Prequel zu: Wie liest man eine Kathedrale?

Notre Dame de Paris in der Kunst

Andreas Mertin

In der 119. Ausgabe des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik habe ich mich unter dem Titel „Wie liest man eine Kathedrale? Notizen zum Zeitgeist“ mit der touristischen und der durch den fatalen Brand bedingten aktuellen Rezeption der Kathedrale Notre Dame de Paris beschäftigt. Das setzte mit Victor Hugos „Der Glöckner von Notre Dame“ 1831 und Mark Twains Reiseberichten 1867 ein und endete mit den verschiedenen Deutungen und Beurteilungen der Kathedrale in der Gegenwart.

Nun gibt es aber auch eine „Vorgeschichte“ der visuellen Rezeption der Kathedrale, Bilder, die schon in den Jahrhunderten zuvor deren Wahrnehmung beeinflussten. Eine schöne erste Zusammenstellung der historischen Bilder und Gemälde bietet die Internetseite The Notre-Dame Cathedral in Art (1460-1921) auf The Public Domain Review, auf die mich Wolfgang Vögele freundlicherweise hinwies. Ich greife die dort zusammengestellten Bilder auf, werde sie aber durch weitere Ansichten, nicht zuletzt aus historischen Stadtansichten und Stadtplänen ergänzen.


Stadtpläne  

Ganz am Anfang helfen einem vielleicht die Stadtpläne weiter, die uns zeigen, wie Notre Dame in Paris lokalisiert ist. Denn das Paris des Jahres 2019 ist natürlich von ganz anderen Dimensionen und vor allem ganz anderen Ausrichtungen als das Paris des 13. und 14. Jahrhunderts.

508

Im Jahr 508 ist Paris die Hauptstadt des Merowingerreiches unter Chlodwig I. 

Und bereits hier lässt sich die bis heute noch nachvollziehbare Struktur erkennen. Noch gibt es auch den Vorgängerbau von Notre-Dame nicht, denn die Cathédrale St. Etienne wird erst um 540/550 gebaut werden. Die Bauarbeiten am Nachfolgebau werden erst 1163 beginnen.

1223

Werfen wir also zum zweiten einen Blick auf einen Stadtplan, der Paris um 1223 wiedergibt:

Wir sehen die gerade erbaute Kathedrale auf der Seine-Insel Île de la Cité. Auf der kleinen Insel, so können wir der Karte entnehmen, befinden sich 18(!) Kirchen und Kapellen, von denen Notre Dame die größte ist. Wir können auch sehen, dass Sainte-Chapelle noch nicht gebaut ist, sie wird erst 1244 gebaut. Auch die Brücke, die Notre Dame mit dem Rathaus verbindet, existiert noch nicht, dafür ist der Hafen gut erkennbar.

1300

Unser dritter Stadtplan stammt aus der Zeit um 1300 und zeigt ein schon verändertes Setting:

Notre Dame ist nun gut erkennbar mit dem Grundriss eingezeichnet (sie ist aber zu dieser Zeit noch nicht fertiggestellt) und vor allem ist nun mit der Pont des Planches de Milbray erkennbar, der die alte Verkehrsachse Cardo von Lutetia wiederherstellte. Die Île de la Cité erscheint nun viel geordneter und jetzt können wir auch die für die erworbenen Reliquien neu erbaute Sainte-Chapelle erkennen.

1550

Bevor ich mich den Kunstwerken zuwende, noch ein Blick auf die große Paris-Karte von 1550:

Diese Karte zeigt unter anderem die heute nicht mehr vorhandene dichte Bebauung der Pariser Brücken, wie wir sie heute noch aus Florenz oder Erfurt kennen. Auch die Zahl der Brücken hat sich erhöht, Ausdruck des zunehmenden Handels und der Größe von Paris. Etwa 300.000 Einwohner hat die Stadt um 1500 und ist damit die fünftgrößte Stadt der Welt zu dieser Zeit. Die Kirche Notre Dame ist nun tatsächlich das orientierende Element auf dem Stadtplan und überragt alle anderen öffentlichen Gebäude.

1615

Wie (fast) immer, bietet Matthäus Merian mit seiner Karte die schönste Perspektive auf die Stadt.

1615 erscheint Merians Sicht auf Paris aus der Vogelperspektive, eine Darstellung im Maßstab 1:7.000. Diese Karte wurde bedeutsam für viele weitere Karten der nachfolgenden Jahrhunderte.

Wir sehen Notre Dame und seine Umgebung gut wiedergegeben, so dass man sich fast heute noch mit Hilfe der Karte orientieren könnte. Die Inschrift links unten vergleicht Paris fast mit dem Schlaraffenland (Cette ville est un autre monde).

Diese Stadt ist eine andere Welt
Darin eine blühende Welt
von starken Menschen
denen alle Dinge gelingen.


Kunstwerke
1460 – Jean Fouquet

Der 1420 geborene Buch- und Tafelmaler Jean Fouquet ist einer der bedeutendsten Künstler der damaligen Zeit. Seit den 1450er Jahren stand er im Dienst König Karls VII. und Ludwigs XI., dessen Hofmaler er 1475 wurde. Zu seinen Auftraggebern zählten zahlreiche hohe Beamte des Staates wie etwa der Schatzmeister des Königs, Étienne Chevalier. Für diesen schuf er zunächst das heute so genannte Stundenbuch des Étienne Chevalier (nach 1448) und dann das Diptychon von Melun (um 1455), zwei der bekanntesten Werke der französischen Buch- und Tafelmalerei des 15. Jahrhunderts. Aus dem Stundenbuch stammt nun das etwa 20x15 cm groß Blatt, das ein frühes Bild der Kathedrale von Notre Dame enthält.

Mit Hilfe des Stadtplans von 1550 kann man das Bild gut situieren. Der Maler befindet sich auf der Höhe der heutigen Pont Neuf auf dem Quai des Grands Augustins beim damaligen Hotel Nelle und blickt rechts auf die überbaute Pont Saint Michel. Am linken Bildrand erkennt man Sainte Chapelle. Überragt wird das alles von der Kirche Notre Dame, die in diesen Jahren Schauplatz öffentlicher Debatten war. Denn Ende 1455 hatte Karl VII. in der Kathedrale Notre-dame de Paris den Rehabilitationsprozess der Jungfrau von Orleans eröffnet. Ein halbes Jahr später wurde das Urteil verkündet: Jeanne d’Arc wurde vollständig rehabilitiert.

Inhaltlich platziert Fouquet die Pfingstgeschichte mitten in Paris. Oben am Bildrand sendet die Hand Gottes seinen Segen und den Heiligen Geist auf die Versammlung am unteren Bildrand.

1475 – Chronik des Jean Froissart

Die Chroniken von Jean Froissart (1337-1405) sind ganz unterschiedlich und über einen längeren Zeitraum immer wieder illustriert worden. Hier sehen wir die Ankunft des jungen Herzogs Ludwig II. von Anjou und seiner Mutter Marie de Blois in Paris aus einer Darstellung aus der Zeit um 1475. Sichtbar sind auf dem Bild ist vermutlich im Vordergrund Porte S. Martin, rechts neben der Kathedrale sieht man Sainte Chapelle. Ansonsten erscheint Paris in der Silhouette etwas reicher an hohen Kirchtürmen, als es aus der eingenommenen Perspektive zu sehen gewesen wäre.

1525 – Noël Bellemare

Noël Bellemare wird das nebenstehende Blatt zugeschrieben. Über den Künstler weiß man wenig, wahrscheinlich ist er in Antwerpen geboren und ist dort nach 1512 tätig, bevor er nach 1515 nach Paris kommt. Dort wohnte, lebte und arbeitete er zusammen mit anderen Künstlern und Buchhändlern direkt auf der Pont Notre Dame. Davon werden wir nachher noch ein Bild sehen. Im vorliegenden Fall blicken wir auf ein Blatt, das den zweiten Band des Pontificale romanum von Agostino Patrizi Piccolomini eröffnet, ein wichtiges Werk mit Anleitungen und Texten für Rituale in der katholischen Kirche, die von einem Bischof durchgeführt oder geleitet werden.

Der Vergleich mit einem zeitgenössischen Foto des Jahres 2014 zeigt eigentlich sehr schön, wie der frühneuzeitliche Illustrator die Darstellung der Kirche verändert, man könnte sagen: idealisiert und dramatisiert hat. Türme und Seitenschiffe erscheinen sehr viel schmaler, der untere Eingangsbereich wird verhältnismäßig vergrößert, der obere Bogengang stark verkleinert.

Die beeindruckendste Veränderung sind die Figuren vor der Rosette, die geradezu grotesk vergrößert werden. Trotzdem bleibt der Gesamteindruck relativ gut bestehen: man sieht das Bild und denkt sofort an Notre Dame in Paris. Die Kirche wirkt auf dem Bild des Illustrators einladender als in der Wirklichkeit, der ikonographische Anteil ist deutlich herausgestellt.

1660 – Adam Pérelle



Das obige Bild ist eine im 18. Jahrhundert erstellte Koloration eines Stiches von Adam Pérelle aus dem Jahr 1660.

Sehr schön sind auf diesem kolorierten Stich von Pérelle die Überbauungen der Pont Saint Michel zu studieren, dichtgedrängt und hochgebaut.

Im Vergleich zu dem zuvor betrachteten Bild von Jean Fouquet von 1460 zeigt sich hier eine realistischere Perspektive und zugleich wird deutlich, wie sehr Fouquet auf seinem Bild Notre Dame dramatisiert, sprich: erhöht hat. Bei ihm wurden noch geradezu metaphysische Größenverhältnisse gewählt.

Das ist bei dem Stich von Pérelle völlig anders. Hier wird der Blick auf das Alltagsgeschehen gelenkt. Er entspricht fast der Ansicht, die man nach dem Aufruf des Google-View auf der Höhe von Pont Neuf bekommt.


1680 – Charles und Henri Beaubrun

Es fällt schwer, die beiden Elemente des nun vorzustellenden Gemäldes im Kopf zusammenzubringen. Der Typus des Gemäldes selbst ist altvertraut, wir kennen ihn seit Beginn der modernen Kunstgeschichte.

Er findet sich 1310 bei Giotto in der Scrovegni-Kapelle und seitdem immer wieder. Ein Nobler / Begüterter / Fürst / König / Papst hält eine Kirche in den Händen, weil er sie gestiftet, sie ihm zu Ehren gestiftet wurde oder er/sie die betreffende Kirche erhält. Im vorliegenden Fall haben wir es mit der Kirche Notre-Dame de Paris zu tun, also geht es wohl nicht um einen Stifter respektive Erbauer, sondern um eine Person, die die Kirche aktuell schützt und bewahrt.

Das Bild zeigt ein Porträt der Maria Theresia von Spanien, Königin von Frankreich, als Schirmherrin der Kathedrale Notre-Dame de Paris, Öl auf Leinwand, 119 x 98 cm, zuletzt 2011 im Wiener Dorotheum für 18.600 Euro verkauft.

Die Beaubruns sind Hofmaler, Porträtisten des französischen Hofes. Dadurch sind sie sozusagen verpflichtet, den aktuellen Stand von staatlicher Ideologie und kultureller Verpflichtung im Bild festzuhalten. Und das ist hier auf diesem Bild deutlich: Notre Dame ist ein staatliches Symbol.

1729 – Jacques Rigaud

Mit den folgenden Bildern kommen wir dann zu den populären Genre-Szenen

Dieses Motiv wird, das macht ein Blick in die Bestände des Rijksmuseums Amsterdam deutlich, immer wieder nachgestochen und neu koloriert. Es muss also eine andauernde Faszination auf die Betrachter ausgeübt haben.

1756 - Nicolas-Jean-Baptiste Raguenet

Dieses Bild von Nicolas-Jean-Baptiste Raguenet zeigt natürlich nicht die Kirche, sondern die Pont Notre Dame. Deren Vorgängerin, eine Brücke aus Holz mit 65 Häusern, welche der „Dekoration und der Vermehrung der Einkünfte der Stadt“ dienen sollten, war 1499 vermutlich wegen mangelnder Baupflege eingestürzt. 1507 wurde die neue Brücke eingeweiht und 1512 konnten auch die 68 Wohnungen und Verkaufsläden auf der Brücke bezogen werden. Die Aufbauten entwickelten sich rasch zu einem kommerziellen Zentrum der Stadt. 1660 wurde die Brücke renoviert und erst 1786, 30 Jahre nach der Entstehung dieses Bildes, wurden die Aufbauten der Brücke aus sanitären und baustatischen Gründen abgerissen. Das Bild zeigt nicht den Alltag auf der Brücke, sondern einen Wettkampf der Flussschiffer. Dieses Turnier fand jedes Jahr am Festtag der Gesellschaft statt. Das Bild zeigt aber auch etwas von den Lebensumständen der Menschen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert in Paris, unmittelbar neben der Kathedrale.

1760 – unbekannt

Ich hatte in der letzten Ausgabe des Magazins auf den Einwand, heute zeige Notre Dame nur noch asketische Stuhlreihen, anhand eines Gemäldes von Depelchin von 1789 darauf verwiesen, dass Notre Dame historisch eigentlich völlig ohne Bestuhlung imaginiert werden muss.

Dieser Umstand wird noch einmal sehr eindrücklich visualisiert auf der oben abgebildeten kolorierten Grafik aus Paris, die 30 Jahre vorher entstanden ist.

Persönlich finde ich diese Grafik vor allem deshalb beeindruckend, weil sie zeigt, wie schön die Kirche Notre Dame sein könnte, wenn sie die alte „Reinheit“ und „Freiheit“ des Raumes wiederbekäme. Natürlich macht die Grafik Notre Dame viel heller und lichter, als sie in der Wirklichkeit je sein könnte, aber sie zeigt doch deutlich mehr vom gotischen Lichtspiel, als all die dunklen Bilder der Gegenwart. Während St-Denis bis heute prägnant von dieser Helligkeit ausgezeichnet ist, ist dies bei Notre-Dame de Paris nicht der Fall.

1820 – Augustus Charles Pugin

Der französisch-britische Architekturzeichner Augustus Charles Pugin publiziert 1820 sein Buch Paris and its Environs. Darin hält er die nach-revolutionäre Ansicht von Notre Dame fest.

Eigentlich müsste man ja schreiben: die zwischen-revolutionäre Ansicht. Denn erst 1830 wird die Juli-Revolution zum Sturz der Bourbonen in Frankreich führen. Und dabei litt auch das Ensemble von Notre Dame Schaden. Trotzdem geht der etwas trostlose Eindruck, den das Bild von Pugin vermittelt, keinesfalls auf die Französische Revolution zurück, deren Akteure sich mehr dem Inneren der Kirche widmeten. Der trostlose äußere Anblick ist vielmehr Resultat der Vernachlässigung der Kirche im Zuge der Aufklärung. Nach 1728, als auch das Innere der Kirche weiß getüncht wurde, wurden nach und nach alle Figuren aus der Fassade entfernt. Die Welt säkularisierte sich und dazu waren religiöse Figuren in der Fassade nicht mehr nötig. Und als bloßes Dokument des Mittelalters sah man Notre Dame de Paris nicht.

Diese Haltung sollte sich erst ändern, als 1831 Victor Hugos „Der Klöckner von Notre Dame“ erschien und in der Folge Eugène Viollet-le-Duc beauftragt wurde, Notre Dame zu restaurieren. Und seine Restaurierungsarbeiten bestimmen den Eindruck von Notre Dame bis heute. Und damit wären wir wieder am Anfang unserer Erzählung aus der letzten Ausgabe.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/120/am672.htm
© Andreas Mertin, 2019