Wenn Kulturen aufeinanderstoßen

Was Bilder erzählen

Andreas Mertin

Der abgebildete Kupferstich ist eine Schülerarbeit, es ist das Werk eines Jungen im  Alter von 14 Jahren. Er heißt Lucas und stammt aus der Stadt Leiden, weshalb er später den Namen Lukas van Leyden trägt. 1508, also vor gut 500 Jahren, erschafft er das Bild. Es erzählt von einer Legende, die interessanterweise sowohl bei Christen, bei Muslimen und bei Juden auftaucht. Ihr Gegenstand ist die Begegnung eines Mönches mit dem jungen Mohammed. Das ist aber auch das Einzige, worin die verschiedenen Erzählungen übereinstimmen.

Die muslimische Überlieferung nach Ibn Ishaq (704-767) berichtet, dass der junge Mohammed mit einer Karawane an der Mönchsklause des Mönches Bahira vorbeikam und von diesem als kommender Prophet identifiziert wurde. „Er hatte nämlich in seiner Zelle gesehen, dass eine Wolke den Propheten in der sich nähernden Karawane beschattete. Und nachdem diese dann herangekommen war und sich in der Nähe unter einem Baum gelagert hatte, bemerkte er, wie die Wolke Schatten über den Baum breitete und dessen Zweige sich so über Mohammed bogen, dass er darunter Kühlung fand.“ Sein Wissen bezog der Mönch aus einer außerkanonischen Schrift, die seit Generationen bei den Mönchen vorhanden war. Die muslimische Perspektive ist klar: Auch die christlichen Quellen, die der Mönch später an Mohammed weiter gab, bezeugen das Kommen des Propheten.

Bei Johannes von Damaskus (650-754) lesen wir Folgendes: „Da aber trat unter ihnen ein falscher Prophet auf, ‚Mamed‘ genannt, der eine eigene Irrlehre ins Leben rief, nachdem er flüchtig Kenntnis vom Alten und Neuen Testament gewonnen hatte und zugleich offenbar mit einem arianischen Mönch zusammengetroffen war.“ Die orthodoxe Perspektive ist deutlich: Der Islam ist eine Irrlehre, die vom Arianismus, der die Gottessohnschaft Christi ablehnt, begünstigt wurde. Nikolaus von Kues kommt so später zu dem Schluss, dass Mohammed unter dem Einfluss des Mönches zum Nestorianer geworden sei.

Die jüdische Überlieferung führt einen weiteren Aspekt ein. Sie greift eine im Heiligen Land verbreitete Legende auf, dass der Kontakt des Mönches mit Mohammed so eng wurde, dass dessen Gefährten eifersüchtig wurden, den Mönch ermordeten und Mohammed als Täter hinstellten.

Da dies während eines Trinkgelages stattfand, verbot Mohammed später den Muslimen jeglichen Alkoholgenuss.

Und noch eine Anekdote ist berichtenswert: Danach soll der Mönch der erste gewesen sein, der ein Gemälde von Mohammed angefertigt hat. Auf dieses Gemälde wird das Poster des jungen Mohammed zurückgeführt, das im Iran außerordentlich populär ist und sogar von Khomeini geschätzt wurde und in dessen Museum ausgestellt ist.

Von der Begegnung Mohammeds mit dem Mönch be­rich­ten auch muslimische Bilder, etwa in der mon­go­li­schen Weltgeschichte des Raschid ad Din von 1315.

Kommen wir zurück zum Kupferstich des jungen Lu­cas van Leyden. Er sticht das Bild in einer Zeit, in der die Begegnung zwischen Christen und Muslimen nicht durch extreme Konflikte geprägt war. Im Vordergrund sehen wir die Darstellung jenes Erzählstranges, der von der Ermordung Bahiras durch Mohammeds Gefährten berichtet. Wir können sehen, wie dieser gerade vorsichtig Mohammed das Schwert unterschiebt. Der Mönch liegt mit durchtrennter Kehle rechts im Vordergrund. Das das Verbrechen erleichternde Weingefäß hängt am Baum. Es ist nicht ganz klar, was das Bild auf der mittleren Bildebene erzählt. Vielleicht ist es das Detail mit dem schattenspendenden Baum, der den Mönch einst auf Mohammed aufmerksam machte; vielleicht ist es auch die Darstellung der Verabredung der Gefährten des Mohammed zur Ermordung des Mönches. Im Hintergrund sehen wir das Gespräch zwischen dem Mönch und dem Leiter der Karawane des Mohammed. Jedenfalls zeigt Lucas van Leydens Bild nicht, wie die Wikipedia aufgrund von Meyers Konversationslexikon von 1888 im Artikel über Lucas van Leyden fälschlicherweise behauptet, die Ermordung des Mönches durch den trunkenen Mohammed. Das ist eine antiislamische Legende, die sich van Leyden gerade nicht zu Eigen gemacht hat, auch Mohammed ist hier Opfer.

Das Bild ist somit Teil einer Wirkungsgeschichte einer Legende, welche die Phantasie der Menschen je nach religiösem Lager bis heute inspiriert hat. Muslime konnten aus ihrem Teil die Gewissheit beziehen, dass auch Christen und Mönche Mohammed als Gottes Propheten (an)er­kannt haben. Christen konnten darauf verweisen, dass dieser Mönch einer Sekte angehörte, die immer schon Zweifel an der Gottessohnschaft Christi hatte. Und der jü­dischen Überlieferung diente die Figur als Möglichkeit, Zweifel an der Offenheit und Treue von Christen und Muslimen zu säen. Allen diente der Mönch Bahira als Figur zwischen den Welten, als Zeichen­kundler und Kommunikator.

Das Bild ist einem gewissen Sinn ätiologisch: es erklärt den Christen zum einen, warum Muslime keinen Alkohol trinken. Es erklärt zum zweiten, warum manche Christen auch in Mohammed einen Propheten erkennen können. Es erklärt zum dritten die Kenntnisse, die Mohammed von der Heiligen Schrift hatte und macht schließlich deutlich, dass dies zu heftigen Kontroversen in der muslimischen Gemeinde geführt hat. Alles andere ist nur ideologische Zuspitzung der jeweiligen beteiligten Gruppierung im je eigenen Interesse. Das macht das Bild so interessant.  

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/126/am70x.htm
© Andreas Mertin, 2020