Assoziationen zum Verhältnis von Ethik, Kunst und Politik

Edvard Munch – Else Lasker-Schüler – Oskar Schlemmer

Barbara Wucherer-Staar

Verführung statt Führung zum Guten? Ästhetik schreckt auf

Das Gute, dieser Satz steht fest,
ist stets das Böse, das man lässt.
Wilhelm Busch, Die fromme Helene, 1872

Verführt Ästhetik zum „Guten Handeln“? Wilhelm Busch (1832 – 1908) schildert in der Bild-Satire „Die fromme Helene“, wie selbstgewählte Hintertürchen zu festgeschriebenen Lebens-Regeln - den 10 Geboten - anstelle zum Guten ins Verderben führen können. Denn, so Busch: „Tugend will ermuntert sein, Bosheit kann man schon allein“ (Plisch und Plum, 1862). Ethisches Handeln („Das Gute“) muss man nach Busch aktiv anstreben.

Doch war es in der Geistesgeschichte immer schwierig, den Begriff des Schönen und des Guten auf den Punkt zu bringen. In der Antike galt seit Aristoteles: schön = wahr = gut als höchster Wert.

In der altägyptischen Kunst wurde Schönheit über den Tod hinaus idealisiert, dabei ging es auch um die innere Schönheit (Ma’at), das Prinzip der Gerechtigkeit, der Tugendhaftigkeit, der Rechtschaffenheit. Mit einem aufgemalten Hilfsliniensystem wurden Figuren und ihre Grabbeigaben auf altägyptischen Flachbildern (Reliefs) ausgerichtet. Diese jungen, schönen, nahezu vollkommenen Figuren waren mehransichtig. Aus Profil-, Frontal- und Rundumsicht wurden alle wichtigen Elemente, die im Jenseits funktionieren müssen, herausgenommen und neu zusammengesetzt.

Immanuel Kant (1724 - 1804) schrieb, dass die dem Schönen am reinsten entsprechende Wahrnehmung das zweckfreie, „interesselose Wohlgefallen“ sei.

Edvard Munch: Ein Kunstwerk kann nur aus dem Inneren des Menschen kommen[1]

Düsseldorf. Für seine eindringlichen, expressiven und auf Wesentliches reduzierten „Seelenbilder“, die auf Auktionen Höchstpreise erzielen, ist der Norweger Edvard Munch (1863-1944) weltweit bekannt. Sein wohl berühmtestes, meist zitiertes und unterschiedlich interpretiertes Werk Geschrei (bekannt als Der Schrei) zeigt eine bleiche Figur auf einer Brücke, die sich mit den Händen die Ohren zuhält, Augen und Mund weit aufreißt. Anlass für die Darstellung war – so Munch - sein Erlebnis, dass er das „… große Geschrei durch die Natur … „gehört habe.[2]

In der Ausstellung, die Munchs Motive auch als Spiegel der Krise des Individuums, ausgelöst durch die fortschreitende Industrialisierung versteht, finden sich weder Geschrei noch Das kranke Kind (1885). Für den Kurator der Ausstellung, den norwegischen Autor Karl Ove Knausgård sind diese Ikonen der Moderne so bekannt, dass dadurch der Blick auf das Werk Munchs reduziert ist. Stattdessen wählt er rund 140 Gemälde und Grafiken: teils farbig strahlende, kaum oder bisher nie gesehene Werke.

Er gliedert seine visuelle Geschichte in vier Themen. „Licht und Schatten“ überrascht den, der einen eher schwermütigen Munch kennt, mit leuchtend farbigen, harmonischen Bildern von Küsten, Menschen in Gärten und bei der Arbeit, mit hellem Licht, das zur Farbe wird (Die Sonne, 1912). Einen Maler an der Hausfassade (1942), der seine Leiter vor einem Fenster abgestellt hat, sieht Knausgård als humorvollen Kommentar Munchs auf dessen eigenes, erfolgreiches Oeuvre.[3]

Selbst zu großen Räumen werden die Bilder im Kapitel „Im Wald“. Sie erzählen vom Frühling im Unterwald, wo kleine Menschenwesen, gemalt in leuchtenden Farben, fast im Unterholz verschwinden, wo eine Mutter mit Kind vor entfernter Häuserfassade auf dem Feld unter einem Sternenhimmel sitzt (Madonna).

 „Chaos und Kraft“ will „die emotionalen und psychischen Triebkräfte der Malerei Munchs und dessen Ringen um jedes Werk“ zeigen: Weinendes Mädchen, 1914, Eifersucht, Bohemiens, Akte und Karikaturen. Augenhöhlen im hohlwangigen Kopf eines Gutsbesitzers im Park (1903) erinnern an Munchs elementares Motiv Geschrei und James Ensors groteske Figuren.

Munch, der in Frankreich die impressionistische Malweise erprobt hatte und sich lange in Deutschland aufhielt, löste mit seinen „verletzten“ Bildern elementarer menschlicher Gefühle in einer Berliner Ausstellung 1892 einen Skandal aus. Seine „grobe“, prägnante, emotional fordernde Malweise (so zeigt er den Prozess des langsamen Sterbens eines Mädchens, indem er in Schichten aufgetragene Farbe wieder abgekratzt) wurde bald darauf zum Beginn der expressionistischen Avantgarde. Bürgerliche Werte vermitteln lebensgroße Bildnisse von Freunden und Bekannten in „Die Anderen“. Mit dem eindrucksvollen Selbstporträt des gealterten Munch schließt Knausgård seine Geschichte.


Else Lasker-Schüler: von Elberfeld gen Theben

„In Elberfeld an der Wupper geboren, in Gedanken im Himmel,
‚betreue ich die Stadt Theben und bin ihr Prinz Jussuf“
(Else Lasker-Schüler)[4]

Wuppertal. Flöte spielend, mit Pagenkopf (einem Statement der „modernen“ Frau) und Hosenanzug, so lässt sich Else Lasker-Schüler (1869-1945) als Fakir von Theben 1912 ablichten. Der bedeutenden Lyrikerin des Expressionismus widmet das von der Heydt Museum eine umfassende, detaillierte Schau. Im Zentrum stehen ihre wenig bekannten poetischen, jüdisch-orientalisch inspirierten Zeichnungen, Aquarelle und Textillustrationen.

Die Schau zeigt rund 200 Werke. Sie beginnt mit historischen Fotografien ihrer Geburtsstadt Wuppertal-Elberfeld.[5] Viele der hier gezeigten Künstler wurden bereits in der 1912 gegründeten Sturmgalerie ihres Ehemanns Herwarth Walden ausgestellt. Zusammen mit der Zeitschrift „Der Sturm“ (1910 - 1932) war sie länderübergreifende Diskussionsplattform für die umstrittene europäische Avantgarde, vor allem die deutschen Expressionisten und französischen Kubisten und Fauves.

Lasker-Schüler übersiedelt 1933 - vor dem aufkommenden Nationalsozialismus - in die Schweiz, hält sich mehrfach in Palästina auf bis sie - in der Schweiz von der Fremdenpolizei unerwünscht - 1939 in Jerusalem bleibt.

Real und fiktiv: Sehnsuchtsort Theben

Für Ihre Schrift- und Bildzeichen skizziert sie den Umriss ihrer Figuren, koloriert die Bilder meist mit Pastellkreide. Im Mittelpunkt steht Lasker-Schülers Alter-Ego Prinz Jussuf von Theben. Als „gute“ und „schöne“ Märchenfigur im Stil altägyptischer reliefartiger Grabbildnisse eint er Abend- und Morgenland, Judentum und Islam, Mann und Frau. Unter den weiteren Personnagen finden sich Prinzessin Tino von Bagdad und Josef von Ägypten. Eine Inspirationsquelle für sie: die Amarna-Funde, die 1913 im Ägyptischen Museum in Berlin ausgestellt wurden.

1912 veröffentlicht „Der Sturm“ einen Holzschnitt von Franz Marc für ein Gedicht von Else Lasker-Schüler, seitdem korrespondieren beide. Auf poetische Illustrationen wie Marie von Nazareth und ihr Kindlein, Jussuf Prince Tiba antwortet Marc mit Postkarten und Briefen, darunter Tänzerin am Hofe Jussufs und Die Mutterstute der blauen Pferde I (1913).[6]

Entwerfen beide eine ideale Welt? Eine Welt, in der das Geistige über dem Materiellen stehen sollte und das durch die Zivilisation verlorene „Gute“, das Ursprüngliche und „Wahrhaftige“ wiedergefunden werden könnte?

„Menschenschlachthaus“: 1914 – 1918

Was aber, wenn das als gut erhoffte in die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ führt? Lasker-Schüler notiert 1910 „Es ist ein Weinen in der Welt / als ob der liebe Gott gestorben wär / und der bleierne Schatten, der niederfällt, / lastet grabesschwer“.

„Roaring Twenties“

In der Weimarer Republik nach dem Ersten Weltkrieg, in einer Zeit der politischen Radikalisierung, Wirtschaftskrise und wirtschaftlicher Konjunktur gründete Walter Gropius 1919 das wegweisende Bauhaus in Weimar, das entgegen alten tradierten Werten eine neue, zeitgemäße Ausrichtung in Kunst, Architektur, Design und Pädagogik schuf. Else Lasker-Schüler war dort am ersten Bauhausabend 1920 eingeladen, um aus ihren Gedichten zu lesen.

Entgegen ihrer persönlichen und gesellschaftspolitisch angespannten Situation entwirft die Dichterin in vielen Szenarien mit Prinz Jussuf eine schöne, scheinbar heile Gegenwelt. Sein Porträt mahnt die abend- und morgenländischen religiösen Werte an: 1927 leuchtend in gold-gelb.

Dagegen steht eine Ästhetik des Hässlichen, die vehement aufrühren und auch zum ethisch „Guten“ beitragen will, denn das Hässliche ist ebenso wahr wie das Schöne, bleibt jedoch mehr in Erinnerung. George Grosz und Otto Dix zeichnen sarkastisch gesellschaftspolitische Missstände und Grausamkeiten des Krieges (Grosz, Dämmerung, aus der Mappe Ecce Homo, 1922). Gedichte, in denen sie ihre Freunde poetisch charakterisiert, sind in der Schau neben deren Bilder notiert und erweitern den Blick auf Marianne von Werefkin, Kokoschka, Jankel Adler, Grosz.

Im Spiegel der Zeit

Wegen ihres modernen, freien Lebensstils (bereits 1912 von Walden geschieden, alleinerziehend, politisch engagierte Pazifistin) stieß sie immer wieder auf gesellschaftliche Missbilligung, auch Willkür. Zunehmende Beachtung in Kunstkreisen findet ihr bildnerisches Oeuvre.

Künstlerkollegen charakterisieren sie unterschiedlich. Karl Schmidt-Rottluff charakterisiert die Lesende (Else Lasker-Schüler) 1912 mit Kanten und Winkeln. Jankel Adler stellt sie in Bildnis Else Lasker-Schüler (1924) als dunkel gekleidet, ernst, nachdenklich dar. Sie ist mitten in der Weltgeschichte und Mittelpunkt in Josef Scharls (1896-1954) zeitkritischem Blinder Bettler im Café, 1927. Hier treffen sich (fiktiv?) Literaten, Künstler und Politiker, darunter Else Lasker-Schüler, Ricarda Huch, Hans Fallada, Gustav Stresemann, Trotzki, Lenin. Ein Kellner, mit den Gesichtszügen Adolf Hitlers, verweist Scharl, Gauguin, van Gogh und Karl Valentin aus dem Café. Daneben warnt John Heartfield vor dem nächsten Krieg mit einer Fotomontage eines festgebundenen Menschen auf einem Folter-Rad und einem Menschen auf einem Hakenkreuz (Wie im Mittelalter … so im Dritten Reich, 1934).

Zürich und Jerusalem

Bereits in den 1910er und 20er Jahren knüpfte Lasker-Schüler Kontakte zu dem dadaistischen „Cabaret Voltaire“ in Zürich, an die sie 1933 anknüpfen kann. 1936 wird ihr Theaterstück Arthur Aronymus und seine Väter am Züricher Schauspielhaus uraufgeführt, 1937 erscheint ihr Buch Hebräerland im Oprechtverlag in Zürich. Das Verbot der Erwerbstätigkeit unterlief sie mit lyrischen und zeichnerischen Arbeiten, die sie für finanzielle und andere Unterstützung verschenkte. Dazu zählen Zeichnungen und Gedichte für den Kaufmann Hugo May.

Als sie 1939 im Gastland Jerusalem bleibt, ist sie weiterhin künstlerisch tätig. Sie organisiert den Vortragskreis „Kraal“, korrespondiert mit dem Naturphilosophen Ernst Simon, mit Schalom Ben-Chorin und Martin Buber. Es entsteht ihr gezeichnetes Selbstporträt Im Grau der Einsamkeit (1941). Eines ihrer bekanntesten Gedichte, Mein blaues Klavier fasst ihr (unbehaustes) Leben zusammen; mit der Zeichnung des Prinzen Jussuf auf dem Umschlag der gleichnamigen Gedichtsammlung verabschiedet sie sich 1943 im Bewusstsein nachlassender Kräfte von ihren Freunden.


Oskar Schlemmer: Metaphysik und Kunstfigur

„Mein Thema, die menschliche Gestalt im Raum, ihre Funktion in Ruhe und
Bewegung in diesem, … sind ebenso einfach wie sie allgemein gültig sind.“

Oskar Schlemmer, 1937

Wuppertal. Der Bauhausmeister Oskar Schlemmer (1888 - 1943) stellte 1920 zusammen mit Willi Baumeister in der Berliner „Sturm-Galerie“ aus. 1925 berief ihn Walter Gropius ans Bauhaus in Weimar. Sicher war er mit Else Lasker-Schüler bekannt. Doch seine verstörenden Kriegserfahrungen führten zu einer Art der persönlichen Verarbeitung. Konsequent entwickelte er eine klare geometrische Darstellung menschlicher Figuren im Raum. Sein prägnantes Motiv - eine „Kunstfigur“ im Gleichgewicht harmonischer Bewegung aus Bogen, Kurven und Kreisen - wurde zur Ikone.

Ein Prototyp, die wandfüllende Drahtkomposition Homo, mit Rückenfigur auf der Hand, sitzende Figur mit Mensch in der Hand (1930/31) ist Teil einer Schau im von der Heydt-Museum, die den Maler, Bildhauer und Bühnenbildner mit Werken aus allen Schaffensphasen vorstellt.

Zu seinen Vorbildern zählen der Schweizer Maler Meyer-Amden, Cézanne, Picasso und pompejanische Wandmalerei (Pompejanerin, 1942). Das Schönheitsideal altägyptischer Flachbilder inspirierte ihn genauso wie Lasker-Schüler und Picasso (Harlekinfamilie, 1908).

Rund 230 Werke, Gemälde, Skulpturen, Plastiken und Arbeiten auf Papier zeigen Schlemmers Werk im regen Kontakt zu Kollegen. Dazu zählen Adolf Hölzel, Willi Baumeister, Kandinsky, Feininger, Muche und Paul Klee. International bekannt wurde Schlemmer mit dem Triadischen Ballett, 1922 in Stuttgart, danach in Frankfurt, Berlin und Paris aufgeführt. Es folgten internationale Ausstellungen (Paris, Biennale Venedig, London) und Aufträge für Wandbilder.

Gesamtkunstwerk Bauhaus - Vision einer neuen, „guten“ Welt

Ein Gang durch die Ausstellung lenkt den Blick auf den Menschen als Objekt im Raum. Er ist zugleich Maß aller Dinge, strebend nach Spiritualität im Sinne einer „Geborgenheit im Kosmischen“ und a-politischen Gemeinschaft. Wie kann er zur objektivierten, allgemeingültigen Form werden?

Schlemmer erkundet unterschiedliche Positionen und Perspektiven seiner Figuren im Raum. Eine Zwölfergruppe mit Interieur (1930) fordert unterschiedliche Raumerfahrungen ein, wenn er - wie auf mehreren Bühnen - Nah- und Fernsicht, große und kleine Figuren, verschiedene Staffelungen, Schichtungen und Perspektiven aufzeigt.

In der Ausstellung finden sich „Gegenbilder“ zu dieser idealen Fortschritts-Ästhetik, darunter Karl Hofers Der Rufer (1935), der, ausgemergelt und bleich vor einer Trümmerlandschaft vor dem Zweiten Weltkrieg warnt.

Der Fokus der Schau liegt auf Schlemmers spätem Werk, nachdem er sich 1940, aller Ämter enthoben, - ebenso wie Willi Baumeister und Franz Krause - , als „Professor für maltechnische Forschungsvorhaben“ in das Wuppertaler „Maltechnikum“ des Lackfabrikanten Kurt Herberts zurückzog. Für den Industriellen war Lack das Material der Zukunft. Dafür brauchte er Künstler, die zusammen mit Herberts Chemikern an Versuchen arbeiteten und die Ergebnisse veröffentlichten.

Schlemmer baute ein experimentelles, begehbares Lackkabinett, einen Musterraum für unterschiedlichste Verfahren im Umgang mit dem Material Lack. Ein Musterschrank aus Lack, der Herberts Firma repräsentieren soll, ist als Fotografie und in Skizzen erhalten. Sie zeigen Maler bei der Arbeit, wie sie Farbauftrag und Pinsel prüfen; weitere Studien zeigen Chemiker im Labor. Das Lackballett, eine Kurz-Variante des Triadischen Ballett wird anlässlich eines Firmenjubiläums 1941 aufgeführt.[7]

Triadisches Ballett

Im Triadischen Ballett verdichten sich klare Formen im Raum. Sie zeigen, wie Schlemmer die Idee eines idealen, neuen Menschen in exakt choreografierten Bühnen-Aufführungen am Bauhaus krönt. Die Tänzer selbst sind das Konstrukt, wenn er die Bewegungen der Figurinen mittels geometrisch abstrakter Ganzkörperkostüme organisiert. „Teilweise Überwindung des Körperlichen, jedoch nur im Bereich des organischen, ermöglicht die Akrobatik … „ notiert Schlemmer (1925) „… Das Bestreben, den Menschen aus seiner Gebundenheit zu lösen und seine Bewegungsfreiheit über das natürliche Maß zu steigern, setzt an Stelle des Organismus die mechanische Kunstfigur: Automat und Marionette.“ Eine ideale Figurine war für Schlemmer die Marionette im Sinne Heinrich von Kleists, die - im Gegensatz zur Kunstfigur Automat bei E.T.A. Hofmann - noch eine Figur war, die einen „Inneren Kern“ hat, deren Mechanik und Bewegung zusammenpassten. Sie galt ihm als Beispiel für Metaphysisches, d.h. Göttliches, ebenso wie die Verbindung von Übersinnlichem und Menschlichem in der Lehre des Paracelsus´ [1493 – 1541) [Paracelsus, der Gesetzgeber, 1923].[8]

Fensterbilder

Sein persönlicher Höhepunkt: handtellergroße „Fensterbilder“ (1942). Sie zeigen Schlemmers Blick auf schattenhafte menschliche Figuren, gegliedert durch Fensterkreuze [Fensterdoppelbild, Am Fenster, (Fensterbild IX)] oder Blicke auf die Stadt (Wuppertal bei Nacht, Flakscheinwerfer).


Ästhetik der Maschinen und Geschwindigkeit: Der montierte Mensch

Essen. Sturm-Galerie und Sturm-Zeitschrift zeigten ästhetische Richtlinien für ein gutes, zeitaktuelles Handeln. Sie war öffentliches Forum für die internationale Avantgarde - unter anderen Munch, Lasker-Schüler – und auch für die Futuristen. Ihre Technikbegeisterung vor dem Ersten Weltkrieg führt hin zu einem neuen, modernen Menschen, der sich der Maschine annähert und dadurch de-humanisiert wird. Dass ein Rennwagen schöner sei als die antike Siegesgöttin Nike von Samothrake proklamierte Filippo Tommaso Marinetti (1876 - 1944) in seinem Futuristischen Manifestes 1909. Der italienische Dichter propagierte Geschwindigkeit, Gefahr, Waghalsigkeit – einen „neuen Menschen“ und die technische Welt der Zukunft. Seine provokative Schrift versteht sich auch als Aufruf zum Krieg, der als Befreiung von Ballast gesehen wird. Entgegen mancher Warnung zogen auch viele Künstler und Intellektuelle 1914 begeistert in den Ersten Weltkrieg, der zu einer nie dagewesenen Materialschlacht wurde.

Krieg, Geschwindigkeit und die ambivalente, schwierige Kooperation zwischen Mensch und Maschine sind zentrales Thema einer umfassenden Schau im Museum Folkwang. Sie eröffnet mit Fernand Légers Le Mécanicien (1920), einer kräftigen Figur, montiert aus Zylinder-, Kuben-, Kugel-Elementen, vor einem geometrisch organisierten Industriegebäude. Léger reflektiert seine Kriegserlebnisse, wenn er - ebenso wie viele Avantgardekünstler - Dynamik und Technologien vor dem Hintergrund einer „Rückkehr zur Ordnung“ entwickelt: ein Appell an eine klare, ethische Moral, anschaulich gemacht mit sachlichen, strengen Formen und eindeutigem Inhalt. Umberto Boccionis (1882 – 1916) schreitende, aus kubischen Elementen entwickelte Skulptur Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum (1913) - eine Ikone des Futurismus - ist beispielhaft für ein Konzept dynamischen modernen – „guten“ - Lebens. Es findet sich wieder in seinen Simultan-Bildern, in denen gleichzeitig wahrgenommene Sinneseindrücke aufgezeichnet werden: Farben explodieren, Formen werden zertrümmert, vervielfältigt, überblendet, Perspektiven wechseln zugunsten von Bewegung, Dynamik, Geschwindigkeit und Licht. Technik und Tempo von Maschinen verändern und bestimmen Raum und Zeit: ein Mann verschmilzt mit seinem Motorrad (Fortunato Depero, Motociclista (solido in velocità, 1927), eine Frau trägt ein Uhrwerk im Leib (René Margritte).

 Die Schau schlägt einen weiten Bogen von früher Industrialisierung (Heinrich Kley, Tiegelstahlguss bei Krupp, 1909) quer durch das 20. Jahrhundert bis hin zu Tony Ourslers Köpfen mit umstrittenem Gesichtserkennungsprogramm.

Es gilt außerordentlich viel zu entdecken, denn die ursprüngliche Faszination an einer Einheit von Kunst und Technik für einen „Neuen Menschen“ führt zu unterschiedlichsten, einander widersprechenden Theoremen und Werken.

Vor Entfremdung und Vernichtung durch Maschinen warnen unter vielen Fritz Langs Science-Fiction-Film Metropolis (1927), Marcel Duchamp, Dokumentarfilme über Kriege, Andy Warhol, Thomas Gursky. Ein Exkurs beleuchtet die russische Avantgarde um Kasimir Malevitsch und Rodschenko. Kybernetik, Tinguelys Malmaschine und Digital Natives bei Computerspielen lassen aufmerken - ist Ästhetik zweckfrei?

Ironisch führen Feministinnen Helen Chadwick und Maria Lassnig das Leben in einer neuzeitlichen Wohlstands- und Wegwerfgesellschaft ad absurdum, wenn Frau und Haushaltsgerät verschmelzen (Helen Chadwick, Maria Lassnig) oder wenn sie zum Sexautomaten mit Münzeinwurf werden (Orlan).

Trevor Paglens Experimente mit einer selbstlernenden künstlichen Intelligenz, die Bilder zu entsprechend eingegebenen Stichworten generiert - fordern sie den Besucher zu gutem, verantwortlichem Handeln auf?

Ausstellungen
  • Edvard Munch - gesehen von Karl Ove Knausgård, Kunstsammlung Nordrheinwestfalen, K20, Düsseldorf, 12. 10. 2019 - 01. 03 2020; www.kunstsammlung.de; Katalog
  • Else Lasker-Schüler - Prinz Jussuf von Theben, von der Heydt-Museum, Wuppertal, 06.10.2019 - 16.02.2020; https://von-der-heydt-museum.de/Else_Lasker-Schueler.html; Katalog
  • Oskar Schlemmer. Das Wuppertaler Maltechnikum, 2019; von der Heydt-Museum, Wuppertal, 03.11.2019 - 23.02.2020, https://von-der-heydt-museum.de; Katalog
  • Der Montierte Mensch, Museum Folkwang, 08.11.2019 – 15.03.2020; https://www.museum-folkwang.de; Katalog
  • Museum Folkwang (Hrsg.), I was a Robot, Science Fiktion und Popkultur, Museum Folkwang, 11.10.2019-15.03.2020; https://www.museum-folkwang.de; Katalog
Anmerkungen

[1]    nach Kruczinsky, Ausst.-Kat Munch, 2019, S. 172, Anm. 38.

[2]    Munch selbst notierte auf einer lithografischen Version als Titel Geschrei; s. Edvard Munch: Love and Angst, Ausst. im British Museum, London, 2019.

[3]    Ausst.-Kat. Munch 2019, S. 20.

[4]    Ausst.-Kat. Else Lasker-Schüler, S. 51.

[5]    Ihr Schaupiel Die Wupper thematisiert soziale und religiöse Konflikte im Industriemilieu in Wuppertal. Erstmals aufgeführt wird es in Berlin 1919; 1932 erhält sie dafür den Heinrich-von-Kleist-Preis.

[6]    1914 erscheint im Verlag der Weißen Bücher in Leipzig Der Prinz von Theben. Ein Geschichtenbuch mit 25 Abbildungen nach Zeichnungen von Else Lasker-Schüler und drei farbigen Bildern von Franz Marc. 1923 erscheint Theben. Hier stehen 10 Zeichnungen Lasker-Schülers in kongenialer Verbindung zu 10 ihrer Gedichte (Querschnitt-Verlag Alfred Flechtheim).

[7]    Nach Beate Eickhoff, Das Maltechnikum - Schlemmer in Wuppertal, in: Ausst.-Kat. Schlemmer, 2019, S. 85 ff.

[8]    Schlemmer bezieht sich hier auf Heinrich von Kleist, Über das Marionettentheater (1810) und auf E.T.A. Hoffmann, Der Sandmann (1816), s. Oskar Schlemmer, Mensch und Kunstfigur, in: Schlemmer / Moholy-Nagy / Molnár: Die Bühne am Bauhaus, München 1925, nach: Uwe M. Schneede, Künstlerschriften der 20er Jahre, Köln, 1986, S. 271. Am Bauhaus Dessau unterrichtete Schlemmer das Thema „Mensch“ als Pflichtfach (Schaubild Der Mensch im Ideenkreis, 1928) in: Wick, Ausst.-Kat. Schlemmer, 2019, S. 64). 2019 Florian Froger greift mit der Virtual Reality Installation Oasis das experimentelle Ballett auf. Er lässt Figurinen des Triadischen Balletts von Besucher im virtuellen Raum imaginär zusammensetzen und choreografieren.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/123/bws25.htm
© Barbara Wucherer-Staar, 2020