Autre Ne Veut - Age of Transparency (2015 – 6:11) [Clip]

In der Ausgabe zum Totentanz im Jahr 2016 hatte ich kurz einen Videoclip vorgestellt, den ich damals (und heute) ganz passend zum Thema Tod fand. Nun, vier Jahre später, unter dem Eindruck der Corona-Epidemie, betrachte ich ihn in etwas erweiterter Perspektive. Neue und präzisere Lesarten werden sichtbar. Damals schrieb ich:

Wenn der Tod aufspielt im Videoclip zu „Age of Transparency“ von Autre Ne Veut, dann knüpft er unmittelbar an die Vorstellungen an, die wir … kennen …, nur dass er die Idee, dass der Tod alles, was er anfasst, verwandelt, aus dem Mittelalter in die Zukunft transformiert. Hier laufen wir durch eine transluzide Zukunft, in der wir auf Menschen stoßen, die zu Stein erstarrt sind. Nach und nach erkennen wir, dass es der Sänger ist, der alles, was er anfasst, zu Tode erstarren lässt. Das Zeitalter der absoluten Transparenz ist das Zeitalter des abgestorbenen Lebens.

Das war relativ abstrakt dahingeschrieben (auch wenn ich den Clip weiterhin als Totentanz deute), aber wie eigentlich alle Botschaften von Propheten (προφήτης) füllt es sich erst später mit Sinn und Bedeutung. Das schwer zu Imaginierende, wie ein Virus von Person zu Person springt und eine ganze Stadt, eine Gesellschaft, ja die Welt zum Stillstand bringt, nimmt in diesem hellsichtigen Videoclip Gestalt an.

Vergegenwärtigen wir uns: In den Vereinigten Staaten von Amerika sind bis zum heutigen Tag über 100.000 Menschen am Coronavirus infiziert, die Hälfte davon in New York. Wenn man die Zahl der Infektionen in New York mit denen in Deutschland vergleicht, so sind innerhalb nur weniger Tage in New York so viele Menschen erkrankt wie in Deutschland in einem Monat und man beklagt fast doppelt so viele Tote. Und das ist erst der Anfang.

Die Bilderwelt des Clips

 

Der Videoclip eröffnet mit einem Blick auf einen schlohweiß erstarrten Mann, der auf den Stufen eines Eingangs eines (New Yorker?) Bürohauses sitzt. Die Kamera schwenkt um und zeigt eine menschenleere Stadt.

Danach ist sie in einem Bürogebäude und durchfährt verschiedene Stockwerke und Räume, wo sie immer wieder auf blässliche erstarrte Angestellte trifft. Mitten in der Bewegung hat diese irgendetwas erfasst und aus dem Leben gerissen. Es sind beklemmende Bilder, die einen an die ausgegrabenen erstarrten Figuren aus Pompeji nach dem Ausbruch denken lassen könnten. Scheinbar unbeeindruckt davon läuft der jugendliche Sänger durch die Szenerie, trifft auf die Erstarrten, kommt ihnen nahe und tanzt weiter. Er tanzt durch die Büroräume von Angestellten, die schon erstarrt sind und er tanzt über Tische seinen einsamen Totentanz. Schritt für Schritt durchstreift er das Gebäude mit unausweichlicher Konsequenz. Eine junge, bisher noch nicht erfasste Frau hat sich ängstlich unter einem Tisch verborgen, sie praktiziert quasi soziale Distanzierung, hält sich von all den anderen bereits Betroffenen fern. Allein es hilft ihr nicht, der Tänzer kommt näher und näher. Sie versucht, dem Schicksal zu entfliehen, aber sie entkommt ihm nicht. Geradezu diabolisch streckt der Sänger seinen Finger aus, der Kontakt ist da, der Virus breitet sich über die Hände aus, er erfasst die Arme, den Hals, bis schließlich der ganze Körper befallen ist. Es gibt keinen Ausweg. Wenn man einmal infiziert ist, gibt es keinen Schutz und kein Entkommen.

Und dann, wenn alle Menschen im Gebäude erstarrt und erfasst sind, verschwindet der Sänger (Virus) vor den Augen der Betrachter, er hat sein Werk getan. Und so fährt am Ende des Clips die Kamera auf das Fenster des Bürohauses zu und nimmt nun die ganze trostlose Stadt in den Blick, die nach und nach im Grau der Erstarrung verschwindet.

Es fällt nun Ende März 2020 schwer, diesen Clip nicht unter dem Eindruck des sich ausbreitenden Corona-Virus insbesondere in New York zu lesen und zu deuten.

Autre Ne Veut (Arthur Ashin), ist ein 1982 geborener Songwriter und Musiker, der in New York lebt. „Age of Transarency“ ist sein drittes Album. Über das Album schreibt ein Kritiker auf allmusic.com:

As an artistic statement about warmth vs. transparency, Ashin has hit his mark with an album that is as beautiful as it is uncomfortable.

Ja, schön, ästhetisch morbid und damit unkomfortabel ist es tatsächlich. „Telling the world you won't erase me“, singt Ashin an einer Stelle. Hoffen wir’s.

Der verantwortlichen Regisseurin Allie Avital ist mit diesem Videoclip ein außerordentlich prophetisches Werk gelungen. Vielleicht war es 2015, als das Musikvideo entstand, nur ein ästhetisches Spiel, heute ist es bittere Realität. Aber für diese Realität schafft Allie Avital eine visuelle Metapher der Jetztzeit.

P.S.

Besonders interessant ist ein Moment des Clips, in dem der Sänger sich in einem Büroraum befindet und eine Sekretärin vor dem Computerbildschirm beiseiteschiebt und dann sich selbst googelt, worauf zahlreiche Bilder seiner selbst auf dem Monitor erscheinen. Das ist die implizite Logik eines Virus:

Viren … sind infektiöse organische Strukturen, die sich … durch Übertragung verbreiten, aber als Viren nur innerhalb einer geeigneten Wirtszelle vermehren können. Alle Viren enthalten das Programm zu ihrer Vermehrung und Ausbreitung (einige Viren auch weitere Hilfskomponenten), besitzen aber weder eine eigenständige Replikation noch einen eigenen Stoffwechsel und sind deshalb auf den Stoffwechsel einer Wirtszelle angewiesen. Daher sind sich Virologen weitgehend darüber einig, Viren nicht zu den Lebewesen zu rechnen. Man kann sie aber zumindest als „dem Leben nahestehend“ betrachten, denn sie besitzen allgemein die Fähigkeit zur Replikation und Evolution. [wikipedia]

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/124/am695.htm
© Andreas Mertin, 2020