesstrafe, Hinrichtungen, Folter, Morde, andere Straftaten wie Einbruch, Falschaussagen etc. Cromwell lebte in einer Zeit, in der manches (Hinrichtungen, Folter) noch selbstverständlich war, aber in seinen anhaltenden Grübeleien ist zu spüren, dass er sich auf dem Weg dorthin befand, die Untauglichkeit von Folter für Ermittlungen einzusehen. Das Nachdenken über die grausamen Hinrichtungen (Schwert statt Hackbeil bei Anne Boleyn) ist in allen drei Teilen der Trilogie von Ambivalenz geprägt. Hilary Mantel hat es stets daraufhin ausgerichtet, dass Cromwell selbst einmal hingerichtet werden wird. Lässt man allerdings diesen zeitgeschichtlichen Kontext weg, so bleibt immer noch eine gewisse Skrupellosigkeit Cromwells stehen. Sein politisches Handeln geschieht in dem Bewusstsein, Fehler begangen und Unrecht legitimiert zu haben. Und das beschäftigt ihn intensiv.

Letzteres gilt nicht für Underwood. ‚House of Cards‘ huldigt in dieser Hinsicht einem gewissen Zynismus. Die Gruppe von Journalisten, die über alle Staffeln hinweg versucht haben, Morde und andere Straftaten der Underwoods aufzudecken, werden schließlich alle selbst ermordet. Der Zuschauer weiß hier sehr viel mehr als die Figuren der Serie, er wird zum Mitwisser gemacht und genauso schnell für eine politische Philosophie vereinnahmt, die keine Gerechtigkeit mehr kennt.


9.    Zwei Schlussszenen

Vergleicht man beide Schlussszenen, so wird eine Schwierigkeit deutlich, die Serie wie Trilogie gleichermaßen betrifft. Der entwickelte pragmatisch-zynische Politikbegriff kann eigentlich nicht zu irgendeinem Ziel führen. Die Inhaber der Macht, gleich ob Monarchen, Chefberater, Präsidenten, Minister oder Abgeordnete werden abgelöst. An ihre Stelle treten andere Machthaber, die genauso nichts anderes tun, als sich unter allen Umständen an der Macht zu halten. Beide, die Drehbuchverfasser wie die Romanautorin mussten deshalb originelle Lösungen aus diesem Dilemma finden, und es ist die Frage zu stellen, ob diese Lösungen der Schlussszenen überzeugen können. ‚House of Cards‘, gebeutelt durch vorzeitigen Rauswurf Kevin Spaceys, sucht sein Heil in einem übersteigerten Feminismus, der Claire Underwood formal und funktional zur Präsidentin macht, ihr aber ebenso die Rolle der leidenden Madonna und der Urmutter zu schreibt. Man könnte an Goethes Apotheose der Weiblichkeit am Ende von Faust II denken. Die deutlichen Elemente der Ironie zeigen an: Es ist überhaupt nicht ausgemacht, ob die Präsidentschaft Claires nicht nur eine Fortsetzung der Präsidentschaft des Machos Frank mit anderen Mitteln ist.

Die Ambivalenz am Ende von ‚Spiegel und Licht‘ ist anders gestaltet. Cromwell scheitert an denjenigen Mitteln und Umständen, von denen er jahrelang profitiert hat. Die politische Maschinerie des Tudor-Reiches mahlt sehr langsam, aber am Ende zermalmt sie auch denjenigen, der sehr lange Zeit ihre Schalter bedient hat. Cromwell, der sein ganzes Leben damit verbracht hat, Hinrichtungen zu beobachten und Menschen aufs Schafott zu befördern, stirbt am Ende selbst durch das Schwert. Es macht seine Größe aus, dass er sich über dieses Schicksal nicht beklagt, sondern es geduldig erträgt, noch dafür sorgt, dass niemand aus seiner Familie oder von seinen Mitarbeitern in den Strudel der Verhaftungen mit hineingezogen wird. Mit Hilfe der Politik hat Cromwell es geschafft, der schwarzen Pädagogik seines Elternhauses zu entkommen und Karriere zu machen, obwohl ihm eigentlich dafür die sozialen Voraussetzungen (Erbadel) fehlten. In dem, was ihn groß gemacht hat, kommt Cromwell dann auch um.


VIII.    Schlussfolgerungen für eine öffentliche Theologie

Selbstverständlich handelt es sich bei ‚House of Cards‘ und ‚Spiegel und Licht‘ um fiktionale Beispiele, in denen sich jedoch – das haben die letzten drei Teile gezeigt – ein neuer Begriff der Politik und der politischen Ethik zeigt, der einer theologischen Antwort bedarf. Cromwell und Underwood haben sich als gewitzte und gerissene, aber auch scheiternde Spieler in einer Politik neuen Typs erwiesen. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr Kontingenz über Vernunft triumphiert. Die neue Politik ist bestimmt von Unwägbarkeiten und Unübersichtlichkeit, die Reichweite der Vernunft als Handlungs- und Denkinstrument ist begrenzt. Cromwell reagiert darauf theologisch mit einer vernünftigen, nicht-radikalen Theologie, Underwood erweist sich als ein theologischer Anti-Theologe, dem aber noch ein sozusagen theologisches Interesse bleibt. Politik erweist sich als Parallelogramm von Kräften und Mächten, in dem ein einzelner, und habe er noch so viel Macht, nicht gewinnen kann.

Wenn sich Politik im beschriebenen Sinne ändert, muss auch die öffentliche Theologie neu kalibriert werden. Es ist ein Reset nötig, dessen Konturen im Folgenden wenigstens angerissen werden sollen. Vorher war der Aspekt der Öffentlichkeit entscheidend, unter demokratischen Bedingungen sollten möglichst viele Beteiligte über Fragen der Orientierung, der Machtverteilung und der Entscheidung mitdiskutieren. Im Vordergrund stand die Verwandlung eines elitären und institutionellen in einen demokratischen, kommunikativen Machtbegriff. Nach meiner Ansicht bleibt das weiterhin wichtig, aber es kommt hinzu die Frage nach der Kontingenz politischer Bedingungen und nach ihrer Beeinflussbarkeit durch einzelne oder Gruppen wie die Kirchen. Dies will ich in fünf Punkten entfalten.


1.    Vernünftiger Vernunftgebrauch

Was aus beiden Fallstudien als Ergebnis herausragt, scheint mir die Einsicht in die Begrenztheit der Vernunft beim Planen, Bewerten und Handeln in politischen Prozessen. Diese Ambivalenz der Vernunft ist in jüngster Zeit auch als Merkmal evangelischer, vielleicht genauer lutherischer Ethik bewertet und hervorgehoben worden.[81] Insofern rennt die zitierte Kritik der Gesinnungsethik des evangelischen Milieus von Johannes Fischer offene Türen ein. Selbstverständlich ist auch eine gesinnungsethisch unterfütterte politische Theologie vernünftig in der Beachtung von Konsequenzen, Schlussfolgerungen und Voraussetzungen. Und dennoch erliegt sie dauerhaft der Gefahr, die (politische) Wirklichkeit zu überspielen und sogar zu negieren. Im evangelischen Bereich gilt das besonders für einen apokalyptisch gefärbten Platitüden-Dualismus, der globalisierungskritisch ein politisch produziertes Reich Gottes gegen die Tyrannen des Neoliberalismus ins Feld führt. Insbesondere im ökumenischen Bereich ist diese Ideologie leider breit rezipiert worden. Und es gilt genauso für einen Pazifismus, der Bürgerkriege und Kriegsgefahren mit gleichsam religionspädagogischen Techniken gewaltfreier ‚Rollenspiele‘ überwinden will. Die Reihe der Beispiele lässt sich leider verlängern. Man könnte auch den konfessorischen Positionalismus anführen, mit dem sich bestimmte Milieus der evangelischen Kirche gegen Rechtspopulismus und Rassismus wehren. Hier kommen Lagermentalität und Wagenburg-Denken zum Ausdruck, die alles, was auf der eigenen guten und der bösen anderen Seite steht, unreflektiert akzeptiert und nicht mehr auf Zwecke, Gründe und Konsequenzen überprüft.

In allen Fällen wird das Politische de facto unterlaufen und damit negiert. Diese Spielarten der Gesinnungstheologie lassen sich auf die Politik nicht mehr ein, sondern versuchen, sie mit einer Mischung aus apokalyptischem Vokabular und psychologischen Techniken der Gruppendynamik zu überbieten.

Ein tragbarer Vernunftbegriff der öffentlichen Theologie müsste die politische Ethik Underwoods und Cromwells, dort, wo sie ins ethisch eindeutig Verwerflich hineinreicht, nicht kritiklos übernehmen. Es geht auch keineswegs um eine Legitimation der Unmoral. Aber an Cromwell wie Underwood ist zu studieren, wie die Vernunft im politischen Kräftefeld die Gestalt der List annimmt. In der Serie und im Roman sind die Beispiele dafür ausführlich diskutiert worden. Darüber hinaus wäre zu verweisen auf das entsprechende Buch von Peter von Matt[82], das eine Reihe von literarischen Beispielen zusammenträgt, darunter selbstverständlich auch solche aus der Bibel, in der sich ganz unterschiedliche listenreiche Theologen tummeln, angefangen von Jakob, der den Segen durch ein Linsengericht erhält bis zum klugen Haushalter (Lk 16,1-8), der ein besonders schönes Beispiel gesinnungsethisch verwerflicher Kapitalistenmentalität bietet.


2.    Gegen den Dezisionismus

Gegen den dezisionistischen Politikbegriff Carl Schmitts geht es um weit mehr als um eine Theorie der Entscheidung. Politik macht eben nicht nur der, der über den Ausnahmezustand entscheidet. Die beiden Fallstudien haben gezeigt: Politische Ethik erweist sich als eine Theorie der Entscheidungen oder der Entscheidungsfindung. Schaut man sich aber die Beispiele Underwoods und Cromwells an, so erweist sich, dass mit dem Hinweis auf Dezisionismus die andere Hälfte der Wahrheit unterschlagen ist. Weder König Henry noch Cromwell noch das Ehepaar Underwood treffen souveräne, willkürliche Entscheidungen, die das Umfeld dann mittragen und verwirklichen muss. Sondern an all diesen Politikern ist zu lernen, dass Entscheidungen auf Voraussetzungen und Kontexten beruhen, die bei der Durchsetzung berücksichtigt werden müssen. Wer diesen Hintergrund oder Kontext vernachlässigt, der muss notwendig scheitern. Dezisionismus ist kontextfreie Machtausübung; er erscheint hier also als der Versuch, die geringe Handlungs- und Denkreichweite der Vernunft durch ein Übermaß willkürlicher Entscheidungen zu kompensieren.

Demgegenüber ist ein Modell öffentlicher Theologie zu favorisieren, das zwischen Vernunft, politischen Kontexten und Werten eine gewisse Balance hält oder mindestens zu halten versucht. In diese Richtung müsste sich eine neue öffentliche Theologie bewegen.


3.    Was ist mit der Zweireichelehre?

Es wäre für solch eine pragmatische, kontingenzbewusste, demütig-vernünftige öffentliche Theologie doch einmal die Gottesfrage zu stellen. Diese ist traditionell stets mit einem Hinweis auf die Zweireichelehre beantwortet worden. Danach entwickelt sich das Reich der Welt eigengesetzlich und im Grunde unabhängig vom Reich Gottes, dem innerlichen Reich des Glaubens. Die Differenzen zwischen den verschiedenen theologischen Richtungen liegen in der Verhältnisbestimmung zwischen den beiden „Reichen“ begründet. Reformierte Theologen haben im Anschluss an die zweite und fünfte These der Barmer Theologischen Erklärung auf Gottes Anspruch für das Ganze, also auch das politische Leben hingewiesen[83]. Ohne jetzt die gesamte die Diskussion über Zweireichelehre einspielen zu wollen und einer kritischen Revision zu unterziehen – was dringend nötig wäre, so genügen an dieser Stelle folgende Hinweise. Richtig ist selbstverständlich, dass Glaube nicht auf fromme Innerlichkeit reduziert werden darf. Umgekehrt ist aber auch nicht so völlig selbstverständlich, kirchlichen Positionen so etwas wie eine höhere, moralisch-politische Warte zuzuschreiben, aus der eine gewissermaßen höhere Legitimität zu politisch-theologischen Äußerungen herausgezogen wird.

Hier erscheinen die vorsichtigen theologischen Äußerungen Cromwells angemessener, weil sie nicht der Versuchung erliegen, Vernunft und Politik durch theologische Moralisierung überbieten zu wollen. Das Verhältnis von Politik und Theologie, so die grundlegende Einsicht Cromwells, geht nicht darin auf, dass die Theologie die Politik belehrt. Der Protestantismus gibt sich gelegentlich mit Leidenschaft dem Widerspruch hin, auf der Seite des Glaubens (und manchmal auch der Religion) alle möglichen Differenzen und abweichenden Positionen zuzulassen, während er in rebus politicis eine merkwürdige Art von Parteiensolidarität fordert, die dem mühsam errungenen Glaubenspluralismus schnurstracks widerspricht.

Die Zweireichelehre enthält noch einen zweiten protestantischen Widerspruch, nämlich den, dass man beharrlich das Handeln der Kirche, im schlimmeren Fall das Handeln der kirchlichen Bürokratie als Substitut des Handelns Gottes in der Welt nimmt. Mit dieser Verwechslung von geglaubter und faktischer Kirche begibt sich der Protestantismus jedoch vollends in die Bereiche des Katholisierenden. Angesichts der soziologischen Entwicklung der Kirchen in Westeuropa legen sich merkwürdige Schlussfolgerungen nahe, wenn man vom Einfluss Verlust der Kirche[84] auf die ‚geringere‘ Gegenwart Gottes in dieser Welt schließen würde.


4.    Gott im Himmel – Mensch auf der Erde

Die Fallstudien zu Cromwell und Frank Underwood haben gezeigt, dass Geschichte nicht zu planen ist; sie lässt sich nicht einfangen in idealistische Fortschrittsmodelle, die zu rationalisierenden, zweckorientierten Politikmodellen geführt haben, deren Verfolgung mehr Schaden als Nutzen angerichtet hat. Beide, Cromwell wie Underwood orientieren sich an einem ‚kurzen‘, kleinteiligen Begriff von Rationalität, welcher der Kontingenz von Geschichte und Politik besser gerecht wird. Dieses letzte schließt, wie sich an Cromwell zeigte, keineswegs einen bestimmten Begriff von Theologie und Glauben aus. Es ist eine vernünftige, öffentliche Theologie, die bereinigt ist von allen Formen des Aberglaubens und der Magie, aber auch der Schwärmerei, der Rechthaberei und der religionspädagogischen Selbstermächtigung zum Besserwissen.

In letzter Zeit taucht in Diskussionen über Theorien gegenwärtiger Politik wieder häufiger der Name des spanischen Jesuiten Baltasar Gracián (1601-1658) auf[85]. Er schrieb ein Jahrhundert später als der Engländer Thomas Cromwell, und er entwickelte eine philosophische Theologie der Lebenskunst, die von einem skeptischen Vernunftbegriff, von List, Weltklugheit und Lebenskunst und von sorgfältigen Unterscheidungen in der Theologie geprägt ist. Gracián zitierte in seinem ‚Handorakel‘ ein Wort seines Ordensgründers Ignatius von Loyola: „Man wende die menschlichen Mittel an, als ob es keine göttlichen, und die göttlichen, als ob es keine menschlichen gäbe.“[86] Das Zitat existiert in mehreren Varianten und die Quellengeschichte erscheint als komplex. Aber nicht das, sondern der theologische Inhalt ist hier das Thema. Die Pointe besteht darin, göttliches und menschliches Handeln strikt auseinanderzuhalten und in den weltlichen Bereichen nicht miteinander zu vermischen, aber eben dennoch mit der Effizienz von beidem zu rechnen. In dieser Richtung lese ich die politischen Ethiken, die hier anhand der Fallstudien von ‚House of Cards‘ sowie von ‚Spiegel und Licht‘ entwickelt wurden. Dieser Satz ermöglicht es aber, auch in einer modernen Gesellschaft an der Gegenwart des Religiösen festzuhalten. Dieses Religiöse manifestiert sich dann allerdings nicht mehr in politisch-religiöser Rechthaberei oder moralisierender Politik.


IX.         Schluss: Gurkentruppe und kirchliche Politikberatung

Gottes fröhliche Gurkentruppe, so lautet der Hoheitstitel, den sich der selbstgefällige Kirchentagsprotestantismus seit einigen Jahren zugelegt hat. Leider enthält dieser Ehrentitel mehr Wahrheit, als sich seine predigende Erfinderin gedacht hat. Die klerikale Ironie bleibt im bürokratischen Hals der Konsistorien stecken. Sie reagiert auf eine Selbstüberschätzung, die sich als klerikale Politikberatung verstand. Kirchliche Theologie sollte Politik belehren.

In glücklichen Augenblicken der Nachkriegsgeschichte hat dieses Modell funktioniert, zum Beispiel in der wegweisenden Ost-Denkschrift der EKD. Die beiden präsentierten Fallstudien haben aber gezeigt, dass sich in den Jahrzehnten danach die politische Landschaft in einer Weise verändert hat, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine solche wegweisende Denkschrift sehr unwahrscheinlich erscheinen lassen. Dafür gibt es zwei Gründe. Der eine Grund liegt in den demonstrierten Veränderungen politischen Handelns und politischer Ethik. Der zweite Grund liegt in der fehlenden Bearbeitung jener kirchlichen Identitätskrisen, die in den letzten Jahrzehnten zu Reformprogrammen geführt haben, die nur wenig reformierten. Aber das ist ein anderes, sehr weites Feld, das nicht Gegenstand dieses Essays war.

In ihm ging es darum, die Rückkoppelungen und -wirkungen eines veränderten Begriffs politischen Handelns auf die öffentliche Theologie zu zeigen. Selbstverständlich sollen auch unter den veränderten Politik- und Öffentlichkeitsbedingungen der Moderne Kirchen und Theologie beim ‚Schach in Gelee‘ mitspielen. Nicht umsonst heißt der Läufer beim Schachspiel im Englischen ‚bishop‘. In heute üblichen, bei Turnieren verwendeten Schachspielen ist seine stilisierte Mitra noch zu erkennen (vgl. Bild). Um nicht missverstanden zu werden: Die ‚bishops‘ stehen hier pars pro toto und nicht als Spitzenfiguren der Hierarchie. Als Theologe wünscht man sich, dass Cromwell wie Underwood diese nicht als Gurkentruppe lächerlich gemacht, sondern ernst genommen hätten.


Anmerkungen



[79]   S.o. Abschnitt IV.

[80]   Vgl. Lyndal Roper, Der Mensch Martin Luther. Die Biographie, Frankfurt/M. 2016.

[81]   Dazu Christian Polke, Prekäres Ethos – fehlbare Vernunft. Über das »Protestantische« einer theologischen Ethik, in: Bogner/Zimmermann, a.a.O., Anm. 12, 115-134.

[82]   Peter von Matt, Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist, München 2006.

[83]   Ausführlicher zur Problematik: Wolfgang Vögele, Leben und Überleben. Der Lebensbegriff im Kontext der protestantischen Friedensbewegung in Deutschland, in: St.Schaede, R.Anselm, K.Köchy (Hg.), Das Leben. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Bd.3, Religion und Aufklärung 27, Tübingen 2016, 141-162.

[84]   Dazu Vögele, a.a.O., Anm. 12 sowie zuletzt ders., Singularisierung, Säkularisierung oder sichere Schrumpfung. Eine Auseinandersetzung mit Andreas Reckwitz‘ These von der Singularisierung unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Lage in Religionssoziologie und Kirchentheorie, tà katoptrizómena, Heft 125, Juni 2020, https://theomag.de/125/wv059.htm.

[85]   Zur Gracián-Renaissance exemplarisch Helmuth Lethen, Im reißenden Strom der Translationen. Der Gracián-Kick im 20.Jahrhundert, Zeitschrift für Ideengeschichte, H. VII/3, 2013, 59-76. Klassisch das Werk, das Romanist Werner Krauss während seiner Haftzeit in Nazi-Gefängnissen geschrieben hat: Werner Krauss, Graciàns Lebenslehre, Frankfurt/M. 1947.

[86]   Hier zitiere ich Graciáns ‚Handorakel‘ aus: Hans-Peter Balmer, Condicio humana oder Was Menschsein besage. Moralistische Perspektiven praktischer Philosophie, München 2018, 123. Eine Variante lautet zum Beispiel: „Vertraue so auf Gott, als ob der Erfolg der Dinge ganz von dir, nicht von Gott abhinge; wende dennoch dabei alle Mühe so an, als ob du nichts, Gott allein alles tun werde."

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/128/wv062.htm
© Wolfgang Vögele, 2020