Der Traum des Professors

Oder: Was lehren uns leere Städte?

Andreas Mertin

Der Schock der Leere

In der zweiten Hälfte der Nacht auf Samstag, den 1. Juni hatte ich einen besonderen und äußerst unangenehmen Traum. Ich träumte, dass ich bei meinem Morgenspaziergang in einen unbekannten Teil der Stadt geriet, wo die Straßen verlassen und die Häuser baufällig waren.

Mit diesen Worten eröffnet der Film „Wilde Erdbeeren“ von Ingmar Bergman aus dem Jahr 1957. Der Protagonist Isak Borg, ein 78-jähriger Medizinprofessor kurz vor seinem 50-jährigen Promotionsjubiläum, irrt in seinem Alptraum durch menschenleere Straßen einer ihm unbekannten Stadt, stößt auf eine zeigerlose Uhr und begegnet dann einem gesichtslosen Wesen, das sich vor seinen Augen ins Nichts auflöst. Plötzlich rollt eine Totenkutsche mit einem Sarg durch die leeren Straßen auf ihn zu, gerät ins Straucheln, der Sarg fällt herunter, der Deckel öffnet sich und er sieht sich selbst im Sarg liegen. Er ergreift die eigene Hand – und dann wacht er auf.

Städte ohne Menschen, so empfindet es der Professor Isak Borg, sind schrecklich unangenehm. Städte sind auf Menschen angelegt. In Bergmanns Film ist die menschenleere Stadt eine Metapher auf eine Existenz, die menschlichen Werten zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet hat.

Diesen (Alp-) Traum von uns plötzlich geradezu unbekannt erscheinenden, weil menschenleeren Straßen und Stadtvierteln kann man im Augenblick überall real erleben, ob man sich nun in Italien, Spanien, Österreich oder auch New York befindet. Man schläft abends ein, weiß nichts von Corona und schon gar nicht von seinen Folgen, und befindet sich plötzlich an wohlvertrauten Orten, nur dass alle Menschen fehlen. Details, die man sonst wohl übersehen hätte, werden plötzlich bedeutsam und deutungsbedürftig.


Die cineastische Lehre

Eine überaus verstörende Vorstellung, cineastisch freilich in vielen post-apokalyptischen Filmen der letzten Jahre und Jahrzehnte durchgespielt.

Man könnte an „Quiet Earth – Das letzte Experiment“ von 1985 denken. Darin geht es um einen Wissenschaftler, der an einem internationalen Projekt arbeitet, das ein Energienetz rund um die Erde legen möchte, das von überall angezapft werden kann. Eines Nachts wacht er in seinem Schlafzimmer auf und stellt fest, dass auf mysteriöse Weise alle Menschen um ihn herum verschwunden sind.

Auch der Kinofilm „I am Legend“ von 2007 gehört zu diesen Alptraumfilmen mit einem Szenario menschenleerer Städte. Ein Virologe scheint im Jahr 2017 der letzte lebende Mensch in New York City zu sein. Drei Jahre zuvor wurde von Wissenschaftlern ein Masern-Virus modifiziert, weil man sich ein Heilmittel gegen Krebs erhoffte. Aber das Virus mutierte und tötete in der Folge 5.400.000.000 Menschen. Nur 600.000.000 Menschen überlebten, von diesen erwiesen sich aber nur 12.000.000 Menschen als immun gegen das Virus. Alle anderen entwickeln ein ausgeprägtes Krankheitsbild, das dem der Tollwut gleicht. Sie geraten in einen tierähnlichen Zustand, werden von Hunger getrieben und entwickeln darüber hinaus einen grenzenlosen Hass gegen alle, die nicht infiziert sind. Äußerlich verlieren sie ihre Haare und werden empfindlich gegenüber dem UV-Licht, weshalb sie sich tagsüber in dunklen Gebäuden verstecken.  Sie entwickeln darüber hinaus einen höheren Puls, schnellere Atmung und Stoffwechsel sowie haben eine erhöhte Körpertemperatur.

Soweit wie in den Kinofilmen ist es zurzeit noch nicht, selbst wenn Hunde inzwischen die plausibelste Begründung sind, in menschenleeren Städten herumzulaufen. Stattdessen talken die Leichtinfizierten in den Social Media und sagen, so schlimm sei es gar nicht. Von Schwerkranken erfahren wir nur, insofern sich das Ganze bei anderen Nationen abspielt.

Aber die Kinofilme zeigen, wohin unsere Befürchtungen tendieren und wozu unsere Hoffnungen verführen. Im Hollywood-Kino ist es natürlich der starke Mann, der konsequent seinen Weg sucht, als Retter auftritt und sich furchtlos durch die menschenleeren Städte bewegt. Der Alptraum ist handelbar, solange der Held überlebt, mögen auch mehr als 5 Milliarden Menschen gestorben sein.

Der Traum des Professors im Film „Wilde Erdbeeren“ ist kein kollektiver, sondern ein individueller. Er zeigt uns kein Gedankenspiel wie im ausgezeichneten Kurzfilm „Waltzing Tilda“, den ich am Ende dieses Impulses vorstelle. Der Alptraum des Professors stellt die existenzielle Frage: was wäre, wenn ich auf mich allein gestellt wäre? Wenn die Isolation vollkommen wäre? Wenn die einzige Begegnung, die mit mir selbst im Sarg ist? Aber diese Fragen stellen in der aktuellen Situation nur wenige. Im Augenblick sind wir nur mit dem Anfang der Krise konfrontiert. Und fragen uns schon nach 14 Tagen, wie lange es noch dauern wird, bis alles vorbei ist.


Das Schweigen der Städte

Und dennoch sind es aufregende Zeiten, in denen man schreibt. Es ist quasi eine Inversion jener Erfahrungen, die man vor elf Jahren angesichts der nächtlichen Banshee-Schreie der grünen Revolution machen konnte. Damals waren die Menschen im Iran tagsüber auf den Straßen und nachts schrien sie ihre Wut von den Dächern und erfüllten die iranischen Städte auf ihre Weise mit Leben. Und all das spiegelte sich damals in Bildern im Netz.

Heute ist fast die ganze Welt vom Corona-Virus beherrscht, das öffentliche Leben wird heruntergefahren und gelangt langsam zum Stillstand. Gerade jene Orte auf dem europäischen Kontinent, die sonst rund um die Uhr das pulsierende gesellschaftliche Leben repräsentierten, zeichnen sich nun durch eine gespenstische Leere aus, die der zeigerlosen Uhr aus dem Alptraum des Professors nicht unähnlich ist.

Unsere Erinnerungen an konkrete Städte sind oft bestimmt von Kurzreisen und damit von einem Gefühl der Fremdheit oder Vertrautheit dieser Orte. Walter Benjamin schreibt 1912:

„Es fiel mir auf, wie schnell Venedig mich als etwas ganz Reales und ganz Selbstverständliches umgab, wie sehr ein 2 oder 3 tägiges Leben auch das Fremdeste und Schönste zum Angenehmen oder Unangenehmen, Praktischen oder Widrigen macht.“

Was macht der Corono-Virus aus diesen vertraut-unvertrauten Orten? Um das festzustellen, rufe ich auf Skyline die Webcams verschiedener italienischer und spanischer Städte auf, jene, mit denen mich persönlich etwas verbindet und in denen ich in den letzten Jahren gewesen bin. Mich interessiert, was aktuell dort geschieht.


Der Markusplatz in Venedig


Zunächst Venedig, weil man sich diesen Ort gar nicht anders vorstellen kann, als ein von zehntausenden Touristen durchwanderten Ort – nicht nur tagsüber, sondern auch nachts. Aber jetzt ist der Markusplatz tags wie nachts leer – selbst die Tauben meiden den Ort. Man kann sich das nicht wirklich vorstellen, wie ein Ort, der über Jahrtausende von Leben erfüllt war, nun wie in einem postapokalyptischen Szenario in Stille versinkt. Nur die italienische Ordnungsmacht patrouilliert ab und an über den Platz, aber das macht das Geschehen nur umso entsetzlicher.

Der zwanzigjährige Walter Benjamin schildert im autobiographischen Bericht „Meine Reise in Italien Pfingsten 1912“ seinen Eindruck vom abendlichen Leben auf dem Markusplatz:

Es war an diesem Abend die zweite … Illumination des Markus-Platzes … Es war schwer über den Platz zu kommen, der voller Menschen ist. In der Mitte sitzt auf einer hölzernen Tribüne die Militärkapelle, die mit der Nationalhymne eröffnet. Darauf: die Aufforderung zum Tanz. Hundertstimmiges Johlen und Pfeifen übertönt die ersten leisen Takte. Die Kapelle beginnt von neuern ... dasselbe erfolgt. Niemand weiß, worum es sich handelt. Aber das Volk beruhigt sich nicht, bis die Nationalhymne wiederholt wird … Der Platz ist übertaghell, der Himmel scheint dicht über ihm in ganz tiefer Schwärze zu liegen. Man glaubt in einer Stadt zu sein, die zum Saal geworden ist. Die Leute bewegen sich in dieser Helle wie in einem Fest. Neben unserem Tisch sitzen Deutsche, Breslauer, mit denen wir ein wenig sprechen. Von Zeit zu Zeit erlöschen alle Birnen auf einige Sekunden. Ein betrübtes Murmeln durchläuft den Platz, lautes Johlen, wenn alles wieder aufleuchtet. Weiße Glühbirnen erleuchten die Fassaden bis auf den Mittelstock des Atrio, dessen Bogenöffnungen stets mit braunen Portieren verhängt sind; braun-gelbe Glühbirnen kränzen jetzt diese Bogen. An den Tischen laufen Jungen vorbei, die Karten von der Illumination verkaufen. Die Bilder geben natürlich garkeinen Eindruck von der Helligkeit des Platzes. Vor 12 Uhr erloschen die Lampen.


Der Dom von Mailand


Die nächste Webcam bietet mir tags wie nachts einen Live-Blick über den Platz vor dem Dom von Mailand. Links schaue ich auf den Eingang der berühmten Viktor-Emanuel–Passage, die normalerweise selbst tief in der Nacht voller flanierender Menschen ist. Nun aber bewachen Polizeiautos den Eingang und niemand strömt aus der Passage oder betritt den Dom. Es herrscht Leere – 24 Stunden lang.

Walter Benjamin, der vor seinem Besuch in Venedig zuerst in Mailand gewesen war, konnte mit dem riesigen Platz vor dem Dom wenig anfangen. Auch die damals ja schon existierende und Menschenmassen anziehende Galleria Vittorio Emanuele II findet bei Benjamin, der später so beredte Worte über Flaneure und Passagen finden wird, keine Erwähnung. Dabei wäre der Besuch der Passage aussagekräftiger gewesen als der Besuch des Friedhofs, den Benjamin ausführlich (und herablassend) schildert.

Heute meldet mir Google Maps, die Viktor-Emanuel-Passage sei „Vorübergehend geschlossen“ (ebenso wie der Burger King direkt daneben). Alle historischen Bilder zeigen den Platz vor dem Dom aber als einen stets von Touristen wie Einheimischen gefüllten Platz, ich erinnere mich vom letzten Besuch an Gaukler, Feuerspucker, Straßenhändler und viele Polizisten. Und nur letztere sind heute übriggeblieben, alle anderen sind verschwunden.


Die spanische Treppe in Rom


Ich klicke weiter zur Spanischen Treppe in Rom, auch dies ein pulsierender Kult-Ort des Lebens, aber jetzt ist der Platz menschenleer, nur ab und an fährt ein Polizeiauto oder ein Müllwagen vorbei. Ansonsten bleibt es eine gespenstisch leere Szene. Das Mikrofon der Webcam gibt nur noch das Rauschen der Fontana della Barcaccia wieder. Ganz selten tauchen einzelne Mundschutz tragende Menschen im Blickfeld der Webcam auf, die das Ausgehverbot missachten und nun staunend durch die postapokalyptische Kulisse laufen. Ich kenne keine vergleichbaren Bilder. Es ist unwirklich – über alle Maße hinaus. Aber auch von einer faszinierenden Morbidität.

Die spanische Treppe (von Ludwig Tieck)

Viel schon seit Wochen
Verdank' ich dir, du hohe Stiege,
Mein freundlicher Nachbar.
So wie die Gläubigen fromm
Dort am Lateran
Auf heiliger Staffel knien,
So nun seit Wochen
Wandl' ich, wenn die heiße Mittagssonne
Brennend nieder scheint,
Die edlen Stufen auf und ab,
Schau mich oben um,
Erblicke unter mir Rom,
Und dort den Vatikan und Peters Dom,
Steige wieder hinab,
Und übe mich im ermüdenden Spiel,
Fast bis die Kräfte schwinden.
Schon fühl' ich mich leichter,
Heitrer, kräftiger,
Die Fesseln lösen sich gelinde,

Und dankbar schau' ich hinauf
Zu meinem hohen Arzte.
Doch das Volk der Römer,
Die wie die Schlange die Sonne scheun,
Und weite Umkreise ziehn,
Dem Schatten folgend,
Schauen bedenklich,
Die Häupter schüttelnd,
Aus kühlen Räumen,
Und hinter vergatterten Fenstern,
Auf das deutsche Wunder.
Geht doch die Weltuhr jetzt
In allen Reichen
Neuen, niegesehenen Gang,
Wird man doch überall
Das Unerhörte gewohnt;
So sieht auch schon trägern Auges,
Der weniger Staunende
Mein Treppenbad ruhiger an.


Heute aber schreitet kaum einer die Treppe auf und ab, nur vereinzelte Römer treibt es mit der Kamera in der Hand an diesen Ort, um die leere Treppe für immer festzuhalten. Selbst die Wache schiebenden Polizisten machen Bilder vom menschenleeren „Treppenbad“.


Puerta del Sol in Madrid


Der nächste Klick führt mich zur Puerta del Sol, dem Zentrum von Madrid. Sie ist nahezu menschenleer, ein einsames Taxi steht an der Reiterstatue von Carlos II. Zuletzt war ich auf diesem Platz während einer Semana Sancta, und gefühlte Millionen Menschen drängelten sich an den Prozessionswegen entlang. Die Differenz der Bilder ist beklemmend. Das einzige, was einem deutlich macht, dass wir uns tatsächlich nicht in postapokalyptischen Zeiten befinden, ist die funktionierende Beleuchtung der Städte, ihre Illuminationen, die auch jetzt nicht aussetzen.

1841 schreibt das Bilder-Conversations-Lexikon des Brockhaus-Verlages über die Puerta del Sol:

Die meisten Straßen sind jedoch ausnehmend reinlich, gut gepflastert und mit Bürgersteigen von Steinplatten versehen; die schönste Straße ist die 1/2 Stunde lange und sehr breite Calle de Alcala, in deren zahlreichen Wirthshäusern die meisten Fuhrleute, Landkutscher und Maulthiertreiber einkehren. Sie führt vom Thore von Alcala ansteigend nach dem sogenannten Sonnenthor (Puerta del Sol), was aber kein Thor, sondern ein fast im Mittelpunkt M.'s gelegener, nicht sehr großer Platz [er wurde erst später erweitert, A.M.] ist, den ein Springbrunnen und das prächtige Postgebäude zieren und von dem hier eine Ansicht gegeben ist. Dieser Platz bildet den Hauptversammlungsort der Bevölkerung zu allen Stunden des Tages, namentlich aber bei Sonnenuntergang, und spielt daher bei Volksbewegungen immer eine Rolle; nördl. stößt daran die Calle de Montera, wo sich die glänzendsten Kaufladen befinden. Ausgezeichnete Plätze sind außerdem der Kornmarkt (Plaza de la cevada) und der viereckige, ziemlich regelmäßige, große Marktplatz (Plaza major), auf dem bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts die Autos da Fe stattfanden.

An die Autodafés möchten wir natürlich nicht erinnert werden, momentan haben wir andere Sorgen. Obwohl es bis Ostern noch dauert, haben Mitte März Sevilla, Málaga und Madrid und andere Städte die traditionellen Prozessionen während der Semana Santa abgesagt. Kann man sich das vorstellen – ein menschenleeres Madrid während der Semana Santa?


 

Wenn man all diese europäischen Stadtzentren und diese prominenten Orte auf den Webcams über mehrere Tage bzw. Nächte verfolgt, dann wird einem klar, dass für einen alptraumhaften Moment das Zentrum selbst zu einer Art Vor-Stadt wird und damit zu dem, was Walter Benjamin in seinen Schriften „Weichbild“ nannte, also Bereiche, in denen plötzlich andere Gesetze und Regeln herrschen, die erst noch erkundet bzw. entworfen werden müssen.

Vorstädte. Je weiter wir aus dem Innern heraustreten, desto politischer wird die Atmosphäre. Es kommen die Docks, die Binnenhäfen, die Speicher, die Quartiere der Armut, die zerstreuten Asyle des Elends: das Weichbild. Weichbilder sind der Ausnahmezustand der Stadt, das Terrain, auf dem ununterbrochen die große Entscheidungsschlacht zwischen Stadt und Land tobt. … Es ist der Nahkampf von Telegraphenstangen gegen Agaven, Stacheldraht gegen stachlige Palmen, Nebelschwaden stinkender Korridore gegen feuchtes Platanendunkel brütender Plätze, kurzatmigen Freitreppen gegen die mächtigen Hügel … und über all dem der Staub, der hier aus Meersalz, Kalk und Glimmer sich zusammenballt und dessen Bitternis im Munde dessen, der es mit der Stadt versucht hat, länger vorhält, als der Abglanz von Sonne und Meer in den Augen ihrer Verehrer.

Etwas von der Trauer kam über mich, die ich im Licht von Monticellis Bildern noch heute liebe. Ich glaube, in solchen Stunden teilt sich dem Fremden, der sie erlebt, etwas mit, das sonst nur die Alteingesessenen verspüren. Denn die Kindheit ist der Quellenfinder der Trübsal, und um die Trauer so ruhmreich strahlender Städte zu kennen, muss man in ihnen Kind gewesen sein.

So beschreibt es Walter Benjamin in seinen Schilderungen seiner Haschisch-Experimente in Marseille. Es lässt sich durchaus auf andere ruhmreich strahlende Städte übertragen.

Bei Städten, so hält es das Wörterbuch der Brüder Grimm fest, bezeichnet Weichbild seit dem 13. Jahrhundert die Bannmeile, ein Gebiet, in dem das sogenannte Weichbildrecht gilt. Das Wort Bild hat nichts mit unserem Bild zu tun, sondern mehr mit „Bill“ wie wir es heute im Wort „Unbill“ kennen. Jedenfalls kennzeichnet es spezifische Abgrenzungen von Ordnung und Chaos:

weichbild heiszet soviel als ein flur oder gemärcke. nach dem sächsischen rechte ist es soviel, als jus municipale, willkühr oder stadtrecht, wie auch das gebieth um eine stadt herum, und wurde selbiges vor alters durch ein höltzernes creutz an den grentzen, auf welchem eine hand und ein schwerdt stunde, angedeutet.


In neuen Situationen müssen auch die Ordnungsmächte ihre Rolle erst finden. Das kann man an kleinen Details beobachten. In Rom soll die Polizei an der Spanischen Treppe die Einhaltung der Leere / Lehre der Stadt kontrollieren. Das ist eine Stunde lang interessant, aber irgendwann reicht es den Polizist*innen auch. Gegen Mitternacht, wenn kaum noch Bürger auf den römischen Straßen zu sehen sind, vollzieht sich eine Art Ritual. Es treffen sich diverse Streifenwagen der Polizia Stradale an der Spanischen Treppe und halten ein Schwätzchen. Nach einiger Zeit löst sich das Ganze wieder auf und die Polizist*innen setzen ihre Streifen fort. Was man auch beobachten kann, ist, dass die Carabinieri, die ebenfalls durch die Stadt kurven, sich an diesen Treffen nicht beteiligen. Es ist aber, als ob die Polizist*innen dieses Rituals bedürften, um mit der besonderen Situation der Leere / Lehre der Stadt fertig zu werden.

All dies sind große und/oder berühmte Städte, die auf Anordnung ihrer Obrigkeiten nach allen wissenschaftlichen-medizinischen Prognosen und Vorgaben zur Stille und zur Leere verurteilt wurden. Im Gegenzug können sie natürlich von derselben Obrigkeit aufgrund analoger Vorgaben wieder freigegeben werden und würden sich sofort wieder mit Leben füllen. Nur vergessen können wird man das vorher Geschehene / Gesehene nicht. Es wird sich wie ein Alptraum, aus dem man wieder aufgewacht ist, dauerhaft in die Erinnerung einschreiben. Es wird sozusagen zum Mem: Das Jahr, in dem die Welt stillstand, als eine Corona-bedingte Leere die Städte erfüllte. Es ist ähnlich wie seinerzeit die leeren Autobahnen in Deutschland während der Ölkrise 1973, die mit einem Schlag eine automobile Nation zum Stillstand brachte.

Es gibt noch andere interessante Formen der Wahrnehmung von leeren Städten – ihre Wahrnehmung als perfekte Ordnung und ihre Wahrnehmung als Verlust der Ordnung und der Orientierungslosigkeit. Mit dem einen beschäftigen sich die Bilder der Architekturtheorie, mit dem anderen der Kinofilm, die Doku-Fiction und die Psychoanalyse.


Exkurs: Der Anthropozentrismus der Webcams

Bevor ich auf die Architekturbilder eingehe, noch kurz eine andere Beobachtung: Erst das Blättern in den Architekturtraktaten der Renaissance, denen ich mich im nächsten Abschnitt zuwende, machte mir mit einem Schlag deutlich, dass bei der Mehrzahl der Webcams auf dieser Welt zwar die Architektur in Gestalt bedeutender Plätze, Gebäude und Treppen vorkommt, aber nur die allerwenigsten Webcams architekturorientiert platziert sind.

Sie sind schlicht anthropozentrisch ausgerichtet. Sie beobachten nicht die Architektur, sondern zeigen das Verhalten der Menschen vor der Architektur. Und dazu werden sie so angebracht, dass sie gerade nicht die perfekte Perspektive einnehmen, wie wir sie in der Mehrzahl der Architekturtraktate finden können, sondern aus der beobachtenden Rand-Perspektive ihren Fokus auf den Menschen legen.

Ein Beispiel: Drei Webcams sind an der Spanischen Treppe eingerichtet. Die am höchsten gelegene Webcam fokussiert sich auf jene Menschen, die vom Obelisco Sallustiano auf das Panorama der Stadt blicken. Die vom Obelisken ausgehende zentrale Perspektive kann man nur erahnen.

Die zweite Webcam ist auf halber Höhe angebracht und wirkt zur Zeit so gespenstisch, weil sich nichts, aber auch gar nichts auf dem Bild tut und man nur an den unmerklichen Bewegungen der Palme erkennt, dass man ein Livebild vor sich hat. Diese Webcam lebt ganz von den Menschen, die normalerweise hier sitzen und stehen.

Die dritte Webcam unten an der Piazza di Spagna ist auch nicht wirklich auf die Spanische Treppe fixiert, sondern fängt das Verhalten der Menschen vor dieser Treppe ein. Keine Webcam gibt die Anlage der Spanischen Treppe so wieder, wie sie sich aus der Perspektive ihrer Konstrukteure ergibt. Es gibt jedoch einen Stich von Giovanni Battista Piranesi aus dem Jahr 1748, welcher die Perspektive der unteren Webcam einnimmt, den Platz also von der Seite zeigt. Und auch auf diesem populären Stich ist der Blick auf die Menschen und ihr Leben bezogen.


Denn das ist die Realität und Normalität der spanischen Treppe, die sich rückblickend aus zigtausenden Fotos im Internet, aber auch aus der eigenen Erfahrung ergibt.

Trotz aller schon zuvor ergangenen Dekrete der römischen Stadtverwaltung der vergangenen Jahre, die das quirlige touristische Leben auf und an der Spanischen Treppe regulieren sollten (kein Sitzen auf der Treppe, keine Souvenirstände an der Treppe etc.), ist und blieb sie ein Ort der Menschen, zum Sehen und Gesehen werden.

Hier verabredet man sich, hier inszeniert man sich und hier genießt man das Leben. Es ist nicht zuletzt ein Ort der Jugendlichen.

Für einen Hollystar stand die Spanische Treppe in Rom am Beginn des Aufstiegs zur großen Filmkarriere: Audrey Hepburn, die 1953 mit Gregory Peck in Roman Holiday (Ein Herz und eine Krone) eine moderne Prinzessin spielte und für diese Darstellung den Oscar als beste Hauptdarstellerin bekam.

Exkurs: Museales

Unten an der Spanischen Treppe befinden sich zwei Museen: das Keats-Shelley House (Foto) und direkt daneben das Giorgio de Chirico House.

In seinen Memoiren schreibt Giorgio de Chirico über seine Wohnung an der Spanischen Treppe (von der aus man direkt auf die Kirche Santissima Trinità dei Monti blicken kann):

„Dicono che Roma sia il centro del mondo e che piazza di Spagna sia il centro di Roma, io e mia moglie, quindi, si abiterebbe nel centro del centro del mondo, quello che sarebbe il colmo in fatto di centrabilità e il colmo in fatto di antieccentricità.“ -

„Sie sagen, dass Rom im Zentrum der Welt liegt und dass sich die Piazza di Spagna im Zentrum von Rom befindet. Daher würden meine Frau und ich tatsächlich im Zentrum des Zentrums der Welt leben, das der Höhepunkt wäre der Zentralität und der Höhepunkt der Anti-Exzentrizität.“

Und dieses Zentrum des Zentrums der Welt ist nun menschenleer, es ist zwar weiter als Bild sichtbar, aber der Bezugspunkt scheint verloren gegangen zu sein. Darin entspricht es nun den ebenfalls fast menschenleeren schattenhaften Bildern Giorgio de Chiricos wie etwa „Melancholie und Geheimnis einer Straße“ von 1914.  


Ein Traum der entwerfenden Vernunft


Die menschenleere Stadt – Ein Traum der entwerfenden Vernunft

Nun gibt es eine Jahrhunderte alte Tradition der Kunst- und Kulturgeschichte, bei der Bilder von menschenleeren Städten eine zentrale Rolle spielen. Es sind die illustrierten Bücher der Architekturtheorie und die gemalten Entwürfe idealer Städte. Architekten in der Renaissance zeichneten ihre Stadtentwürfe zunächst einmal menschenleer, um einen präzisen Eindruck der Bauten und ihrer Perspektiven zu vermitteln. Eher bauten sie Statuen in die Entwürfe ein als Menschen. Antonio Averlino, genannt Filarete (1400-1469) entwirft in seinen 25 Bände umfassenden Architekturtraktat eine ideale Stadt mit Namen Sforzinda und seine Zeichnungen sind menschenleer. Treffend finde ich die Charakterisierung der englischen Wikipedia:

The design of Sforzinda may have been in part a direct response to the congested cities of the Medieval period, whose organic growth did not ordinarily depend on conscious city planning, which meant they could be difficult to navigate or control. In part, the Renaissance humanist interest in classical texts may have stimulated preoccupations with geometry in city layouts, as for example, in Plato's description of Atlantis. Filarete’s ideal plan was meant to reflect on society – where a perfect city form would be the image of a perfect society, an idea that was typical of the humanist views prevalent during the Renaissance. The Renaissance ideal city, implied the centralized power of a prince in its organization …  Thus, it could be argued that the Renaissance ideal city form was tensioned between the perceived need for a centralized power and the potential reality of tyranny.

Die ideale Stadt ist aber auch ein Titel, der auf drei ziemlich ähnliche Renaissance-Gemälde zutrifft. Bei allen dreien weiß man nicht genau, wer sie geschaffen hat. Heute sind sie an drei weit entfernten Orten aufbewahrt, nach denen sie auch manchmal benannt werden: Die ideale Stadt von Urbino, Baltimore und Berlin. Alle drei Gemälde stammen aus dem späten 15. Jahrhundert. Es gibt eine fortdauernde Diskussion über den Zweck der Bilder, auffällig ist zumindest, dass sie alle in einem ungewöhnlich langgestreckten Format angefertigt wurden. Es wirkt, als ob es unter Künstlern einen Wettbewerb der Ideen gegeben hätte.


Die ideale Stadt (Baltimore-Fassung)

Beginnen wir mit dem Kunstwerk, auf dem noch einige Menschen wahrzunehmen sind. Auch wenn das Bild auf den ersten Blick fast leer erscheint, so sind doch immerhin 21 Bürgerinnen und Bürger zu entdecken. Die Hälfte davon als Personenansammlung links auf halber Bildhöhe, alle anderen schön perspektivisch angeordnet über das Bild verstreut.

Aber dennoch verschwinden die Menschen vor der Architektur. Fünf größere Gebäude dominieren das Bild, lassen im Hintergrund aber noch eine weitere geordnete Stadtlandschaft erkennen.

Als Urheber des Bildes (hier in hoher Auflösung) gilt aktuell der in Urbino geborene Dominikaner Fra Carnevale  (1420-1484). Ausgebildet wurde er bei Filipp Lippi in Florenz. Zurückgekehrt nach Urbino war er ein Teil der kulturellen Elite, was sich auch in seinen Bildern spiegelt. Über das ihm zugeschriebene Bild „Die ideale Stadt“ schreibt die englische Wikipedia:

„Dieses Gemälde zeigt Carnevales starken Sinn und sein Wissen über Architektur. Die lineare Perspektive und die dreidimensionalen Details der Fassaden des Gebäudes sind einwandfrei, alles im Stil von Carnevales Arbeit.“

In der Zeitschrift Bauwelt hat Harald Bodenschatz 2012 die „Apotheose der Idealstadt“, die sich in den drei Gemälden darstellt, nachvollzogen.

Auf dem Idealstadt-Bild aus Baltimore ist ein abgesenkter und gestalterisch betonter, gleichsam sakraler Platz zu erkennen. Weiter entsteht der Eindruck, dass sich um die drei kulissenartig präsentierten Hauptbauten in der Bildmitte – das geschrumpfte Kolosseum, der verwandelte Konstantinsbogen und ein undefinierbares Baptisterium – ein etwas amorpher Raum erstreckt. Hinter dem Triumphbogen führt eine aufgeweitete Straße zu einem niedrigeren turmbekrönten Bau, der die aus der Logik der Perspektive konstruierte Raumkomposition schließt. Urbane Funktionen in den Erdgeschosszonen fehlen wieder. Menschen werden diesmal nicht aus dem Bild verbannt, wirken aber eher als Staffage denn als Bürger, geschweige denn als eigentliche Herren der Stadt. [Bauwelt]

Das Bild appelliert an das Bildbewusstsein der Betrachter*innen, macht ihm aber zugleich seine Rolle in einer idealen Stadt klar. Ich fühle mich ein wenig an Brunelleschis Santo Spirito in Florenz erinnert, wo ich auch immer meine, die Menschen darin seien eigentlich überflüssig. Die perfekte Architektur ist des Menschen nicht bedürftig, sie lebt in ihrer Ordnung aus sich selbst heraus. Das wird beim nächsten Bild noch deutlicher.


Die ideale Stadt (Urbino-Fassung)

Das vermutlich bekannteste Bild der drei Studien einer idealen Stadt wurde lange Zeit Piero della Francesca (1410-1492) zugeschrieben, vor allem weil er sich mit Architekturtheorie beschäftigte. Inzwischen wird er nicht mehr als Maler des Bildes angesehen und andere Namen werden erörtert. Harald Bodenschatz schreibt zu dem etwa 1470 entstandenen Bild:

Die Idealstadt aus Urbino sticht unübersehbar heraus. Zwar ist wieder eine querende Hauptstraße zu erkennen, um den zentralen tempelartigen Rundbau entfaltet sich aber eine weitaus komplexer konstruierte Raumfolge: Im Vordergrund erstreckt sich ein öffentlicher Raum, der durch Brunnen markiert wird. Während links vom Rundbau nur ein schmaler Durchgang möglich ist, weitet sich rechts durch das Zurücktreten des dritten und vierten sichtbaren Gebäudes ein neuer, noch großartigerer Platz, dessen asymmetrische Struktur durch die Kirche im Hintergrund rechts noch einmal betont wird. Der gesamte öffentliche Raum ist menschenleer, den zentralen Punkt des Bildes bildet ein prächtiger Eingang in den Rundbau, der – ein weiteres Rätsel – ein wenig, aber nicht wirklich einladend geöffnet ist. [Bauwelt]

Man vermisst die / den Menschen auf dem Bild nicht, es ist auf die Betrachter*innen hin entworfen, es reicht, wenn sie den Platz studieren.


Die ideale Stadt (Berlin-Fassung)

Das letzte Bild, das in die Zeit zwischen 1490 und 1500 datiert wird, wird allgemein Francesco di Giorgio Martini (1439-1501) zugeschrieben. Auch das ist nicht sicher. Es ist nach meiner Meinung das einzige Bild von den dreien, das geradezu nach Menschen schreit. Es ist in seiner Menschenleere unwirklich, man meint, jeden Augenblick müsste doch jemand aus einem der Gebäude kommen oder von rechts oder links den Platz betreten. Schon die Schiffe im Bildhintergrund erfordern Menschen. Harald Bodenschatz schreibt zu dem Bild:

Die Berliner Idealstadt zeigt eine eher schlichte Form: eine aufgeweitete Straße, die sich kurz vor dem perspektivisch betonten Hafen verengt und die im Vordergrund von einer zweiten aufgeweiteten Straße gequert wird. Der öffentliche Raum ist menschenleer, die Erdgeschosszonen der Gebäude sind abweisend und erlauben keine urbane Nutzung – etwa Läden, Gastwirtschaften, Handwerksbetriebe.  [Bauwelt]

"Der Traum der Architekten" (Thomas Cole), das scheint die Trilogie der Bilder zu zeigen, erfüllt sich im perfekten Szenario – und das ist (nahezu) menschenleer. Möglichst kein Gewimmel, sondern Ordnung und Struktur.

Ich versuche diese drei Bilder mit den Momentaufnahmen der Webcams europäischer Städte in Verbindung zu bringen. Beim Blick auf die Puerta del Sol in Madrid gelingt mir das nicht, sie ist auch nicht eigentlich das Ergebnis zielgerichteten städtebaulichen Handelns. Auch bei der spanischen Treppe ist es schwierig, sie ist wie schon angesprochen eher mit verschiedenen Bildern von Giorgio de Chirico zu verknüpfen.

Am nächsten kommen die drei Bilder der idealen Stadt aus Urbino, Baltimor und Berlin dem augenblicklichen Erscheinungsbild, das uns die Webcams vom Markusplatz in Venedig und vom Platz vor dem Mailänder Dom vermitteln. Hier zeigt sich noch einmal jener Traum der entwerfenden Vernunft, die sich geordnete Verhältnisse wünscht und den Alptraum der Orientierungslosigkeit vermeiden will.


Postskriptum I: Photoshop oder das geleerte / gelehrte Bild

Vor einigen Jahren kursierte im Internet eine Bilderfolge, deren Witz darin bestand, dass berühmte Bilder um ihre menschlichen Inhalte kupiert wurden. Was ändert sich, wenn aus einem Bild der Mensch zum Verschwinden gebracht wird? Drei Bilder aus dieser mit Hilfe von Photoshop generierten Serie habe ich hier noch einmal zusammengestellt. Das Überraschende ist, dass sie auch ohne Menschen scheinbar in sich stimmige Szenarien darstellen. Die drei von mir ausgesuchten Beispiele aus dieser Folge sind alle sehr bekannte Kunstwerke.

Sandro Botticellis Verkündigung aus dem Jahr 1490 wird durch die Entfernung der beiden zentralen handelnden Figuren zur Raumstudie, der Blick fokussiert sich nun auf etwas völlig anders als in der originalen Version.

Andreas Mantegnas Puttendarstellung von 1473 an einer simulierten Balustrade an der Decke eines Brautzimmers wirkt auch ohne die Putten überraschend normal, weil man sie gar nicht an der Decke erwartet. Das Bild wirkt nicht menschenleer, sondern voll des Himmels.

Claude Lorrains Einschiffung der Hl. Ursula von 1641 schreit nun tatsächlich nach Abbildungen von Menschen, ohne diese hat das Bild etwas Katastrophisches. Es muss ja nicht so ein Wimmelbild sein wie das Original, aber ohne die Menschen reicht es nicht einmal zum Schiffbruch mit Zuschauer.

Man kann das Spiel nun mit weiteren Ikonen der Kunstgeschichte fortsetzen. Am eindrücklichsten ist vielleicht das Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts von Ben Willikens geschaffene menschenlose Mailänder Abendmahl von Leonardo da Vinci.


Postskriptum II: Waltzing Tilda – Survivors Fuck off – Am Ende (k)ein Stück Hoffnung

Waltzing Tilda ist ein vielfach prämierter 15-minütiger Sci-Fi-Kurzfilm von Jonathan Wilhelmsson aus dem Jahr 2017. Die Protagonistin ist die ziemlich abgefuckte zwanzigjährige Einzelgängerin Tilda, die von der katastrophischen und aggressiven Gesellschaft völlig desillusioniert ist. Eines Morgens wacht sie auf und muss feststellen, dass der Rest der Menschheit auf mysteriöse Weise einfach verschwunden ist. Sydney ist menschenleer. Sie begreift das aber nicht als Verlust, sondern als persölichen Gewinn. Überglücklich tobt sie durch die Stadt, verschandelt das Sydney Opera House und zerstört die Queen Victoria Statue und krönt sich selbst zur Königin der Welt.

Zwei Jahre später ist Tilda in ihrem höchst eigenartigen Königreich nahe am Durchdrehen. Ihre einzige Gesellschaft ist Shane, ein sprechendes Kaninchen (Follow the white rabbit). Shane versucht, mit Tilda ein vernünftiges Gespräch zu führen. Er argumentiert, dass – auch wenn es keine anderen Menschen mehr gibt – sie immer noch ein Teil der Welt ist und Verantwortung übernehmen muss. Tilda will nicht zuhören, aber nachdem sie versehentlich den Tod von Shane verursacht hat (er knabbert eine Überdosis ihrer Schlafgtabletten), erlebt sie einen Reifungsprozess und erkennt, dass sie bis dato ein komplett selbstbezogenes Leben geführt hat. Sie singt den letzten Refrain aus Waltzing Matilda bei der Beerdigung für Shane, bevor auch sie schließlich verschwindet. Der erfüllte Traum ist nicht die Dystopie, sondern die Hoffnung auf ein Ende der Geschichte. Oder einen Neuanfang.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/124/am693.htm
© Andreas Mertin, 2020