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Magazin für Theologie und Ästhetik


Cross-Cutting

Zur Re-Sozialisierung des Ästhetischen

Karin Wendt

... aus dem Museum

Maria Lind, Kuratorin am Moderna Museet in Stockholm, äußerte im Rahmen eines internationalen Workshops[1] die These, das Museum, d.i. der ästhetisch verbürgte Kontext im weitesten Sinne, sei vielleicht der letzte öffentliche Raum der Zukunft. Nur dort, wo ein Freiraum für ästhetische Produktion und Reflexion besteht, machen wir Erfahrungen, die unser Verstehen kontextueller Zusammenhänge schärfen. Der Erwerb von "context-sensitivity" sei für die Herausbildung von Interessen und das Verständnis gesellschaftlicher Verantwortung lebensnotwendig. Im ästhetischen Experiment mit dem Öffentlichen lernen wir, so Lind, die Möglichkeiten einer Arbeit am Gemeinschaftlichen zu erkennen und langfristig umzusetzen. Wie weit sollte das künstlerische Experiment jedoch auf die Möglichkeiten seiner gesellschaftlichen Umsetzung verweisen? Sollte es gar Anweisungen für den Fall einer Realisierung bereithalten? Anders gefragt, könnte oder sollte das Museum irgendwann überflüssig werden?

Seit der Emanzipation der Kunst haben Künstler immer wieder die Kunst befragt, um alternative Formen kollektiven Lebens zu erfinden und auch zu erproben. In Auflehnung gegen den Akademiebetrieb und in Abgrenzung vom klassizistischen Kunstkanon gründete Johann Friedrich Overbeck zusammen mit Franz Pforr und den Freunden Vogel und Hottinger 1809 den "Lukasbund". "1810 ziehen die vier Lukasbrüder nach Rom und finden Unterkunft in dem von Napoleon säkularisierten, seitdem leerstehenden Kloster San Isidoro auf dem Monte Pincio. Sie führen ein Leben nach mönchisch strengen Sittengeboten, hausen in Zellen und malen gemeinsam im Refektorium. Bald schließen sich weitere Maler aus Deutschland an. Die Bezeichnung 'Nazarener' (anfangs wohl ein Spottname) tragen sie schließlich als Ehrennamen." Durch eine Wiederbelebung künstlerischer Idealformen- und inhalte versuchten die Nazarener, das romantische Konzept einer Kunstreligion buchstäblich zu leben. In Diskussionen über die Zusammenhänge von Kunst und Religion festigten sie ihr theoretisches Fundament. Ihre Aneignung der Kunst Dürers, des frühen Raffaels und der florentinischen Frührenaissance erscheint uns heute allerdings gleichermaßen rückwärtsgewandt wie ihr Leben in bewusster Nachahmung klösterlicher Bruderschaften.[2] Anders als das Leben durch Kunst zu nobilitieren, ließen sich die Künstler der frühen Moderne vom Leben inspirieren. An verschiedenen Orten in Europa werden Kolonien gegründet, Arbeitsgemeinschaften, um abseits gesellschaftlicher Verpflichtungen und Hierarchien und jenseits der eigenen Kultur gesellschaftliche Alternativen zu entwickeln. In der ästhetischen Transformierung regionaler Bräuche und Lebensformen wurden die Künstlerkolonien zu "Kristallisationspunkten für die internationale Moderne."[3] In den 20er und 30er Jahren kehren die Künstler aus den Peripherien zurück und begegnen dem Konflikt zwischen Kunst und Kultur nun eher affirmativ: Sie entwickeln Konzepte zu einer ästhetischen Rationalisierung des Alltags und zielen auf die umfassende Durchgestaltung des öffentlichen Lebens, am Bauhaus im Rückgriff auf das humanistische Ideal, am Inchuk in Russland unter dem Banner der Revolution. Beide Pole der historischen Bewegungen erscheinen in der gegenwärtigen Debatte um die Öffentlichkeit der Kunst bzw. um die Kunst am Öffentlichen virulent: Auf der einen Seite die Negation kultureller Standards: der radikale künstlerische Entwurf, auf der anderen Seite der Wille zur Formung gesellschaftlicher Realität: die konkrete Utopie.

unplugged

Blickt man auf das Feld der Kunst im öffentlichen Raum, so hat sich in den letzten drei Jahrzehnten scheinbar ein Prozess der Entdifferenzierung von Kunst und Öffentlichkeit, eine Annäherung von Ethik und Ästhetik vollzogen. In den 60er Jahren wurde ästhetisch "gedropt", autoritär platziert, zum Ende der 70er Jahre reagierte man "site-specific" auf den Ort, und seit den 90ern entwickelt man - auch in Erinnerung an die Idee der "sozialen Skulptur" - Arbeiten, die den öffentlichen Raum als Ort, d.h. als gestalteten und zu gestaltenden Raum für Gemeinschaft, erst hervorbringen. Für dieses Verfahren einer Ortsgenerierung im Bereich Skulptur hat Markus Heinzelmann in Referenz auf Architekturutopien der 60er Jahre[4] den Begriff der "Plug-In-Sculpture" vorgeschlagen. "Plug-In meint ... eine Strategie, die auf eine Vermittlung der privaten Sphäre mit dem öffentlichen Raum mittels modularer Gelenke zielt."[5] Beispiele für solche künstlerischen Vermittlungsmodule reichen von einer real funktionierenden Bar, die Tobias Rehberger im Rahmen der Skulptur. Projekte 1997 in Münster auf einer bis dahin ungenutzten Terrasse eines Hörsaalgebäudes installierte[6], bis zum Mutter-Kind(er)-Haus, das Christine und Irene Hohenbüchler auf der Venedig-Biennale 1999 im österreichischen Pavillon präsentierten.[7] In Zusammenarbeit mit Architekten entwickelten sie ein transportables Holzhaus, gedacht in erster Linie für die heimkehrenden Kosovo-Albaner und so konzipiert, dass es in Serie produziert und in Krisengebieten dauerhaft zum Einsatz kommen könnte. Die Bandbreite der Positionen von der Kunst-Bar bis hin zum Schutzraum für Verfolgte erscheint vielleicht auf den ersten Blick homogen. Beide Arbeiten gehen über einen ästhetisch definierten Rahmen klar hinaus, insofern, als sie die reale Nutzung in das künstlerische Projekt integrieren. Das Reale hat jedoch jeweils einen unterschiedlichen Stellenwert. Wenn man als Besucher der Rehberger-Bar in einem ästhetisch ausgezeichneten Kontext konsumiert, reflektiert man Konsum als eine nicht-inhaltliche Form der Verknüpfung von Egalität und Individualität. Konsumierend ist jeder jeder, und zugleich ist jeder jemand. Nur unter formalen Gesichtspunkten, d.h. im Zuge ästhetischer Erfahrung, wird das Soziale in seiner (nicht-inhaltlichen) Potenzialität wahrnehmbar. Welche Rolle spielt der Kontext im Falle des Mutter-Kind(er)-Hauses? Ein Schutzraum für Mütter und Kinder, der in einem ästhetischen Zusammenhang vorgestellt wird, symbolisiert einen ganzen ethischen Kanon: das Streben nach sozialer Gerechtigkeit, das Bekenntnis zu einer pazifistischen Grundhaltung, den Aufruf zur Zivilcourage etc. Diesen relativ klar umrissenen Symbolgehalt hätte der Entwurf allerdings auch ohne einen ästhetisch deklarierten Ort. Was die Künstlerinnen Hohenbüchler offenbar beabsichtigen, ist eine umgekehrte Lesart ihrer Arbeit, nämlich die Ethisierung des Ästhetischen. Christine Hohenbüchler formuliert ihr Anliegen so: "Für uns ist das Mutter-Kind(er)-Haus eine konsequente Weiterführung unserer bisherigen Arbeits- und Handlungsweise. Im Grunde reagieren wir immer persönlich auf Lebensverhältnisse, auf die unterschiedlichen Bedingungen, in unserer Zivilisation zu überleben. Auch wir haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und das Bedürfnis nach Harmonie. Selbst wenn wir zeichnen oder malen, ist eine Arbeit für uns erst dann fertig, wenn sie einem inneren "harmonischen" Gefühl entspricht. Uns interessieren jene Punkte, wo sich Ethik und Ästhetik treffen."[8]

Masken für wen?

Gegen den Vorwurf, eine solche Zusammenführung von Ethik und Ästhetik sei zynisch, im besten Fall naiv, wendet Markus Heinzelmann ein, der Entwurf verbleibe doch "so lange im Zeichenhaften, bis seine Umsetzung auf die Initiative Dritter hin geschieht. Die Bereitstellung eines reproduzierbaren Grundmoduls benötigt eine lebendige Gesellschaft, die sich andockt und handelt. Die künstlerische Arbeit besteht in der Strukturierung der Form - oder missverständlicher der Spielregeln, wie Richard Sennett sagen würde. Die Passivität findet sich auf Seiten der Mitglieder einer privatisierten Gesellschaft, und es ist grotesk, sie den Künstlern zum Vorwurf zu machen."[9] Heinzelmanns zufolge reagieren Künstler wie Rehberger oder Hohenbüchler auf Sennetts Diagnose vom "Verfall und Ende des öffentlichen Lebens"[10]. Heinzelmann schreibt: "Sennetts Plädoyer für die Erneuerung der Kultur, das heißt der Maskierung des Ich durch allgemein anerkannte Konventionen öffentlichen Verhalten, die auf ein befreites und unverfälschtes Agieren des Individuums im öffentlichen Raum zielt, besitzt auch eine eminente Bedeutung für einen neuen Skulpturbegriff seit Mitte der 90er Jahre. ... Als Richard Sennett nach Auswegen aus der Sackgasse der Intimität suchte, hat er die Wiedervereinigung von Ästhetik und gesellschaftlicher Realität auf der Grundlage von Erfahrung mit der Form des Spiels gefordert. [...] Plug-In-Sculpture ist eine Form des ästhetischen Handelns, die implizit auf einer solchen Spiel- bzw. Gesellschaftstheorie beruht." Die Künstler strukturieren einen "offenen Handlungsrahmen" mit dem Ziel, "verantwortliches öffentliches Handeln zu ermöglichen." Wäre Plug-In also der künstlerische Versuch, in der Rolle des (maskierten) Narren in einer Gesellschaft der Demaskierten aufzutreten, um den öffentlichen Raum zurückzuerobern?

Fragt man Künstler heute nach ihrem gesellschaftlichen Selbstverständnis, so begreifen viele ihre Arbeit als öffentliche Interventionen. Den meisten erscheint es erforderlich, sich gesellschaftlicher Wirklichkeit nicht nur reflektierend gegenüberzustellen, sondern sich gestaltend hineinzubegeben und damit die Übergängigkeit von Reflexion und Praxis im eigenen Denken und Handeln zu eruieren. Aufklärungs- oder Kompensationsmodelle will man endgültig überwinden, zugleich will man jedoch die Bedeutung des Praktischen und des Nützlichen in seiner handlungsorientierenden Funktion befragen und auch erproben. Die meisten würden also vermutlich Paolo Bianchis Beschreibung ihres Lebens als "In-Between-Life"[11] zustimmen. Viele der unter Plug-in versammelten Künstler würden sicher auch das Label vom "LKW" für ihren Arbeitsbegriff akzeptieren. "Lebenskunstwerke (abgekürzt LKW) sind lustvolle, innovative Interaktionen von Leben/Erleben, Kunst/Kultur und Werk/Arbeit. [...] LKWs geht es nicht um Selbstverwirklichung, sondern um Selbstversuche. Als System aktiver Setzungen werden im LKW neue Verfahrensweisen für Lebensformen erprobt. LKWs sind Revolutionen mit kleinem r ... eine Kunst, die das Leben erfasst und durchzieht, so dass eine neue Kultur entsteht - eine Lebensart."[12]

cross-cutting

Wie viel von einer Ethik der Selbsterfindung[13] findet sich aber tatsächlich im Begriff des Plug-In? Wird Kunst, verstanden als Form der ästhetischen Vermittlung, nicht zwangsläufig zu einer Rahmenkultur[14]? Ich würde die jüngsten Entwicklungen etwas vorsichtiger als Versuch des Cross-cuttings beschreiben, genauer als eine Form der Parallelmontage von Ethik und Ästhetik. "Parallelmontage wird das alternierende (wechselnde) Schneiden zwischen vergleichbaren Ereignissen genannt, die aber nicht simultan und chronologisch sein müssen. Technisch ist die Parallelmontage auch eine Art des Cross-cuttings, sie wird jedoch aufgrund ihrer Bedeutung oft als eigenes Montagemuster gesehen. Es stehen [...] Symbolik und Kontrast im Vordergrund und nicht die Chronologie. Die Verbindung der beiden Handlungsstränge muss im Kopf des Zuschauers hergestellt werden." Wenn der künstlerische Beitrag im Blick auf Fragen der Ethik darin bestehen soll, den sozialen Handlungsrahmen zu strukturieren, erzielt man allenfalls interessante Überblendungseffekte, macht Ähnlichkeiten sichtbar, schafft kurzfristig Ent-Spannung. Erkenntnisbringend wäre dagegen eine Parallelmontage der beiden möglichen Haltungen dem Leben gegenüber - dem Interesse an einer Kultur der Gemeinschaft und dem Genuss an der Fähigkeit zur formalen Distanzierung. Die könnte so aussehen, dass ästhetische Zusammenhänge wie im Beispiel Rehbergers in einen anderen Funktionszusammenhang eingebettet und damit am anderen Diskurs erfahrbar werden. Die Legitimierung ästhetischer Erfahrung über den ethischen Diskurs wie bei Hohenbüchler lässt Kunst und ihre Regeln jedoch zur Spielanleitung für Gesellschaft werden. In diesem Sinne ist der Rekurs auf Sennetts Theorien gar nicht falsch, Gesellschaftsspiele sind aber - zumindest ästhetisch gesehen - langweilig. Das Bild der befreiten Gesellschaft als vollendete Form des ästhetischen Spiels steht zudem in dem von Christine Resch geäußerten Ideologieverdacht: "Dass Kunst in einer befreiten Lebenspraxis aufgehoben werden soll, ist [...] schon deshalb obsolet, weil die Lebenspraxis, die hergestellt wird, nicht befreiend ist. Sie wird es [...] als reflexive Erkenntnis, wenn man sie als 'erweiterte Kunstformen' begreift. Das setzt allerdings voraus, dass Kunst nicht naiv als Gesellschaftskritik verstanden wird, die sie nicht leisten kann, sondern als Kritik an Hochkultur. Erst mit diesem Zwischenschritt kann Verwunderung darüber auftauchen, wieso es eines 'Gurus' wie Joseph Beuys bedarf, damit Städte begrünt oder Obdachlose versorgt werden."[15] Ein ästhetischer Pragmatismus im Blick auf den Widerstreit von Kunst und Leben[16] kann nicht die angewandte Praxis ästhetischen Handelns meinen, wohl aber den Abbau binnenästhetischer Hierarchien, die zur Erstarrung künstlerischer Systeme und zum Absterben ästhetischer Erfahrung beitragen. Es lebe das Museum.


Dies ist die Textfassung eines Vortrags während der Tagung "Pragmatismus und Pragmatik - Dimensionen des Pragmatischen" (27.-29. Juli 2001) im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Schwellen von Reflexion und Praxis - Überlegungen zu den Bedingungen kritischer Aneignung", organisiert vom Interdisziplinären Arbeitskreis für philosophische Reflexion in Zusammenarbeit mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen.


Anmerkungen
  1. Perspektiven I: Kuratoren, Symposium organisiert vom Westfälischen Kunstverein und dem Westfälischen Landesmuseum Münster, 26. bis 27. Mai 2001
  2. Vgl. Thomas Wimmer: I Nazareni - klösterliche Utopie, in: Kunstforum Bd. 116, 1991.
  3. Künstlerkolonien in Europa. Im Zeichen der Ebene und des Himmels, Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg November 2001 bis Februar 2002
  4. Peter Cook (Archigram): Plug-In City, 1964, verschiedene Entwürfe dokumentiert in: Peter Cook (Hrsg): Archigram, Basel/Boston 1972, Reprint New York 1999.
  5. Markus Heinzelmann: Plug-In-Sculptures, in: Ausst.kat. Plug-In. Einheit und Mobilität, hg. von Markus Heinzelmann und Ortrud Westheider, Nürnberg 2001, S. 19/20 (zitiert: Plug-In. Einheit und Mobilität 2001)
  6. Vgl. Karin Wendt: Kommerzialisierung im Ästhetischen. Ein Projekt von Tobias Rehberger, Magazin für Theologie und Ästhetik, Heft 1.
  7. Dokumentation des Mutter-Kind(er)-Hauses in: Plug-In. Einheit und Mobilität 2001, S. 66-69.
  8. Irene und Christine Hohenbüchler: Wenn sich Ethik und Ästhetik treffen. Ein Gespräch von Marius Babias, in: Kunstforum International, Bd. 153, 2001, S. 292-303.
  9. Markus Heinzelmann: Plug-In-Sculptures, in: Plug-In. Einheit und Mobilität 2001, S. 23. Die drei folgenden Zitate ders., S. 20/21.
  10. Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt/M 1986.
  11. Paolo Bianchi: Real Life, in: Kunstforum International, Teil II, Bd. 143, 1999, S. 39.
  12. Paolo Bianchi: Lebenskunst - Kunst leben, Dokumentation, in: Kunstforum International, Teil I, Bd. 142, 1998, S. 42.
  13. Wilhelm Schmid: Ethik der Selbsterfindung. Über produktive Widersprüche bei Montaigne (1533-1592), in: Kunstforum International, Teil II, Bd. 143, 1999, S. 46-51.
  14. Hans Saner: Ästhetik der Experimentalutopie, in: Kunstforum International, Teil II, Bd. 143, 1999, S. 73.
  15. Christine Resch: Fast wie im richtigen Leben. Zu den Verhältnissen zwischen Kunst und Lebenspraxis - Mit Exkursen über Flatz als Selbstdarsteller, in: Kunstforum International, S. 176.
  16. Richard Shusterman: Kunst leben. Die Ästhetik des Pragmatismus, Frankfurt/M 1994.

© Karin Wendt 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 12/2001
https://www.theomag.de/12/kw8.htm